ANNA
David’s Frage schwebt noch immer, wie ein dichter undurchdringbarer Nebel, in diesem Raum. Ist sie das? Ist das Lexa?
Ich will es nicht beantworten. Ich will es nicht wahrhaben. Alles scheint verloren. Es ist alles verloren. Ich spüre wie sich das Blut von dem Boden, durch meine Hose frisst und auf die Haut meiner Knie trifft. Ich kann es riechen und ich kann es spüren. Überall hier ist der Tod. Ich dachte nicht, dass ich jemals den Tod riechen könnte. Doch er ist es. Der beißende Geruch, die Verzweiflung, der Schmerz. Alles. Ich spüre alles. Es ist, als würde ich jedes Leid in diesem Raum spüren. Jede Verletzung. Jeden Tropfen Blut, der hier vergossen wurde. Für was? Warum machen Menschen oder auch Nicht-Menschen so etwas? Was ist diese Welt? Ganz gleich, ob es diese ist oder auch die der Menschen. Jeder hat etwas Böses in sich und es scheint, als würde das Böse gewinnen. Welcher Gedanke muss einem dabei im Kopf herumschwirren? Ich kann es nicht verstehen und ein leises „Ich bin mir nicht sicher“ kommt über meine Lippen, bevor Tränen aus meinen Augenwinkeln ausbrechen. Es ist nicht nur die Trauer über Lexa. Es ist auch dieser ganze Schmerz, den ich spüre. Vor allem aber bin ich enttäuscht. Enttäuscht darüber, dass ich wieder einmal nicht vorwärts komme und das Marius und diese Salivana immer einen Schritt voraus zu sein scheinen.
David umfasst mit seiner Hand meinen Oberarm. Ich bin wieder wie in Trance. Es ist alles so unwirklich und doch die traurige Wahrheit. Ich spüre, wie er mich nach oben zieht. Ich stehe neben ihm und er stellt sich wieder vor mich. Sein Blick schweift kurz zu dieser Leiche. Zu dieser verstümmelten Leiche, von der ich glaube, dass es Lexa ist. Dann blickt er wieder zu mir.
„Anna, wir müssen hier weg. Wer auch immer das hier getan hat, ist entweder noch hier oder wird wieder kommen, um den Dreck zu beseitigen. Und wie du jetzt schon bemerkt hast, bist du wieder ein Mensch und ich denke nicht, dass du dich jetzt, in diesem Zustand, in einen Wolf verwandeln kannst. Also komm, lass uns verschwinden.“
Ich höre die Worte die über seine Lippen kommen, doch mein Körper will sich nicht bewegen. Erst nach einigen Versuchen von David, mich dazu zu zwingen, folge ich ihm geistesabwesend. Vorbei an den blutverschmierten Tischen und noch schlimmer, den ganzen Leichen. Ich versuche nicht hinzusehen. Doch ich kann mich nicht immer zusammenreißen und so schweift mein Blick noch einmal durch diese Bar. Ich weiß, das meine Augen mit Tränen gefüllt sind und ich nicht mehr klar sehen kann, aber ich habe etwas gesehen. Es ist die Tür zu diesem Raum, in dem mir Lexa gesagt hat, dass ich keinen Talisman brauche. Ich weiß, alles hier ist mit Blut besudelt, doch irgendetwas an diesen Blutflecken ist anders. Es sieht aus, als hätte sich jemand in diesen Raum geschleift. Die Tür steht einen Spalt offen und ich kann etwas Licht erkennen. Die Blutspuren am Boden sehen zu verdächtig aus. Ich kann auch an der Tür, wie fast überall hier, Blutspuren entdecken. Ich muss in diesen Raum. Der Drang, in diesen Raum zu gehen, ist so groß, dass ich es schaffe mich von David’s Griff loszureißen und mit schnellen Schritten zu dieser Tür zu gehen.
Jetzt folgt mein Körper wieder gänzlich meinem Geist. Es ist, als würde ich hineingezogen werden. Wieder spüre ich, wie das Blut an meinen Schuhen kleben bleibt. Ich kann es förmlich hören, wie sich die Sohle wieder vom Boden hebt und dabei die Fäden des Blutes auf ihnen kleben bleiben. Ich höre auch, wie David mir folgt und einen leisen Seufzer von sich gibt. Ich weiß, er hat recht und wir müssen hier weg. Aber ich kann nicht gehen, ohne mir wirklich sicher zu sein. Ich bin kurz davor meine Hand auf die blutverschmierte Tür zu legen, als sich David mir in den Weg stellt. Seine Augen sind rot und ich kann seine Reißzähne sehen. Er sieht in diesem Zustand so furchteinflößend aus und dennoch habe ich keine Angst. Nicht vor David. An seiner tiefen Stimme ist nicht zu überhören, dass er sich konzentrieren muss, sich nur halb zu verwandeln. So kann er schneller seine Kräfte einsetzen, wen er sie braucht.
„Ich gehe vor. Wer weiß was uns erwartet.“
Ich will ihm nicht widersprechen und ich weiß auch, dass ich mich nicht wirklich wehren könnte. Also nicht in einem Kampf. Meine innere Stimme ermahnt mich, dass ich mehr trainieren sollte. Ich muss mich auch so verteidigen können. Auch, ohne meine Kräfte. Doch das ist eine Aufgabe für die Zukunft. Sollte ich es überhaupt hier wieder raus schaffen. Also nicke ich David zu und folge ihm. Er legt seine Finger auf die blutverschmierte Holztür und mit einem leisen Knarren öffnet er sie. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals und ich glaube, auch David’s Herzschlag hören zu können.
Eine Seite von mir, wird von Neugier beherrscht, während die andere von Angst erfüllt ist. Angst davor, Schlimmeres zu sehen, als hier draußen. Unwillkürlich höre ich auf zu atmen und konzentriere mich auf meine Augen. Versuche die Umgebung abzusuchen. Das Zimmer wird nur durch den Schein einer Kerze beleuchtet. Zuerst kann ich nicht viel erkennen. Nur die Umrisse des Bücherregals und dem Rest der Möbel. Nach wenigen Sekunden gewöhnt sich mein Blick an die Dunkelheit und ich erkenne jede Menge Bücher, die am Boden verteilt liegen. Dann schweift mein Blick zum Tisch, der mitten in diesem Raum steht. David will mich noch immer beschützen und streckt seine Hand schützend vor mir aus.
Doch plötzlich erschrecken wir beide. Ich kann etwas hören. Es klingt wie leise Atemzüge. Woher kommt dieses Geräusch? Ich bekomme Panik. Es ist jemand hier drinnen. Doch wer oder was ist es?
Diese Spannung treibt mich fast in den Wahnsinn. Besonders, da ich nichts Genaueres erkennen kann. Doch David anscheinend schon. Denn er geht, ohne zu zögern auf den Tisch zu und schiebt ihn zur Seite. Jetzt, wo das Licht auch diese Stelle trifft, erblicke ich, das was David gesehen hat. Besser gesagt wen. Bis jetzt kann ich nur die Umrisse des Körpers erkennen. David versucht demjenigen zu helfen und greift unter seinem Körper, um ihn zu stützen. Schon kann ich ein schmerzerfülltes Stöhnen wahrnehmen.
Dieser eine Funken Hoffnung, den ich noch in mir getragen habe, dass es Lexa ist, erlischt in der Sekunde, in der ich das Gesicht blicke. Denn es ist nicht das Gesicht von Lexa, aber auch kein unbekanntes. Es ist ein Stich in mein Herz. Meine Fassade beginnt erneut einzustürzen. Diese Augen und dieses Gesicht. Er ist blutüberströmt und bei genauerem hinsehen kann ich erkennen, dass mehrere Holzsplitter in seinem Körper stecken. Als David’s Augen ebenfalls erkennen, um wen es sich hier handelt, lässt er ihn sofort los. Langsam und mit einem schmerzerfülltem Stöhnen sackt er wieder in sich zusammen. Ich dachte nicht, ihn nochmals so zu sehen. Die Augen die mich noch immer anstarren als er vor mir kniet. Seine Hände sind auf der großen Wunde, die sich über seine Brust zieht und vollkommen mit Blut bedeckt.
Es ist Nathan. Ich will es nicht glauben. Ich hasse ihn. Denke ich. Doch, wenn ich in diese Augen sehe überkommen mich Zweifel. Ich darf nicht daran zweifeln. Er ist böse. Doch wieso ist er hier? David liest meinen Blick und ich kann mich immer noch nicht bewegen. Zu sehr schmerzt dieser Anblick. Obwohl ich es nicht zulassen will, schmerzt es mehr den je. Es schmerzt, da ich eigentlich Lexa erwartet hätte und nicht ihn, diesen Vampir, der mir schon so viel Leid zugefügt hat. Doch er ist hier. Ein leises „Warum?“ kommt über meine Lippen und er blickt mich mit diesen gefährlichen Augen an. Die Augen, die aussehen als könnte man ihnen Vertrauen und dann in einem einzigen Augenblick dein Herz brechen.
„Was ist passiert? Wo bin ich.“
Das war nicht die Antwort, die ich von ihm erwartet habe. Es klingt ehrlich und doch will ich diesem Lügner kein Wort glauben.
„Nathan, ich frage dich jetzt nur ein Mal, warum bist du hier? Was hast du dieses Mal vor?“
Wieder sieht er mich verwirrt an und dann zu David, der ihn ebenfalls abwertend betrachtet. Nathan hingegen schüttelt seinen Kopf und wirkt jetzt noch verwirrter als noch vor wenigen Sekunden.
„Wieso kennst du meinen Namen?“
Also jetzt will mich wohl wirklich verarschen. Das kann doch wohl nicht sein Ernst sein. Zuerst diese ganzen Lügen und jetzt wo er hilflos vor uns am Boden kniet, kann er noch immer nicht damit aufhören mich anzulügen. Es scheint, als wäre das seine Droge. Sein Spaß, den er braucht. Mich immer wieder zu verletzen und zu belügen. Doch nicht mit mir.
„Nathan, hör auf mit diesem Scheiß. Du kannst aufhören mit deinen Lügen. Du wirst mich nicht noch einmal verletzen. Also sag mir die Wahrheit. Was machst du hier und wo ist Lexa?“
Wieder schüttelt er ungläubig und verwirrt den Kopf.
„Ich weiß nicht, woher du meinen Namen kennst und ich weiß auch nicht wieso ich hier bin. Ich weiß gar nichts mehr. Das Letzte, an das ich mich erinnern kann, ist, dass ich nach Driftwood gekommen bin. Bitte glaubt mir, ich lüge nicht.“
Wieder wandert sein Blick zwischen David und mir hin und her. Ich kann diese Lügen nicht länger ertragen und ich gebe auf. Ich will nicht noch weitere Kraft an diesen Lügner verschwenden. Also wende ich mich zum Gehen und bitte David mit mir zu kommen.
„Komm David. Es hat keinen Sinn. Er ist und bleibt ein Lügner.“
Ich bin schon durch die Tür und warte auf David, bevor er mich einholt, seine Hand auf meine Schulter legt und mich somit zum Stehenbleiben zwingt. Dann flüstert er nah an mein Ohr.
„Anna, ich denke, er sagt die Wahrheit.“
„Das kann nicht sein. Er lügt. Wie immer. Er versucht unser Vertrauen zu gewinnen, um uns dann wieder weh zu tun. Er wird versuchen uns umzubringen.“
„Anna, das ist nicht der Nathan, der dir weh getan hat. Ich weiß, dass er nicht lügt. Ich kann seinen Herzschlag hören. Er kann sich an nichts erinnern. Er sagt die Wahrheit. Auch wenn ich diesen Arsch selbst gerne hier verrecken lassen würde, er lügt nicht.“
„David bist du wirklich so naiv? Er ist ein Vampir. Er kann alles kontrollieren, auch seinen verdammten Herzschlag. Er lügt.“
Ich bin so wütend. Wütend darüber, dass David auf diesen Lügner reinfällt. Ich will wieder weiter gehen. Ich muss hier weg. So schnell wie möglich weg von Nathan. Diesem verdammten Lügner. Doch David fasst meinen Oberarm und zieht mich zu sich. Dieses Mal ist er nicht so sanft. Als ich vor ihm stehe und in sein Gesicht blicke, kann ich erkennen, dass es ihm schwer fällt, was jetzt über seine Lippen kommt.
„Okay Anna, das mag sich jetzt verrückt anhören, aber Nathan...naja er ist kein Vampir. Also nicht mehr. Ich kann es nicht erklären, aber ich denke, er ist etwas anderes.“
Ich muss mich jetzt wirklich etwas zügeln, um meine Stimme gesenkt zu halten. Ich kann nicht glauben, was David mir hier erzählen will. Das kann nicht sein.
„Was ist er dann? Nur ein weiteres Arschloch, dass uns umbringen will. Er versucht dich zu manipulieren. Glaube diesem Schwein kein Wort.“
David schüttelt den Kopf und blickt über seine Schulter, um nach Nathan zu sehen. Dieser kniet noch immer am Boden und krümmt sich vor Schmerz. Vielleicht hat David ja recht. Vielleicht ist er kein Vampir mehr. Ich kann es mir zwar schwer vorstellen, aber wer weiß was in dieser Welt noch alles möglich ist. Es sind seine Wunden die nicht verheilen, was mich etwas stutzig werden lässt. Wäre er ein Vampir, würden sie schon verheilt sein. David blickt wieder zu mir und greift dieses Mal auf meine Schulter um mich näher zu sich zu ziehen.
„Anna, ich weiß, dieses Arschloch hat dich fast umgebracht, aber er ist es nicht mehr. Keine Ahnung wie oder wieso, aber er ist kein Vampir. Er ist aber auch kein Mensch. Ich weiß nicht was er ist. Ich weiß nur, dass wir ihn nicht einfach so hier sterben lassen können. Also hilf mir, ihn zu stützen. Wir müssen so schnell wie möglich hier verschwinden. Glaub mir, er kann uns nichts tun. Ich bin stärker als er. Er hat keine Chance.“
In mir herrscht ein Krieg zwischen Verstand und Herz. Sein Aussehen, lässt mich ihn hassen. Doch wenn ich diesen zusammengekauerten, blutüberströmten und mit Wunden übersähten Körper sehe, kann ich nicht anders als David zu glauben. Auch, wenn mein Verstand sich noch immer gegen diese Wahrheit von David wehrt, kann ich nicht anders als zu helfen. Was ist, wenn er meinetwegen hier stirbt? Könnte ich mir das jemals verzeihen? Was ist, wen er wirklich unschuldig ist?
Schon löse ich mich von David’s Griff und gehe wieder zurück in das Zimmer, in dem dieser, mir so fremde Nathan am Boden kniet. Ich habe Angst ihn zu berühren. Auch, wenn er nicht mehr der Alte zu sein scheint, habe ich Angst seinen Körper zu berühren. Zu schmerzvoll ist diese Erinnerung. Doch ich muss David helfen. Also überwinde ich meine Ängste und fasse unter seinen Arm um ihm aufzuhelfen. David sieht mich zufrieden an, als er auf uns zukommt. Er legt seine Hand auf Nathan’s Schulter und sieht in mit ernstem Blick an.
„Okay, das wird jetzt wirklich weh tun. Also du musst vorher mein Blut trinken.“
„Wieso sollte ich? Ich bin ein Vampir. Ich kann mich selbst heilen.“
Und da ist er wieder. Dieser arrogante Nathan.
„Entweder hast du auch einen Schlag auf den Kopf bekommen, aber wie du siehst heilen deine Wunden nicht. Also lass mich dir mein Blut geben. Außer du stehst auf Schmerzen, dann kann ich es auch gerne lassen. Aber ich kann dich nicht den ganzen Weg nach Hause tragen. Also bitte trinke einfach und halt deine Klappe.“
David spricht etwas forsch mit ihm und ich kann an Nathan’s Blick erkennen, dass es ihm nicht ganz recht zu sein scheint. Doch er gibt sich geschlagen.
„Okay. Dann mach schon.“
David nickt siegessicher und schon bohren sich seine Zähne in seinen Unterarm. Das Blut quillt aus der Wunde und er lässt seinen Arm zu Nathan wandern. Etwas widerwillig höre ich, wie er davon trinkt. Nach einigen Sekunden zieht David seinen Arm wieder weg und hält mit seiner linken Hand noch immer Nathan’s Schulter fest.
„Das wird jetzt etwas weh tun.“
Schon weiß ich auch wieso. Er greift, ohne zu zögern nach den Holzsplittern in Nathan’s Oberkörper und beginnt jeden Einzelnen davon raus zuziehen. Bei jedem dieser Splitter höre ich das schmerzhafte Stöhnen von Nathan. Jedes Mal krümmt er sich vor Schmerz, als wieder einer von seinem Fleisch gelöst wird. Ich denke, dass ich die Schmerzen fühlen kann. Den auch ich muss jedes Mal meine Augen schließen, um mein verdammtes Mitgefühl für ihn zu verstecken. Ich will nicht, dass auch nur irgendjemand bemerkt, dass ich mit Nathan Mitgefühl habe. Ich darf mir das nicht erlauben.
Als diese ganze Qual überstanden ist, stellt sich David neben Nathan und beginnt ihn ebenfalls zu stützen. Langsam scheint es ihm wieder besser zu gehen und beginnt sich aufzurichten. Ich denke David’s Blut zeigt jetzt seine Wirkung.
Wir versuchen durch die Bar zu gehen und ich spüre dieses Gefühl von Nathan’s Körper an meinem. Es ist komisch ihn so nahe zu haben und doch wieder nicht. Wir sind kurz vor der Tür, die nach draußen führt. Dorthin wo die größte Gefahr auf uns wartet. Ich kann mich jetzt nicht in einen Wolf verwandeln. Ich habe gerade absolut keine Kraft, mir auch nur annähernd um etwas anderes Sorgen zu machen. Ich will einfach wieder zurück. Weg von hier.
Nathan richtet sich auf und löst sich von unserer Stütze. Etwas schwerfällig bewegt er sich und versucht die Tür zu öffnen. Das Licht ist etwas heller, als in dieser Bar und die Luft scheint sich wieder ein wenig zu lockern. Der Geruch ist jetzt nicht mehr so brennend und ich bin froh, als sich die schwere Tür wieder hinter uns schließt. Wir machen uns so schnell es geht auf dem Weg. David geht vor und ich und Nathan folgen ihm. Ich kann noch immer die Hektik hier spüren. Doch es sind jetzt weniger Leute hier, als noch vorhin. Irgendwie wirkt es etwas ausgestorben. Was ist hier wirklich passiert? Diese Frage beschäftigt mich, seit der Sekunde in der wir in diese Bar gegangen sind. Doch wie es scheint, kann ich mir keine Antwort von irgendjemanden erwarten. Nathan erinnert sich nicht. Behauptet er. Doch irgendwie glaube ich ihm. Er scheint so verletzlich zu sein. Das bin ich nicht von ihm gewohnt. Und auch seine Wunden sind noch nicht verheilt. Irgendetwas stimmt nicht. Irgendetwas ist hier im Gange.
Wir sind schon auf halbem Weg und ich kann die Tür schon sehen, die wieder zurück, in diese, mir gewohnte Welt führt. Doch plötzlich scheinen sich die Leute nach uns umzudrehen. Sie starren uns an. Sicherlich auch deswegen, weil Nathan’s Körper mit Blut verschmiert ist. Doch dann höre ich ein Flüstern neben mir.
„Ist sie das?“
Verschwunden ist dieser Gedanke, sie könnten sich wegen Nathan zu uns umdrehen. Und meine Angst meldet sich wieder zurück. Wir müssen hier weg. Ich versuche schneller zu werden und versuche mich, hinter Nathan zu verstecken. Ich will nicht, dass sie mich sehen, obwohl ich weiß, dass es nicht mein Aussehen ist, sondern eher mein Blut, dass mich verrät. Dann spüre ich, wie jemand hinter mir ist. Es macht mich noch nervöser, als ich es ohnehin schon bin. Ich kann den Sand unter den Schuhen hören, wie er bei jedem Schritt knirscht. Und schon spüre ich einen festen Griff in meinem Nacken. Mit einem Schwung werde ich umgedreht und blicke in die Augen eines Mannes. Er sieht furchteinflößend aus. Sein Blick so böse und leer. Ohne Furcht und ohne Seele. Es macht mir Angst. Seine Augen schwarz wie die Nacht und eine große Kapuze hängt über seinen Kopf. Eine Strähne mit grauen Haaren fällt in seine Stirn und sein Gesicht ist mit Narben übersät. Er sieht aus, als hätte das Leben ihn gezeichnet. Als hätte seine Seele sich bei irgendeinen schlimmen Erlebnis, von ihm verabschiedet. Seine Stimme wirkt so kalt und monoton. Als hätte er nichts mehr zu verlieren. Als würde er mich jetzt einfach so töten können und ihm würden die Konsequenzen dafür vollkommen egal sein.
„Tja, dachte es ich mir doch, dass du es bist.“
Ich verstehe ihn nicht und bin verwirrt. Er lässt seine Hand an meinem Nacken zu meiner Kehle gleiten. Dabei überkommt mich ein eiskalter Schauer. Sein Griff festigt sich und ich kann spüren, wie sich mir die Luft abschnürt. Meine Hände fassen automatisch an seine Unterarme und versuchen seinen Griff zu lösen. Doch ich bin wieder einmal zu schwach. Doch wie so oft höre ich auch eine Stimme hinter mir. Zu meiner Überraschung ist es dieses Mal nicht David’s, sondern Nathan’s Stimme.
„Lass sie los.“
Mein Gegenüber scheint nicht wirklich beeindruckt zu sein und blickt ihn nur grinsend an. Sein Grinsen lässt ihn noch böser wirken, als er ohnehin schon ist. Doch Nathan lässt nicht locker.
„Ich sage es nicht nochmal.“
Dann lässt er mich wirklich los. Jedoch nur um sich jetzt Nathan zu widmen.
„Was willst du schon ausrichten? Sieh dich doch an. Ein armseliger Mensch.“
Er blickt Nathan so abwertend an, dass sogar ich wütend werde. Doch Nathan scheint die Ruhe selbst zu sein. Sein Blick so selbstsicher. So wie ich ihn eigentlich kenne. Und schon höre ich ein dumpfes Geräusch, als sich die Faust des Mannes in Nathan’s Bauch rammt. Er sinkt dabei wieder zusammen und ich bin mir in diesem Moment sicher, dass er kein Vampir mehr ist. Denn er würde sich das nicht gefallen lassen. Nicht der Nathan, den ich kannte. Doch kenne ich diesen Nathan überhaupt?
Und schon wieder höre und sehe ich einen Schlag. Doch dieses Mal ist es nicht der Mann der austeilt, sondern David. Er streckt ihn mit einem Schlag nieder und ich höre, wie sein Kopf auf dem sandigen Untergrund aufkommt. Doch er bleibt nicht lange liegen. So schnell wie er gefallen ist, steht er wieder auf. Die Leute sammeln sich in einem Kreis um uns und ich bin mir nicht mehr sicher, ob diese Aufmerksamkeit gut für uns ist.
Und schon sehe und höre ich, wie Knochen brechen. Es ist David. Er verwandelt sich. In Wolfsgestalt steht er vor mir und ich kann plötzlich die Leute hören, wie sie ungläubig über David sprechen. Dann höre ich auch den älteren Mann, wie er überrascht auf David blickt.
„Das ist unmöglich.“
Was ist unmöglich? Ich weiß gerade nicht, wieso alle so erstaunt sind. Sie weichen alle einen Schritt zurück als ein dumpfes Knurren von David zu hören ist. Seine Augen leuchten wieder in diesem rot und seine Zähne sehen aus, als würden sie nur darauf warten, etwas zu zerfleischen. Würde ich nicht wissen, dass es David ist, würde ich jetzt vor Angst weglaufen. Ich denke, dass es nicht nur mein Gedanke ist. Denn die Leute die um uns herum stehen, treten alle einen Schritt zurück. Manche verschwinden so schnell sie nur können. Andere wiederum können ihre Augen nicht von ihm lassen. Und so erschüttert ein noch lauteres Knurren diese Halle. Plötzlich treten alle noch einmal einen Schritt zurück und machen uns den Weg zu dieser Tür frei. Es ist irgendwie so unwirklich was hier gerade passiert und doch passiert es. Sie lassen uns gehen. Langsam drehe ich mich wieder um und blicke zu Nathan, der ebenfalls erstaunt zu sein scheint, über den Anblick von David. Er kommt auf mich zu und greift nach meiner Hand. Aus Reflex ziehe ich meine Hand wieder von ihm weg. Ich kann ihn nicht so berühren. Auch, wenn er jetzt nicht mehr derselbe ist. Aber ich kann es nicht zulassen, nochmals Gefühle für ihn zu entwickeln. Er sieht mich etwas überrascht an, aber wendet sich dann, trotz allem zum Gehen. Ich folge ihm und auch David folgt uns. Jedoch blickt er noch immer zu den Leuten und geht rückwärts zu der Tür. Er versucht uns zu beschützen. Und es funktioniert auch. Die Leute bleiben stehen und keiner scheint uns zu folgen. Endlich. Endlich stehen wir vor dieser Tür und ich kann nicht anders, als mich durch diese Tür zu stürzen. Zurück in meine Welt.