„Unsere Gegenwart ist Morgen nur noch Geschichte. Unsere Geschichten aber bleiben“, stand auf dem Schild über dem Eingang. Es waren wirklich große Buchstaben, die kaum zu übersehen waren. Ein gutes Credo für ein Archiv. Die beschlagenen Flügeltüren öffneten sich. Dahinter kam ein Durchgang zum Vorschein, der noch einmal mit Türen gesichert war. Erst als die äußeren Flügel dicht waren, öffneten sich die Inneren. Von dort führte ein langer, gewundener Weg weiter ins Innere der Anlage. Überall überwucherten Pflanzen den Pfad, rankten sich die Hänge hinab, überzogen das Mauerwerk zu beiden Seiten und hatten sich in die Scheibenlosen Aussparungen festgesetzt. Der Weg war mit Kies ausgeschüttet, der der Vegetation ein wenig länger trotzte in der Mitte, in der ein ausgetretener Pfad entlangführte. Huschende Tiere am Boden raschelten in den Blättern, summende Insekten schwirrten auf Kopfhöhe umher. Und weit oben, auf den Schrägdächern der Mauern lauerten garstige Fellknäule im sicheren Abstand.
Nach der Biegung ragte das Archiv auf einmal aus dem Nebel auf. Viele Stockwerke übereinander, viele Türme, Erker und Fenster. Ein Graben umgab das gesamte Anwesen, in dem eine zähe Brühe dahintrieb. Aus dem Morast erhoben sich langwurzelige Bäume, die das Mauerwerk als Stütze nutzten und es gleichzeitig daran hinderten zu zerfallen.
Auch dieses Gebäude war mit mehreren Toren gesichert. Die Anlage selbst stand exponiert auf einem eigenen Berg. Allein hinaufzuklettern war eine lange Reise voller Stufen. Doch oben angekommen, erkannte man erst wie weit man es geschafft hatte, denn die Wolken waren zum Greifen nah.
„Beeindruckend, nicht wahr?“
Es war Tamas, der dunkelste und beleibteste der Gunas trug sein Haar verwuschelt und die Kleidung unordentlich um seinen Körper schlackernd. Er gähnte verhalten und streckte sich, seine Hände und Knie waren mit Erde beschmutzt, aber er wirkte nicht außer Atem. Wer wusste schon worin er gewühlt hatte.
„Ich bin hergekommen um Chrónos zu sprechen", sprach Sucher.
Tamas winkte gelangweilt ab: „Was du nicht sagst.“ Er rollte sogar mit den Augen und wandte sich dann ab. „Als ob je einer herkommen würde, um mich zu besuchen.“ Er deutete auf die Türen: „Tritt ein.“
Im Inneren der ersten Schleuse flutete ausgleichende Druckluft die Kammer. Die Anzeigen im Helm sprangen um, es herrschte normale Atemluft. Doch erst als die inneren Türen sich öffneten, gab es auch Gerüche. Ohne den Helm sprangen einen die Nuancen von Jasmin und Lavendel an. Wenn nicht gerade der Duft nach schwerem, nahrhaften Boden und frisch gewässertem Rasen überwog. Der Innenhof bildete Klosterähnlich einen Garten und war weitläufig genug sich selbst versorgen zu können. Die Kuppel über dem Hof war aus wabenartigen Einzelpaneelen montiert, die das Licht hindurchließen, aber die Atmosphäre im Inneren schützte.
Sattvas Empfang war wesentlich herzlicher. Der Innenhof strahlte vor Freude. Die Düfte und Vogelgesänge hier drinnen stimmten sich harmonisch aufeinander ab. Und in der Gegenwart Sattvas befand sich alles in Balance. Nach einer kurzen Umarmung ging die Führung weiter. „Was war zuerst da? Das Huhn oder das Ei?“
„Wie bitte?“
Sattva kicherte: „Soll ich es verraten? Ich kann so schlecht Geheimnisse für mich behalten.“
„Deswegen bin ich nicht hergekommen, ich kam, um Chrónos zu sprechen.“
Auch Sattva wedelte mit der Hand: „Ach, das weiss ich doch. Sonst wärest du ja nicht hier.“
Sattva nahm den Helm, den Tornister und schließlich auch die anderen losen Kleidungsstücke wie Handschuhe und Stiefel ab. Alles fand seinen Platz in einer Aussparung, die dafür vorgesehen war. Und trotz der Gegend, der wuchernden Botanik und all dem Fremden und Abweisenden hier, waren diese Buchten blitzblank geputzt, von all den Taschen und Rucksäcken glatt gerieben und Staubfrei. Fast so, als käme jeden Tag eine ganze Heerschar Wissbegieriger und Fragender her, die ablegten und dann warteten. Die Gänge durch die Sattva führte, waren sauber, wenn auch abgenutzt. Die Wandbehänge hatten schon strahlendere Farben enthalten, doch alles in allem war es ästhetisch anzusehen. Doch Tamas hatte auch hier sein Chaos hinterlassen, unordentlich verstreut lagen, standen und stapelten sich Bücher, Schriftrollen und Tafeln. Auf kleinen Tischen mit Stühlen, auf und in Regalen. In den tiefen Fenstersimsen und davor sowie darunter. Sie lagen als Ausgleich unter kippelnden Anrichten, waren in einer Reihenhaussiedlung aufgebaut mit Dächern aus rotem Ledereinband und klemmten überall wo Schriftstücke sicher nichts zu suchen hatten.
Am Aufzug blieb Sattva stehen, kam nicht mit hinunter, sondern lehnte sich auf die Brüstung, winkte und rief: „Falls dich mal jemand fragt: Es ist immer das Ei!“
Der Aufzug reichte tief hinab in das Gebäude. Es zählte umständlich auf einer Armatur die Stockwerke, wobei nicht alle durchnummeriert waren. Die Anzeige piepste in jedem möglichen Halt, der nicht benutzt wurde und sprang weiter. Jetzt zeigte es ein Stundenglas an, später den Schriftzug: „Froschschenkel“. Das Durcheinander schien sich hier fortzusetzen, oder die Ordnung verstand nicht jeder. Das war noch nicht ganz klar. Die Wände der Kabine waren von einem matten schimmernden Fliesenweiß mit einem Terracottastich. Es gab keine sichtbare Naht in den Ecken oder der Decke. Hoffentlich hielt das Gefährt nicht einfach irgendwo auf halber Strecke an. Das einzige was es hier nicht gab, waren Schriftstücke.
Gefühlt drehte die Kabine eine Runde, da man meinen mochte es wurde wärmer und dann wieder kälter. Doch die Anzeige ließ sich nur darüber aus, es handelte sich um „Vulkangesteinszeugnisse“. Es war eine Art der Geschichtsschreibung, die sich nur in Basalt brennen ließ.
Die Türen öffnete sich mit einem nicht minder enervierenden „Ping“ und noch ehe sie ganz auf waren, schoss eines der Gunas herein, packte zu und eilte in den Gang dahinter. Es war Rajas, dessen Energie nie versiegte. Stets in Bewegung, niemals im Stillstand, das Gegenteil von Tamas und so wenig ausgeglichen wie Sattva, dass es beim geringsten Anlaß in jede beliebige emotionale Facette kippen konnte.
„Du willst zu Chrónos, richtig? ich bringe dich hin, komm, komm.“
„Ja, ich - uah!“
Gefolgt von raschelnden Papiergespenstern und klappernden Datenträgern durchflogen sie in Windeseile geradezu die Flure. Es war nicht mehr weit, zunehmend goldener und kupferner wurde die Umgebung. Rajas hetzte weiter, ohne die Gelegenheit zu lassen, sich umzusehen. Einen Blick abseits der prächtigen Säulen schweifen zu lassen, die Raum um Raum von Schatzkammern beinhalteten. Kein Ringe oder Münzen, keine Seide oder Vanille, nur noch mehr brüchiges Pergament, trockene Rinde, kalter Stein und die schützenswertesten Materialien, tief verborgen im Bauch des Archivs.
Doch es ging weiter und weiter, hinter die Kammern und in einem weitern Bogen in die untersten Ebenen. Dem Thronsaal des Chrónos, der auf der anderen Seite der Welt herausragte und dort die Spitze bildete. Eine Spitze ohne Tor oder Fenster. In welches man nicht eindringen konnte, aber auch nicht herauskam. Der Umweg war notwendig.
Und nun, endlich am Ziel. Das Schott glitt lautlos zur Seite. Rajas folgte nicht über die Schwelle, denn Chrónos brauchte keine Zuschauer. Das Wesen war Mythos und Ursprung. Seine Flügel bestanden aus Ylem, der Urmaterie des Weltalls, sein Körper war glatt poliert wie ein millionenfach berührter und geschliffener Zeh einer Bronzestatue. Sein kupferner Körper wurde nur von den goldenen Augen übertroffen. Sie strahlten, denn sie waren Sonnen. Chrónos’ Gewand bestand aus einem ursprünglichen Stoff der Kosmosspinnen, die nur für ihn etwas von ihrer Macht hatten in den Faden einfließen lassen. Das Schicksal hatte daraus ein Kleid gewebt. Chrónos war weder Mann noch Frau, denn es war aus sich selbst erzeugt.
„Allmächtiges Chrónos, ich“-
„Ja, du ich unterbrech dich gleich mal. Ich kenne solche wie dich zur Genüge. Früher kamt ihr wesentlich öfter her. Inzwischen nur noch alle Jubeljahre, aber ihr wollt unterm Strich alle dasselbe von mir.“ Das Wesen glitt mit einem Flügelschlag durch den Tempelsaal und landete. Es bückte sich und hob den Gast auf. „Meinen Glückwunsch, du bist durch das ganez All gereist, um hier her nach Omphalos zu gelangen und mich zu treffen. Bla bla, alles schon gehört.“ Es setzte den Gast eher unsanft ab und schlug mit seinen Schwingen, die mehr und mehr der Materie im Raum verteilte. Sie waberte glitzernd in der Luft, bis sie sich auf den Weg zurück zu Chrónos machte.
„Ich suche Erleuchtung.“
Chrónos streckte die Hand aus: „Kannst du haben, wie alle anderen vor dir. Ich bezweifle, dass dir etwas nützt, aber versuch dein Glück. Dein Herz, bitte.“
„Mein Herz?“
Chrónos seufzte, es war müde geworden nach all der Zeit immer diese Platte abzuspielen. „Dein Herz, Schreiberling. Alles hat seinen Preis.“ Sein eigener Preis war es dieses Archiv zu führen, für das Bersten des Eis Aki Ngoss Eyo, welches die Gestirne verteilt hatte in einem infernalischen Sturm. Mit den Fingerspitzen hob Chrónos den Dodekaeder und hielt ihn auffordernd hin. „Hier hinein damit. Zögere nicht zu lange, ich verliere schnell die Geduld.“
Kaum war der Tribut entrichtet, flutete das Archiv den Bittsteller mit all seiner gesammelten Macht an Geschichten. Die Augen des Suchenden rollten nach oben, er keuchte, sank zu Boden und krümmte sich in einem zuckendem Anfall. Kurz bevor er starb holte er tief Luft, riss die Augen auf, schrie einen Namen und sank dann nieder.
Das Herz schlug aufgeregt im Gefäß und wartete in der relativen Sicherheit außerhalb des Körpers, der in den Anfang ging. Und im Anfang war keine Zeit, kein Raum und keine Materie. Der Schreiberling hatte seine Suche gerade erst begonnen.
Chrónos wartete neben seinem Körper, ging in die Hocke und hielt den Dodekaeder über ihn, damit er sein Ziel fokussieren konnte. Viele schafften die Reise nicht. Und es war ihnen nur ein einziges Mal möglich, es zu versuchen. Wie verzweifelt musste man sein, es überhaupt zu versuchen. Für Chrónos und seine Gunas war es ein leichtes in den Anfang zu blicken, das Archiv zu öffnen und sämtliche Geschichte des gesamten Kosmos aufzunehmen. Jede Notiz, jedes Fragment, jeder Beleg und Zeitzeuge, jede Chronik, jedes Buch, jede Sammlung und Handschrift. Alles was je geschehen war, gerade geschah und noch geschehen würde, war einsehbar im Archiv des Kosmos auf Omphalos. Chrónos ließ das Gefäß sacht hin und her schwingen wie ein Hypnotiseur seine Taschenuhr. Die Augen des Schreibers folgten der Bewegung verzögert. Für die meisten Sterblichen war der Einblick ins Archiv zu viel. Es war Chrónos inzwischen egal, ob sie es schafften oder bei dem Versuch den Verstand verloren. Es konnte den Versuch weder mutig noch dumm nennen, nach all den Suchenden, die es gesehen hatte. All die Leben und hehren Beweggründe, die es in den ungezählten Audienzen erfahren hatte. Chrónos verstand es bis heute nicht, was sie zu finden glaubten. Würden sie doch einfach nur nach dem fragen was sie wirklich wollten. Was ihr Herz begehrte!
Apropos Herz, es schlug immer schwächer. Chrónos ließ es nicht mehr pendeln und hob es hoch. „Schreiberling? Was war zuerst da, das Huhn oder das Ei?“ Die Frage, die sie alle zurückbringen sollte. So sie denn das Archiv durchforstet hatten und die Antwort erkannt. Unabhängig davon, ob sie gefunden hatten, wofür sie gekommen waren.
Das Herz begehrte zurückzukehren in seinen Körper und der Schreiberling stöhnte verwirrt: „Es ist immer das Ei.“
Richtig. Denn es war Chrónos selbst, das Ei-Geborene Wesen, der Ursprung.