Ur war alt. Schon vierzehn Winter. Es war an der Zeit, dass er sein Wissen an die Kinder weitergab. Es konnte immer etwas passieren und sein frühzeitiges Ableben verursachen. Im Winterlager hatte er sich nach vielversprechenden Talenten umgesehen. Und zwei Paar Hände waren ihm aufgefallen. Ein Mädchen dem die Schneidezähne gerade nachwuchsen und ein Junge, der hinkte, aufgrund eines Unfalls bei der Kaninchenjagd. Zusammen mit den beiden, Urs Partnerin Ah und ein paar anderen, begaben sie sich nach der Schneeschmelze vom Winterlager ins Tal. Die Tiere kamen dort für den Sommer und die Aufzucht ihrer Jungen hindurch. Es gab reichlich Wasser und Beeren in der Senke und folgte man dem Fluß, erreichte man einen Wald. Vor allem aber gingen die Familien gern dorthin, um unter den Felsenvorsprüngen ihre Sommerlager zu errichten, da das Gestein Schatten und Kühle spendete. Man musste nur warten, bis die Bären die Höhlen verließen. Denn die hielten dort ihren Winterschlaf. Ur fand das nur gerecht. Im Winter war es im Tal zu kalt für seinesgleichen. Deshalb hinterließ er für die Bären immer einen besonders leuchtenden Gruß am Eingang der Höhle. Aber so langsam glaubte er, dass es die Tiere nicht interessierte. Jedenfalls hatte er bis auf ihre Hinterlassenschaften noch nie einen Gruß zurück erhalten.
Seit Ur acht Jahre alt gewesen war, kam er hierher. Seine Fußabdrücke waren immer noch gut zu sehen. Das war nach der verheerenden Schmelze gewesen, als die ganze Höhle mit lehmigem Schlamm geflutet gewesen war. Selbst der Bär hatte es in dem Jahr nicht rechtzeitig herausgeschafft und war hier drin verendet. Urs Lehrer und dessen Familie hatten das Tier dann der großen Mutter zurückgegeben. Als Ur jetzt die Kinder in die Höhle führte, zeigte er ihnen, wie sie die Brandfackeln gegen den Stein schlagen mussten, damit sie heller aufloderten. Das war wichtig, damit man sich in den Gängen nicht verletzte. Damit man sich nicht verlief, konnte man sich zusätzlich an den Spuren der Fackeln orientieren, die ihren Ruß auf der Wand verteilten, wenn man sie dagegen schlug. Nach all den Jahren waren das in regelmäßigen Abständen sehr deutliche Zeichen geworden. Die Kinder versuchten es Ur nachzumachen, trafen aber nicht immer dieselbe Stelle. Zumal es ihnen wohl auch mehr Spaß machte, die Fackeln gegen die Wand zu hämmern, als zu zielen und zu treffen. Das machte nichts.
Tief in den Höhlen des Tals entzündete Ur mit seiner Fackel eine Schale in die er schon vor dem Winter die Zweige geschichtet hatte, damit sie gut abtrockneten. Durch diese engen Gänge quetschten sich die Bären nicht, dieser Teil der Höhlen war nur für Ur und seine Leute. Das Feuer loderte auf und tauchte die Höhle in einen satten Schein. Der Rauch verlor sich in der Höhe, welche das Licht nicht erreichte, aber Ur wusste, dass ein paar Luftschächte dem Rauch halfen aus der Höhle zu entkommen. Es war nicht gut, wenn der Qualm gefangen war, das mochte er nicht. Dafür leuchteten die Wände um sie herum umso lauter. Tiere, Menschen, Götter, Rituale, Jagden, Feste, Zauber und Geschichten lebendig geworden durch Farben und Schattierungen, bewegten sich im Flackern des Feuerscheins. Das Rot sang in kräftigen Lauten zu Ur und er freute sich jedes Mal aufs Neue dies hier sehen zu können.
Die Kinder staunten und riefen in ihrer Begeisterung lauter: „Uh!“s. Ur war stolz auf das was er, sein Lehrer, und all die Lehrer davor hier vollbracht hatten. Und er würde den Kindern zeigen, wie es ging. Wenn sie erst einmal die Freude daran entdeckten die Wände mit den Bildern zu bemalen; wenn sie erst einmal erlernt hatten was es bedeutete in einem einzigen Strich eine ganze Geschichte erzählen zu können, dann würden sie hier noch viele Sommer das Leben ihrer Leute festhalten können. Ur nahm ihnen die Fackeln ab und zeigte ihnen die Töpfe, die sie benutzen würden um Wasser hereinzutragen. In denen sie den Ocker, die Kreide und den Ruß sammelten und in denen sie die Farben schließlich anrühren würden.
Ur würde den Kindern beibringen wie man zauberte.
Inspiration: Neandertalerjunge in der Chauvet-Höhle.
Ur ist eine Figur aus meinem NaNo 2016: Peiran.