Mira liebte schon immer Raubvögel. Sie hatten etwas Majestätisches an sich, das sie schon von klein auf faszinierte. Ganz besonders die Adler. Sie waren für Mira die wahren Könige der Lüfte. Wenn Mira mit ihrer Familie im Urlaub war und es dort eine Falknerei gab, drängelte Mira so lange, bis die Familie dorthin ging und sich die Vögel ansah.
Als Mira älter wurde, engagierte sie sich für den Vogelschutzbund ihrer Region. Sie lernte viel über die Vögel, besonders über die Adler. Sie kannte die unterschiedlichen Arten und konnte alles Wichtige aufzählen. Im Vogelschutzbund war sie mit ihrer Leidenschaft nicht mehr allein und blühte regelrecht auf. Denn ihre Menschenfreunde verstanden ihre Leidenschaft nicht. Für Mira – und auch die magische Welt – waren Adler etwas ganz Besonderes. Adler waren seit jeher die engsten Freunde der Magier.
Wie jedes Jahr war Mira mit ihren Freunden vom Vogelschutzbund unterwegs. Sie zählten Vögel und beobachteten die Elterntiere mitsamt ihren Jungtieren. Es war immer wieder spannend für Mira zu sehen, wie die erwachsenen Tiere Jahr für Jahr die Jungen aufzogen.
„So“, machte Andreas am späten Nachmittag. „Jetzt haben wir alle…“ Er sah auf sein Klemmbrett und stockte. „Fast alle Vögel gesehen.“
„Nur die Adler nicht“, meinte Mira.
„Richtig, nur die Adler nicht“, stimmte Andreas zu. Dann sah er zu Mira und die Beiden wussten, dass es seltsam war. Das Adlerpärchen war die Gruppe gewöhnt und sie kamen seit Jahren her. Sie vertrauten ihnen, ließen sich durch nichts stören.
„Wir sollten nachschauen, oder?“, fragte Lisa. Sie deutete die Pause richtig. „Ich mein, die Elterntiere kommen eigentlich jedes Jahr her. Irgendwas wird ja wahrscheinlich vorgefallen sein, wenn sie den ganzen Tag schon nicht aufgetaucht sind.“
Mira nickte, ebenso wie Andreas. Zusammen mit Niko machten sie sich schließlich auf den Weg zum Adlerhorst. Niko ging dabei vor.
Die ganze Zeit schwiegen die Vier und beobachteten die Gegend ganz genau. Es schien, als würde etwas Bedrohliches hinter den Bäumen stecken, nur konnte die Gruppe es nicht greifen oder gar deuten.
Etwa ein Kilometer vor dem Adlerhorst blieb Niko abrupt stehen. Er hatte etwas im Unterholz des Waldes gesehen. Etwas, das ihn stutzig machen ließ.
„Bleibt hier“, forderte er die anderen auf, ehe er langsam zu der Stelle ging, an der er dieses Etwas gesehen hatte. Und je näher er kam, desto größer wurde sein Entsetzen.
„Oh nein“, hauchte er.
Vor ihm lagen die Kadaver des Adlerpaares. Dem Anschein nach hatten sie sich mit einem Feind einen heftigen Kampf geliefert. Und Adler hatten in der magischen Welt nur einen Feind – Drachen.
„Was ist…?“, fragte Mira und trat neben Niko. „Oh nein!“
Bestürzt kniete sie nieder und beobachtete das verwaiste Kampffeld bestürzt.
„Wir müssen das den Obersten melden“, meinte Niko.
Mira nickte. „Und wir sollten in den Adlerhorst sehen“, fügte sie hinzu. „Ich glaube, dass sie bereits Eier gelegt haben.“
Niko gab ihr recht. Es war die richtige Jahreszeit. Und das Adlerweibchen sah etwas abgemagerter aus als das Männchen. Sie hatte etwas beschützt und kaum den Adlerhorst verlassen.
Schnell gingen Mira und Niko zu den Anderen zurück und berichteten.
„Lasst uns zum Adlerhorst gehen“, bestimmte Andreas. „Aber seid vorsichtig! Der oder die Drachen können noch immer hier irgendwo sein.“
Die Bedrohung war greifbarer geworden, aber dadurch nicht ungefährlicher. Im Gegenteil, einem Drachen auf der Jagd wollte niemand begegnen.
Alle nickten und angespannt machte sie die Gruppe auf den restlichen Weg.
Nach einigen Minuten erreichten sie den Adlerhorst. Nichts hatte sich hier geändert. Friedlich lag er da. Alles wirkte wie immer – so als würde das Adlerpärchen jederzeit zurückkehren. Und dennoch wirkte die Atmosphäre düster.
Mira ging langsam auf den Adlerhorst zu und machte dabei verschiedene Geräusche.
„Also geschlüpft ist noch nichts, wenn die beiden tatsächlich Eier gelegt haben“, meinte sie. Die Anderen stimmten ihr zu. Ein Junges hätte geantwortet. Die Möglichkeit, dass die Jungen bereits verendet waren, schob jeder der Vier von sich.
„Ich kletter hoch“, meinte Mira. Und ehe jemand sie abhalten konnte, war sie an den Baum getreten, auf dem der Adlerhorst war, und begann daran hochzuklettern. Je höher sie kam, desto mehr stieg ihre Anspannung. Was würde sie in dem Nest vorfinden?
Bald erreichte sie das Nest und blickte vorsichtig hinein. Zuerst sah sie die Eierschalen – aufgebrochen – und Federn. Auch hier hatte ein Kampf stattgefunden, wenn gleich ein unfairer. Die jungen Adler mussten gerade erst geschlüpft sein, als der Drache ihren Hort aufgesucht und sie getötet hatte.
„Oh nein“, hauchte sie betrübt. Sie hatten erneut Adler verloren. Es waren nicht die ersten, denn die Übergriffe von Drachen auf Adler nahmen in den letzten Jahren beständig zu, so dass die Adlerbestände rapide sanken.
Plötzlich fiepte es ganz leise. Mira sah sofort zu der Stelle, wo einige Eierschalen übereinander lagen und scheinbar ein Versteck bildeten. Diese Schalen bewegten sich plötzlich – es war, als würde jemand versuchen, an ihnen vorbeizukommen, es aber nicht schaffte. Wie gebannt folgte Mira dem Geschehen, als ein kleiner Schnabel erschien und versuchte die Eierschalen durchzuhaken. Mira erwachte aus ihrer Starre und schob die Eierschalen vorsichtig beiseite. Als sie erkannte, was sich dort versteckte, bekam die junge Frau ganz große Augen.
„Na, wer bist du denn, hm?“, fragte sie behutsam, legte die Hand offen zu dem Jungtier, um es nicht zu verschrecken, und damit es sich an Mira gewöhnen konnte. Langsam kam das Jungtier näher und erkundete Miras offene Hand, ehe es sich daran anschmiegte. Da erkannte Mira, dass das Jungtier total abgemagert war. Es musste schon seit Tagen hier ausharren, ohne Futter und den Launen des Wetters ausgesetzt.
Vorsichtig griff Mira nach dem Jungtier. „Na komm. Bringen wir dich mal in Sicherheit“, murmelte sie beruhigend. Mit langsamen Bewegungen setzte Mira das Jungtier in die Kapuze ihrer Jacke – froh, diese vor der Kletterei nicht ausgezogen zu haben. Als das Jungtier sicher verstaut war, machte sich Mira auf den Weg nach unten, um ihren Freunden die frohe Botschaft zu überbringen.
„Was hast du dort oben gefunden?“, fragte Lisa auch sogleich, als Mira bei ihnen war.
Mira antwortete nicht, sondern das Jungtier fiepte ängstlich. Mira holte es vorsichtig aus der Kapuze heraus und machte dabei „Shh!“.
„Haben wir Futter dabei?“, fragte sie.
Andreas schüttelte den Kopf, als das Jungtier erneut fiepte und sich ängstlich an Mira ankuschelte.
„Drache“, flüsterte Niko da. Dann hörten sie auch schon das herannahende Flügelschlagen.
„Lasst uns von hier verschwinden“, meinte Andreas mit entschlossenem Gesichtsausdruck. „Aber erst sollten wir das Jungtier schützen. Komm mal her, Mira!“
Dann half er ihr aus ihrer Jacke, die sie über die Arme legten, so dass sich das Jungtier darunter verstecken konnte und nicht von dem Drachen gefunden werden konnte.
Schnellstmöglich verschwanden die Vier aus dem Wald, vermieden den Weg des Drachen und verharrten immer wieder reglos, wenn der Drache ihnen zu nahe kam. Auf dem Weg zu ihrem Verbandshaus informierte Andreas über den Vorfall und erklärte, dass sie ein Jungtier geradeso hatten retten können - mehrmals hatten sie die Schuppen des Drachen im Dickicht des Waldes sehen können. Im Verbandshaus war man bereits über ihre Ankunft informiert und hatte alles vorbereitet, um dem Jungtier helfen zu können.
Doch kaum hatte Mira das Jungtier abgesetzt, fing es an zu fiepen und pikte nach jedem, der sich dem Tier näherte. Schließlich gab man es auf und forderte Mira auf, das Jungtier zu füttern. Dies funktionierte problemlos. Daher wurde Mira angewiesen, was sie tun musste.
„Ich glaube, du hast jetzt einen Adler gefunden, den du groß ziehen kannst, Mira“, meinte Andreas schmunzelnd, als die Vier abends beieinander saßen. Wie alle anderen wusste er von Miras absoluter Faszination von Adlern.
„Ja. Schon. Aber…“
„Nix aber“, widersprach Andreas. „Der Kleine lässt niemand anderes an sich heran. Du bist wie eine Mutter für ihn.“
„Nein“, widersprach Niko da. „Nicht wie eine Mutter.“ Verwirrt sahen Lisa, Mira und Andreas zu Niko. „Eher wie eine Verbundene. Es ist selten, ich weiß. Aber es kann durchaus passieren, dass ein Adler sich an einen Magier bindet. Und Mira hat ihn vor einer lebensbedrohlichen Gefahr gerettet – das verbindet.“
Nachdenklich sah Andreas in die Richtung, wo sich das Jungtier befand. Es hatte im Laufe des Tages langsam Vertrauen in die Umgebung gefasst. So konnte Mira ihn durchaus alleine lassen. Dennoch hatte der junge Adler Mira immer im Auge und misstraute den anderen Magiern.
„Ja, ich glaube, du hast recht“, meinte Andreas langsam. Dann sah er zu Mira und lächelte. „Da ist wohl dein größter Traum in Erfüllung gegangen.“
Wie recht Andreas und Niko hatten, stellte Mira erst mit der Zeit fest. Der kleine Adler machte sich gut und erholte sich gut von den Strapazen seiner ersten Lebenstage. Er war Mira dankbar und zwischen den Beiden entwickelte sich ein inniges Band.