Die Lehrerin senkte die Tafel. „Aber Jo, wenn es nicht die Sandwünsche sind, wer bringt deiner Meinung nach denn dann die Träume zu den Schlafenden?“
Der kleine Kater stand mit verschränkten Armen und verquollenen Augen vor ihr, er hatte geschluchzt. Sie hatte gesagt, seine Arbeit wäre falsch. Er traute sich gar nicht mehr sie anzusehen, er war so wütend auf sie. Stattdessen sah er auf den halbdurchsichtigen Vorhang, hinter dem sich ein Schemen bewegte und die Schriftrollen in den Regalen sortierte. Er antwortete ihr auch nicht. Er hatte doch versucht es zu beschreiben in seinem Aufsatz, wenn sie es nicht verstand, was konnte er dafür. Was konnte ein kleiner Kater, der noch zur Schule ging dafür, wenn es nicht genug Worte gab, um das zu beschreiben, was er wusste? Was konnte er dafür, dass die anderen das nicht sehen konnten, wenn er ihnen davon erzählte? War es denn sein Fehler, wenn seine Wahrnehmung so viel breiter war? Wenn er Dinge sehen konnte, die sie nicht sahen? Es war für ihn eine ganz einfache Sachlage: Es war nicht sein Fehler. Sein Aufsatz war nicht falsch. Wie konnte sie so etwas sagen? Er wusste, was er gesehen hatte.
Sie seufzte und hielt ihm die Tafel hin.
Er nahm sie und sah darauf. Erkannte seine ungelenke, fahrige, stets chaotische Schrift, alle Zeichen waren etwas neben der Linie gesetzt. Alle Einschläge mit dem Griffel waren wackelig, er war kein guter Schreiber. Das Handwerk war einfach, grotesk simpel, aber er konnte seine Pfoten einfach nicht still halten.
„Ist schon gut, Jo. Beim nächsten Mal denkst du einfach ein bisschen länger nach und nimmst die mehr Zeit für die Arbeit. In Ordnung?“ Sie klang nicht enttäuscht, es sollte sogar aufmunternd sein. Aber so kam es überhaupt nicht an. Es klang wie: Schreib was alle anderen auch schreiben, schreib zur Not ab bei den großen Vordenkern. Aber wenn du am Ufer spazierst und abweichst, landest du im Fluss und ertrinkst.
Jo blinzelte die Tafel an, die Tränen fort und nickte. Dann hob er die Tafel und hieb sie mit voller Wucht auf den Boden.
Erschrocken zog die Lehrerin ihre bloße Hinterpfote auf das Sitzkissen, damit die Scherben ihre empfindlichen Ballen nicht erwischten.
Auf dem in wunderschönen Mosaiken gefliesten Boden zerbrach der Schiefer und splitterte in alle Richtungen davon. Er riss einzelne Fetzen aus seinem Schriftstück. Das Zeichen für „Blau“ fegte unter das Regal. Die Hälfte von „Traum“ bedeutete nun mit etwas Wohlwollen: „Tanz“ und schlitterte über den Boden bis zum Torbogen und hinaus. Andere Stücke blieben größer. Das direkt vor ihm beinhaltete noch immer den Großteil eines Satzes. ‚Die Farben fließen, die Töne schmecken honigsüß, eingehüllt in Traum und Nacht, erhebt sich-
Er wollte nicht poetisch sein, er wollte nichts schreiben, was jemand singen sollte oder wollte. Obwohl, sein Blick glitt zu einer anderen Scherbe, auf der eine Leier symbolisch abgebildet war. Trotzig schob er das Kinn vor. „Was ist denn ein Traum anderes als Worte in meinem Kopf, die Bilder sind, die Gefühle sind, die Musik sind?“
Die Lehrerin ächzte: „Jo, du bist doch kein Tänzer! Du bist Schreiber.“
Er stampfte auf und seine Krallen klickten auf dem Mosaik. „Sprechen ist Rhythmus, Tempo, Dynamik, skalierbar, veränderbar, betonbar, es ist akustisch wahrnehmbares Träumen. Wenn wir reden, sprechen wir in träumenden Farben und hören in klingenden Träumen.“ Er raufte sich die Schnurrhaare mit beiden Händen. Warum verstand sie ihn denn nicht? Was musste er denn noch tun, damit sie erkannte, dass es keine unterschiedlichen Wissenschaften waren, dass das alles zusammengehörte? Sah denn nur er die Verbindungen?
Ein weiteres Seufzen. „Ich denke es ist besser, wenn du jetzt nach Hause gehst und dich ein wenig beruhigst.“
Jo stieß ein frustriertes Fauchen aus. Sie verzieh es ihm. Normalerweise war es unhöflich, besonders seiner Lehrerin gegenüber, aber sie konnte sehen, wie schwer es ihm fiel ruhig zu bleiben. Er ging und noch ehe er den Raum verlassen hatte, rannte er. Sie konnte die davonfliegenden Tränen beinah sehen, als er mit dem Arm über die Augen rieb. Sie ließ sich zurücksinken, griff nach ihrem inzwischen kalten Tee und sah traurig auf die Scherben.
Hinter ihr bewegte sich der Vorhang.
Abi trat hervor, mit einem Kehrblech in der Hand, hob die Röcke, kniete sich nieder und fing an die Scherben und Splitter aufzufegen. „Seine Sicht wird die Welt verändern.“
Die Lehrerin hob den Blick: „Denkst du?“ Sie sah zu Abi.
Abi fegte ungerührt weiter und wiegte den Kopf hin und her. Der felllose Schädel wirkte beängstigend, aber Abi konnte nichts dafür, die Haare vielen einfach mit der Zeit alle aus.
„Ich wünschte ich hätte deine Sicherheit, mein Schatz.“ Sie überlegte eher, wie sie den Eltern klarmachen sollte, dass ihr Kind nicht zum Schreiben taugte, obwohl er so gut schreiben konnte. Für Jo bräuchte es einen eigenen Beruf. Etwas was nichts mit königlichen Edikten, historischen Aufzeichnungen, korrekten Abschriften und sekretärischen Aufzählungen zu tun hatte. Sie stand auf und räumte ihr Tablett fort. Abi kam auch alleine klar.
Langsam sammelte Abi die Scherben alle ein, statt sie aber wegzuwerfen blickte Abi in das neue Muster auf dem Kehrblech und verschob mit einer spitzen Kralle ein paar lose Stücke. Fügte sie zu neuen Formationen zusammen und lächelte. Wie schön wäre es eine neue Art des Schreibens zu erfinden? Etwas, was jeder hören und lesen wollte und was nichts mit Berufen zu tun hatte. Etwas was wie Gesang wirkte und gleichzeitig kein anderes Instrument brauchte, als den Griffel. Abi beschloss die lesbaren Fragmente aus dem Haufen herauszuklauben. Wenn Jo eines Tages groß sein würde und sich selbst gefunden, dann konnte sie ihm die ja vielleicht bringen. Er würde sie sicher noch brauchen, wenn er an den Punkt kommen würde, alles wieder hinwerfen zu wollen. Noch war viel Trotz in ihm. Trotz den er brauchen würde, um andere Wege gehen zu können. Oh Abi freute sich schon sehr auf den Tag, wenn Jos Phantasmen die Welt verändern würden.