für Romy
Da sind Chlara Phyllian und Phôs Synthes, die Oberhäupter des Reiches der Tinys. Die beiden lichten Aufseher sind fast durchsichtig, doch von strahlendem Naturell. Sie sind liebevolle und strenge Aufseher in ihrem Reich: Molecularia RGB00EE00 - C100M0Y100K7 - C - 5.
Heute ist ein ganz normaler Tag im Reich C - 5, denn Chlara und Phôs sind auf ihrer routinierten Rundreise durch ihre Welt.
C - 5 ist eine der kleinsten Untereinheiten eines enorm gigantischen biologischen Apparates. All die Bewohner und Arbeiter von C - 5 sind wichtige Mitglieder eines Prozesses, der voller Leben steckt. Denn das, was alle Molecularia-Reiche gemeinsam leisten, erschafft einen ganzen Kosmos voll Leben. Leben, welches es ohne sie niemals gegeben hätte.
Die vier Tardigrada ziehen gleichmütig den schmalen Streitwagen über die Straße des Reiches. Am großen Versammlungsplatz, durch die Versorgungs-Gärten der lumineszierenden Algen und an den Moos-Weiden der Bärtierchen vorbei. Die Aufseher begutachten auch die Rotifera-Farmen und die Becken mit frisch geschlüpften Nematoden. Alles scheint ihr Wohlgefallen zu finden. Es gibt ausreichend Futter für alle Tiere und die Landwirtschaft steht in voller Ernte. Einzig die Pilze machen ihnen Sorgen. Dort verweilen sie länger und besprechen sich mit den verantwortlichen Tinys.
Solange das Sonnenlicht auf die Molecularia fällt, sind sie in höchster Betriebsbereitschaft. Was aber nicht heißt, dass sie Nachts nichts zu tun haben. Zum Glück aber sind sie in sinnvolle Schichten eingeteilt, so dass alle Plätze immer besetzt sind und nirgends die Produktion zum Stillstand kommt. Nicht auszudenken was passieren würde, wenn das ganze System einmal zum Stillstand kommen würde. Ganz Molecularia C - 5 würde verwelken und eingehen. Da das niemand will, arbeiten sie eifrig an ihren Plätzen.
Virdis zum Beispiel. Das fusselig-flauschige Tiny mit den großen Augen, den Vibrissen und dem kleinen Mund beendet seine Arbeit in den Ställen der Tardigrada und lässt die Bärtierchen über Nacht allein. Die gutmütigen Achtbeiner neigen ohnehin nicht dazu weit wegzulaufen, da sie wissen, wo sie viel Futter bekommen. Virdis fröstelt es, aber das ist nichts Neues, ihm ist immer kalt. Daher schlingt es sich den Schal aus Pantoffeltierchen-Zilien-Wolle um den Hals und macht sich auf den Weg nach Hause.
Es lebt mit anderen Tinys in einer Wohngruppe zusammen, die aus einer schlichten Verbindung besteht. Es gibt ein gemeinsames Zimmer in der Mitte und davon abgehend mehrere kleine, runde Schlafbuchten, die mit einem Tunnel an das Gemeinschaftszimmer anschliessen. Die meisten erwachsenen Tinys mögen es kuschelig eng in ihrer Schlafhöhle. Draußen sind sie ja den ganzen Tag und das Draußen war so groß und weit, dass sie im Drinnen gerne eng aufeinander hocken. Es gibt kleinere und größere Einheiten der Verbindungen. Manche sind so komplex, dass man sich in den ganzen Untersektionen verlaufen kann.
Das Tiny Virdis, lebt zusammen mit:
Quo, einem wirklich extraordinär heißen Tiny, es ist - gemessen an Tiny Standarts - das Hübscheste in ganz Molecularia C - 5. Weil ständig verehrende Tinys vor der Tür stehen und ihm Geschenke bringen. Meistens nützliche Kleinigkeiten, die ein Tiny immer gebrauchen kann. Quo kann mit keinem der Tinys etwas anfangen, es lebt einzig und allein für seine Forschung. Es arbeitet nämlich weder auf einer der Farmen oder Felder, sondern im Lichtzentrum. Jedenfalls wenn Quo dann ausgeschlafen hat und nicht wieder davon träumt eines Tages eine bahnbrechende Entdeckung zu machen und ein Ehrenabzeichen dafür zu bekommen.
0°<α<90° - kurz Grad, einem sehr aktiven Tiny, welches eher wie ein stacheliger Ball wirkt und ständig vor lauter Streß am Essen ist. Das unbeständige Tiny eilt immer hin und her und es ist schon oft vorgekommen, dass es nicht in seiner Schlafkuhle aufwacht, sondern unterm Tisch oder in einer der anderen Höhlen, weil es selbst im Schlaf herum kugelt. Seine falben Stacheln mit dem fluoreszierenden Spitzen sind ein echter Hingucker. Aber Grad ist nicht so gemütlich wie Virdis, sondern will immer überall seine Fühler reinstecken und jede Aufgabe die es für einen Tiny gibt wenigstens einmal ausüben in seinem Leben. Es liebäugelt schon mit dem des Aufsehers.
schließlich wohnt da noch Verdigris. Ein sehr ausgeglichenes Tiny im Gegensatz zu den anderen. Welches Korrosionsbedingt wie ein aufgeriebener Schmetterlingsflügel wirkt, dem ein paar Schuppen fehlen und Patina angesetzt hat. Es ist stets gut gelaunt und phantasievoll. Meistens findet man es meditierend und sinnierend an, wenn es nicht gerade versuchte Grad bei Laune zu halten, denn sie waren schon eine Weile ein Paar. Was Virdis nicht so gerne sieht, so als Femtosekunde-Geschwister Tinys. Sie sind nämlich aus einem Guss.
Denn ja, Tinys werden ins Leben gegossen, mit den Tautropfen, die sich morgens auf allen Oberflächen sammeln. Wenn ein Sonnenstrahl, ein Lufthauch und ein Tautropfen in der richtigen Beziehung zueinander stehen und sich in einem flüchtigen Punkt treffen, dann entsteht ein Tiny. Deswegen muss ein Tiny auch nicht wachsen, denn es wird ja schon so wie es ist in die Molecularia gegossen. Das Aussehen und die Eigenschaften sind somit rein zufällig, je nach Morgen, Winkel und Untergrund.
Grad und Verdigris haben schon das Abendessen gedeckt und freuen sich, dass die anderen auch pünktlich nach Hause gekommen sind. Bei Quo ist das ja nicht immer vorherzusehen.
Sie sitzen bald alle beisammen. Und lassen sich ihr Mahl schmecken, welches vorwiegend aus nahrhaften Proteinen besteht. Virdis schiebt Quo noch das Getränk hinüber, damit das Tiny nicht wieder vergisst zu trinken. Quo bedankt sich mit einem Kuss, welcher zwischen ihnen beiden einen kleinen elektrischen Schlag auslöst. Schlagartig sträuben sich alle Härchen von Virdis und es sieht aus wie ein felliger Ball. Die Tinys kicherten. Verdigris versuchte mit seinen Pfoten die Haare zu glätten, aber sie bekommt davon nur auch eine geflust.
„Wie kann denn das sein?“, will Grad wissen.
Quo druckst herum und murmelt: „Wir hatten auf der Arbeit heute ein bisschen viel Reibung, ich glaube ich bin immer noch geladen.“ Es entschuldigte sich bei seinem Mitbewohner: „Entschuldige Virdis.“
Das fluffige Fellkügelchen aus dem nur noch die großen Augen hervorstachen, wackelte: „Schon gut. Ist ja nichts passiert.“
Verdigris lachte am lautesten: „Ich nenn dich ab jetzt Fluse.“
„Äh, nein?!“, macht Virdis.
„Fluse! Fluse!“
Auch Grad stimmt mit ein: „Fluse klingt sehr passend.“
Sie lachen noch mehr. Virdis wirft einen Blick zu Quo und wartet förmlich darauf, dass das Tiny auch noch etwas hinzufügt. Doch Quo lächelt nur entschuldigend.
Ehe sie sich beruhigen können, fängt auf einmal an alles zu wackeln und zu beben. Ganz Molecularia C - 5 wird durchgerüttelt, geschüttelt und gefühlt auf den Kopf gestellt. Die vier Tinys purzeln übereinander und durch ihre Wohneinheit. Jedes Tiny, was mit Virdis in Berührung kommt, erhält dabei einen kleinen elektrischen Schlag, was den Gemeinschaftsraum regelmäßig aufblitzen lässt. Endlich hört das Rütteln auf.
„Was war das?“ Will Verdigris wissen und hält sich benommen den Kopf. „Ein Angriff von Außerebener?“ Alles was außerhalb der Molecularia-Reiche existiert, gehört den großen, weiten Ebenen an. Und Verdigris hat wahrlich genug Phantasie, um sich allerhand Schreckgestalten vorzustellen, die dort leben. Riesen, Ungeheuer, Raubtiere - eine ganze Galaxis voller Gefahren.
Alles in ihrer gemeinsamen Wohnung ist umgefallen. Die farbenfrohen Seifenblasenbilder von der Wand, die giftigen Flechten aus ihren Töpfen, die heilsamen Glöckchen vom Traumnetz und die Klangstäbchen vom Tonfänger. Quo liegt ganz unten, noch unter dem umgekippten Tisch und Grad darauf. Die Femtosekunden-Geschwister hat es in ihre Schlafhöhlen geschleudert und Virdis hängt halb daraus heraus mit dem flauschigen Po, aus dem nur seine kurzen Beinchen wackeln.
Das Beben ist vorüber, die Gefahr jedoch noch nicht. Denn plötzlichen reisst die Decke auf. Die Verbindungseinheiten aus biologischen Stoffen schmatzen widerlich, als sie zerreissen. Die Tinys schreien vor lauter Angst um ihr Leben. Grad rappelt sich hoch und hechtet trotz seiner Fülle flink nach vorn und will nach Verdigris’ Armen greifen. Doch die Wohneinheit reisst weiter und Verdisgris’ Schlafhöhle wird einfach abgerissen und mit ihr das Tiny darin. Grad schreit und springt aus dem Loch in der Wand. Es stürzt tief, weil nicht nur ihre Wohneinheit fehlt, sondern die Hälfte ihres Zellenblockes. Unsanft schlägt das Tiny auf, aber zum Glück verletzt es sich dabei nicht, sondern kommt direkt wieder auf die Füße und rennt los.
Molecularia C - 5 ist ein einziges durcheinander. Oben in der Decke prangt ein mächtiger Schnitt. Etwas glänzt darin, scharf und spitz. Ein Stachel zieht sich zurück durch diesen Schlitz. Er ist groß, gläsern und lang. Seine Spitze hat ein Loch und in dieses werden all die Tinys und die Einheiten eingesaugt. Es bringt nichts, Grad ist nicht schnell genug, um hinterherzurennen und es kann auch nicht hoch genug springen. Schon verschwindet der außerebener Eindringling und lässt ihr Reich in Panik zurück. Der Schlitz schließt sich, die schützende Membran um Molecularia zieht sich zusammen, verschmilzt die Wunde und bildetet einen schützenden, schleimigen Film.
Sein Tinypartner Verdigris ist fort, einfach so. Und niemand weiss wohin oder von wem entführt. Es ging alles so plötzlich, Grad weiss nicht was er nun tun soll, außer immerfort zu schreien und zu schreien.
In der zerrissenen Wohneinheit hilft Virdis Quo sich vom Tisch zu befreien und weint. „Wo ist mein Tinygeschwisterchen?“ Doch Quo kann es nicht trösten, es starrt zur Decke und sein analytischer Kopf versucht zu begreifen, was geschehen ist.
-.-
Die Pipette träufelt die entnommene Probe auf den Objektträger. Das Glas landet unter dem Mikroskop. Kinderaugen starren abwechselnd hinein und schauen sich die in der Lösung schwimmende Probe an. Sie sehen verschwommene Bewegungen, huschende Tierchen, wirbelnde Formen und sich kringelnde Würmer. Doch die Tinys, die sehen sie nicht.
Warum sie keine Tinys sehen können? Weil die Molecularia-Reiche und ihre Bewohner, die Tinys das Licht reflektieren und dabei fast das gesamte Spektrum absorbieren, so dass die Menschenaugen glatt durch sie hindurch gucken.