CN: enge, beklemmende Gänge, Dunkelheit
Wie fast alle Bewohner der Raumstation, war Holly taub zur Welt gekommen und nach kurzer Zeit erblindet. Es lag an den Lebensumständen hier auf der Station. Es gab schon lange kein Licht mehr, ihre Heimat war ein Ort ohne künstliche Lichtquellen, denn wie alles andere, gingen Dinge nun einmal kaputt und manches war unersetzbar. Also hatten sie irgendwann angefangen die letzten Leuchtstoffzellen in einer der Vorratslager zu sammeln und aufzubewahren. Alles was nicht dringend gebraucht wurde, musste eingelagert werden, denn die Energie war kostbar und man sollte sie lieber nicht an so etwas unnötiges wie Licht verschwenden. Jedes Kind lernte in der Station herumzulaufen, sich an den Seitenwänden entlangzutasten und die richtigen Abzweigungen zu finden. Es war ein in sich geschlossenes System, man konnte gar nicht verloren gehen. Natürlich gab es daher auch keinen Ort, an dem man je wirklich für sich gewesen wäre. Aber die Bewohner der Station neigten nicht dazu sich für einander zu schämen. Wer seine Ruhe wollte, fand Möglichkeiten dazu.
Hollys Finger bewegten sich über die Schaltflächen, sie bediente mühelos die Schalter und Knöpfe. Jeder hier erlernte die alte Sprache durch die Finger zu lesen. Ebenso wie alle das ‚Zeichnen‘ der Sprache erlernten. In einer Welt, in der niemand zuhörte und zusah, war einzig Verlaß auf das Spüren mit den Fingern. Holly hatte immer gut aufgepasst und das System rasch erlernt, da es keine Ablenkung gab, sah sie so gut mit den Händen, dass ihr die Arbeit leicht von der Hand ging.
Die Station am Laufen zu halten, war ihre oberste Prämisse. Jeder musste lernen Werkzeuge anzufertigen, sie zu benutzen und die Gerätschaften in Stand zu halten. Ihr Überleben hing davon ab, dass die Nahrungsautomaten einwandfrei funktionierten und die Geschmacksverstärker die Riegel essbar machten. Doch die Riegel, angereichert mit Proteinen, Vitaminen und anderen Elementen stellten nur die eine Hälfte ihres Essensplans dar. Die andere Hälfte war das Wasser. Sie wussten, es gab einen Kreislauf des Systems, sie wussten, dass sie es nicht herstellen konnten, kein Tropfen durfte verschwendet werden. Es durfte auf keinen Fall austrocknen. Deswegen mussten auch die Rohrsysteme immer gewartet und gereinigt werden und einen Großteil des Lebens der Bewohner spielte sich in den Eingeweiden der Anlagen ab, in denen sie herumkrochen. Sie zwängten sich durch die engen Schächte, hangelten sich sicher darin herum, fühlten sich wohl, wenn sie umgeben waren von glatten Wänden.
Holly eher nicht, sie mochte die weiten Gänge lieber, in denen man aufrecht stehen konnte, die Arme über den Kopf heben und die Decke berühren. Oder die Arme zu den Seiten ausstrecken und sich drehen konnte, ohne irgendwo anzuschlagen. Unter ihren Fingern befanden sich alte Armaturen eines Reglersystems, welches sie abgestimmt mit den anderen fleißigen Arbeitern bediente. Sie musste jetzt die Sicherungen rausnehmen und die Luftfilteranlage ausschalten. Damit ihre Freunde durch die Schächte kriechen konnten, die Wände säubern und die großen Rotorblätter putzen konnten. Auch das musste von Zeit zu Zeit erledigt werden. Mit einer Hand griff sie sicher nach einem Rohr, welches mit einem anderen Rohr draußen im Gang verbunden war. Sie legte ihre Finger darum und wartete. Draußen stand ein anderer Freund und erfuhr über ein ähnliches System das Zeichen. Er spürte die Vibration im Rohr und schlug mit seinem Schraubenschlüssel auf das Rohr, welches zu Holly führte. Holly spürte die Vibration nun ihrerseits und ließ los. Das war das Zeichen. Sie schaltete die entsprechenden Knöpfe aus und legte den Schalter um. Dass die Maschine still stand, würden die Arbeiter selbst merken, wenn der stete Luftstrom ausblieb. Und wenn sie fertig waren und alle wieder in Sicherheit, würde erneut ein Rohrzeichen zu ihr gelangen. Bis dahin hatte Holly nun Zeit für sich. Sie starrte einfach durch trübe Augen vor sich hin in die Gegend.
Weil sie es gewohnt waren sich blind zurecht zu finden versiegte nach und nach ihr Augenlicht. Und weil es nichts anderes gab in ihrem Leben, als ihre Umwelt zu bewirtschaften, damit diese sie versorgte, brauchten sie keine Ohren. Denn es sprach in den dunklen, stillen Gängen ohnehin niemand mit ihnen. Nicht einmal die voll ausgerüsteten Lautsprechersysteme der Bordcomputer. Die Hardware war zum Zeitpunkt des Einbaus auf dem neuesten Stand der Technik gewesen. Doch jetzt war es nur noch ein Relikt der Vorzeit. Aus der Zeit, als die Station sich noch bewegt hatte, als es Licht gegeben hatte und Versorgungsflüge die andockten und Nachschub lieferten. Ersatzteile, Essen, Wasser, neue Bewohner. Das alles gab es nicht mehr und dort, wo mal der Antrieb zur Bewegung gewesen war, befand sich nun das Herzstück der Umwälzungsanlage, welche tüchtige Ingenieure von Früher erfunden hatten, damit die Station sich so lange wie möglich autark versorgen konnte.
Ein ambitioniertes Projekt, welches jede Voraussage weit übertroffen hatte.
Heute war der Tag der Luftreinigung, das hieß, viele hatten heute frei. Denn wenn die Luft nicht zirkulierte, fiel das Arbeiten schwer. Holly spürte eine Hand auf der Schulter. Durch die Erschütterungen am Rohr, das auch ein Handlauf war (falls man sich sich nicht so sicher in einem Raum bewegen konnte), wusste Holly bereits, dass sie Besuch bekam. Sie selbst kannte sich gut aus in ihrem Terminal. Sie brauchte den Handlauf nur für die Signale. Aber Beth hangelte sich lieber daran entlang. Holly hob ihre Hand und griff nach der auf ihrer Schulter. Sie spürte die Wärme der Haut und das Kribbeln in ihren Fingern. Immer wenn sie jemanden berührte, aber bei Beth ganz besonders, kitzelte es in ihrer Hand. Sie zog die Hand nach vorn über ihre Schulter und fing an Buchstaben in die Hand zu zeichnen. Kreise auf den Ballen, Striche quer und längs der Finger, kleine Trommeln in die Mitte. In rascher Folge diktierte sie einen vollständigen Satz.
^Ich Pause, Du hier, Ich Freude.
Die Antwort kam sofort, denn jetzt wechselten sie die Griffe. Beth umschloss Hollys Hand und malte mit ihren Fingerspitzen ebenso elegant und feinfühlig einzelne Buchstaben hinein. ^Picknick
Ihr System war effizient, verzichtete auf Füllwörter und andere umbedeutsame Masse, die einen Satz künstliche blähte. Oft ließen sie auch Verben und Adjektive aus. Sie erdachten sich für ihre Namen Sonderzeichen, die sie nur mit ihren Liebsten teilten, um Geheimnisse austauschen zu können. Holly lächelte und schrieb: ^Freude
Sie stand auf, ihre Freundin hinter ihr griff zielsicher nach ihrer Schulter, glitt zum Hals und hinauf zur Wange, um sie zu küssen. Ein süßer, kleiner Pausenkuss. Anders als das was sie tauschten, wenn sie gerade nicht Schicht hatten. Die Sprache der Körper war elementarer und einfacher. Jedes Neugeborene beherrschte die Sprache des Geben und Nehmens schon. Nach dem Kuss ergriff Holly die Hand der Freundin und hielt sie fest.
^Komm
Sie zog sie aus der immer geöffneten Luke heraus in den Gang. Den Servo, die Schiene, ja selbst das Schott an sich, hatten sie schon lange ausgebaut und wo anders benötigt. Trittsicher balancierte Holly voraus und zog ihre Freundin mit sich. Sie selbst streckte eine Hand voraus. Wenn man sich schnell bewegte, gebot es die Höflichkeit immer eine Hand auf Halshöhe vorauszustrecken, damit man niemanden versehentlich anrempelte. Es sei denn, dieser jemand hockte auf dem Boden, so wie ihr Mitbewohner, der ihr vorhin das Zeichen weitergegeben hatte.
Holly spürte wie sie den armen Kerl fies in die Seite trat, wahrscheinlich machte er auch Pause, in der Nähe des Rohrs, damit er es mitbekam, wenn die Arbeiter sich meldeten. Den Schmerzlaut hörte Holly nicht, konnte sich aber gut vorstellen, wie sich das Gesicht des armen Kerls verzog. Wie er womöglich sogar lautlos fluchte, ohne dafür ein Wort zu nennen. Holly bedeutete ihrer Freundin zu warten und ging selbst auf die Knie. Sie tastete nach dem anderen und suchte seine Hand. Er ergriff sie fest und ehe sie eine Entschuldigung zeichnen konnte, bekam er ihre Hand zu fassen.
^Du aufpassen
Schnell nahm sie seine Hand: ^Ich Entschuldigung ^Du Schmerzen?
Sie spürte an ihrer Hand, wie er heftig ein- und ausatmete. Schließlich zeichnete er besänftigt in ihre Hand mit langsamen Bewegungen: ^Alles gut
Holly war erleichtert und stand wieder auf. Sie musste ihm nicht sagen, dass sie gleich wieder zurück kam. Selbst wenn sie nicht hier war, wenn das Signal kam, dass die Sicherung wieder eingeschaltet werden konnte, würden sie nicht sofort ersticken. Es gab genug Luft auf der gesamten Station. Aber ehe die Putzkolonne fertig war und der Nachjustierer noch einen prüfenden Protokoll-Handgriff ausführte, passierte jetzt eine ganze Weile gar nichts.
Zusammen mit Beth machte sie sich dann auf den Weg den Gang hinunter zum „Brunnen“. Auf jedem Deck der Station gab es viele Brunnen. Doch im Laufe der Zeit hatten sie alle abgeschlossen und umgeleitet, so dass nur noch die zentralen Brunnen gespeist wurden. Früher waren es einmal Bäder gewesen, heute war es ihre Hauptversorgungsquelle für das Wasser.
Dort ließen sie sich nieder an den Tischen, die sie dort ringsherum aufgebaut hatten und Beth verteilte das von ihr mitgebrachte Picknick. Holly konnte es kaum erwarten und leckte sich schon die Lippen, sie war so hungrig heute und in netter Gesellschaft schmeckte alles lecker.
Beth tastete nach ihrer Hand, zog diese zu sich über den Tisch und bevor sie den kleinen Nährstoffriegel hineinlegte, zeichnete sie: ^Ich Liebe Holly
Für den Namen ihrer Freundin hatte sie ein ganz besonderes eigenes Zeichen erschaffen. Zuerst malte sie das H auf dem kleinen Finger, dann das O auf den Ringfinger und das L als langen Strich bis zum Handgelenk. Doch statt die Buchstabenfolge mit dem Y zu beenden, sprang sie erneut mit ihrem Finger zur Spitze des Mittelfingers und tippte liebevoll auf die Spitze, wie bei dem Buchstaben ‚i‘.
Holly kicherte verliebt. Statt einer Antwort verlangte sie von ihrer Freundin ihren Namen zu wiederholen. Es war so schön ihren Namen aus Beth’ Fingern zu spüren.
inspiriert von:
Helen Keller, Anne Sullivan Macy und Laura Bridgman sowie dem Fingeralphabet und dem Lormen.