Ich war gerade mit Jon auf der Krankenstation und sah, wie eine Ärztin seine Schulter untersuchte. Der jedoch wehrte sich mit lauter Inbrunst gegen die Behandlung. „Jetzt lassen Sie endlich die Hände von mir! Das ist ja peinlich!“
Die Ärztin lächelte ihn nur an. „Ich weiß, Schätzchen! Aber es ist schon komisch, wie sich ein kleines Kind eine Kugel einfangen kann.“
„Wie bitte!?“
Ich musste mir das Lachen verkneifen, als die Krankenschwester ihn abtastete, während er immer noch wütend vor sich hin schimpfte und meinte, es sei eine Unverschämtheit, wie herablassend sie sich ihm gegenüber verhielt. Er wollte sich das Ganze nicht bieten lassen und meinte, dass er kein Interesse an ihr hätte. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie er darauf kam, dass sie auf ihn stehen könnte...
Aber sie lächelte nur und machte weiter zärtliche Witze über ihn, sehr zu seinem Missfallen. Irgendwann verließ Jon schnaubend das Zimmer, dicht gefolgt von der aufgebrachten Krankenschwester, die verzweifelt versuchte, ihn aufzuhalten.
Ich hätte das ganze Schauspiel genießen können, aber im Moment war ich wirklich an einem Tiefpunkt angekommen. Ich gab mir selbst die Schuld daran, dass Assur in seinem Zorn zu einem Verbrecher geworden war. Vor allem tat es mir um seine kleine Tochter Nya leid. Wäre ich dort gewesen, hätte ich sie schützen können.
Drei Jahre... drei lange Jahre war ich mit meiner Truppe in diesem Dorf stationiert gewesen und immer, wenn ich abends keinen Dienst gehabt hatte, war ich zu ihnen gegangen. Ich wusste noch, wie ich Assur damals auf der Straße hatte liegen sehen. Er hatte kein Geld und er wollte nicht nach Hause, bevor er etwas zu Essen für seine Familie besorgt hatte. Ich habe damals viel Zeit mit ihm verbracht. Und das Schöne war, meine Kameraden hatten, nachdem ich ihnen davon erzählt hatte, sie zu versorgen. Ein Herz für eine kleine Familie, die eigentlich unbedeutend für die großen Mächte war.
Ich hatte immer den Gedanken gehabt, dass Politiker uns nur mal sehen müssten, wie wir mit dem Herzen etwas verändern konnten und nicht mit Gerede, Beschlüssen und Verträgen. Zuerst waren Assur und seine Familie noch recht verängstigt gewesen. Doch ich besuchte sie, wann immer es ging, brachte immer Essen mit und lernte sie kennen. Mit der Zeit wurde die Gemeinschaft enger und das größte Glück war, als er mir Nya vorstellte. Die Kleine war bezaubernd mit ihren freundlichen, mandelbraunen Augen und ihrer unschuldigen Art, die mich immer daran erinnerte, dass es doch ein wenig Gutes in dieser Welt gab. Ich schenkte ihr eine Halskette, an dem ein silbernes Blatt befestigt war und erzählte ihr oft die Märchen, die mir mein Vater erzählt hatte. Vor allem die über Ritter, die durch ihr Schwert und ihre Stärke die Schwachen beschützen und diejenigen entmachteten, die nur Unheil über andere brachten. In ihren Augen war ich wohl auch so ein Ritter in strahlender Rüstung. Auch wenn meine Uniform meist verdreckt vom Wüstensand war. Sie bewunderte mich auch, weil ich ihrem Vater das Kämpfen beibrachte. Er wollte selbst in der Lage sein, seine Familie zu beschützen. Allerdings hätte ich niemals ahnen können, dass er dieses Wissen missbrauchen würde.
Aber ich war wohl auch selbst Schuld, dass ich damals nichts hatte tun können. Wäre ich nicht im Lazarett gelandet, hätte ich selbst meine Befehle missachtet, um sie zu retten.
Ich hörte immer noch die Schüsse, die Bomben, die fielen. Ich sah noch, wie Granatensplitter die Körper der Soldaten durchbohrten und dann kam der entsetzliche Schmerz. In dem Moment konnte ich bereits mein Leben an mir vorbeiziehen sehen. Als ich dort lag und mehr und mehr Blut verlor.
Ich hatte so viel verloren, dass ich für einige Zeit bewusstlos war und erst eine Weile später in einem Lazarett erwachte.
Eine Krankenschwester saß neben mir und lächelte mich besorgt an.
„Ich hoffte inständig, dass Sie wieder aufwachen.“
Ein paar Minuten danach tauchten meinen Kameraden auf und wollten mich unbedingt sehen. Die Krankenschwester hatte erst etwas dagegen, bis ich ihr zu verstehen gab, dass sie sie durchlassen sollte.
Ich wusste erst nicht was los war, denn alle waren so still. „Wie lange war ich bewusstlos?“, fragte ich.
zu meinem Entsetzen erzählten sie dann, dass eine Rakete das Dorf getroffen hatte, vom dem Chaos, und den Toten. „Wir haben nach ihnen gesucht, Jones, glaub mir, uns trifft es genauso.“
Ich sah sie mit entsetzten Augen an. „Was erzählt ihr mir da!?!“
Erst als einer von ihnen Nyas Kette in meine Hand legte, machte sich der grauenhafte Gedanke in meinem Kopf breit. „Nein! Nein! Nein!!! Sagt, dass das nicht wahr ist!!!“
Keiner antwortete mir. Ruckartig packte ich einen am Kragen. „Nein! Das ist nicht wahr! Das kann nicht sein!!!“
Ich stieß meinen Kameraden von mir, wollte aufstehen und schrie vor Trauer und Zorn. Dann verließen mich meine Kräfte. Die Krankenschwester rief meinen Namen, meine Kameraden standen um mich herum und versuchten verzweifelt, mir zu helfen. Aber als es wieder dunkel wurde, spürte ich, wie die Finsternis mein Herz umschloss. Ich hatte ihnen versprochen, sie zu beschützen, und ich hatte versagt.
Und nun… In der Gegenwart flossen wieder die Tränen. Das salzige Wasser trug den Schmerz meines Herzens auf meine Haut, als wäre es aus Salzsäure. Ich hatte so sehr versucht, die Erinnerungen zu verdrängen, aber jetzt schien es unmöglicher als je zuvor.
Umso erleichterter war ich, als Alyrun ins Krankenzimmer trat und nach mir fragte. Er setzte sich auf den Stuhl neben meinem Bett und sah mich verständnisvoll an. „Jones, wenn du willst, kannst du mir erzählen, was dich plagt.“
Sein Gesichtsausdruck war ganz anders als sonst, so besorgt und einfühlsam. Ich wollte einfach alles rauslassen, was sich in mir angestaut hatte. Ich erzählte ihm von meiner Begegnung mit Assur, wie ich ihn und seine Familie hatte kennenlernen dürfen. Und auch von der Schuld, die auf mir lastete.
Alyrun hörte sich das alles geduldig an und war aufmerksam. Wie ein weiser Mann saß er da, ließ mich spüren, dass er da war. Man sah es ihm nicht durch seine Regungen im Gesicht an und auch nicht durch irgendeine Bewegung. Ich merkte es durch seine Ausstrahlung.
Ich ließ alles aus mir heraus, meine Trauer, meinen Frust und auch meine Wut. Aber die Worte konnten nicht annähernd beschreiben, was in mir vorging. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass Alyrun mich verstand und mit mir fühlen konnte. Eine Gabe, die nur wenige Menschen so umfassend beherrschten.
Schließlich sah er mir tief in die Augen und meinte: „Jones, die Bestimmung gibt uns manche Rätsel auf, die wir nie werden begreifen können. Wir können nur das Ergebnis sehen und selbst bestimmen, wie wir damit umgehen. Ich weiß nicht, warum gerade dir so etwas widerfahren ist, aber dich trifft keine Schuld.“
„Ich hätte aber für sie da sein müssen, vielleicht hätte ich für sie mein Leben geben sollen.“
„Und dann hätte ich dich vermutlich nie kennenlernen dürfen. Glaub mir, du kannst nicht die ganze Schuld der Welt auf deinen Schultern tragen. Vor allem nicht seit eine Kugel diese durchlöchert hat.“ Bei dem letzten Satz musste ich leise lachen, obwohl dieses mit Bitterkeit gefüllt war. Dann fuhr er fort. „Ich glaube außerdem, dass dein Freund nicht dich, sondern sich selbst hasst.“
Ich schaute ihn fragend an. „Wieso?“
„Viele Menschen versuchen, ihre eigene Schuld zu überdecken, indem sie andere für ihr Leid verantwortlich machen. Ich habe das schon oft erlebt.“
Wir unterhielten uns noch eine Weile weiter, bevor er schließlich gehen musste. Ich war gezwungen worden, noch eine weitere Nacht im Krankenhaus zu bleiben, hauptsächlich, weil die Ärzte noch beobachten wollten, wie sich meine Wunden entwickeln würden.
Ich dachte noch eine ganze Weile darüber nach, was Alyrun mir gesagt hatte, als die Ärztin mich schließlich aus meinen Gedanken riss. „Ich denke, Sie sollten etwas essen.“
Mir war bis jetzt nicht aufgefallen, was für eine schöne Dame sie war. Eine Frau mit glänzendem, weißem Haar, himmelblauen Augen und einer Hautfarbe, die frisch gefallenem Schnee ähnelte. Sie stellte das Tablett neben mir ab, bevor sie nach meinen Verletzungen fragte. Ich nickte nur und ließ sie meine Wunden untersuchen.
Sie beäugte sie aufmerksam, bevor ihre Hand anfing zu glühen. Vorsichtig berührte sie die Haut direkt neben dem Verband und der Schmerz verschwand spurlos. So etwas hatte ich noch nie gesehen. „Das ist unglaublich! Darf ich fragen, wo sie das gelernt haben?“
Sie lächelte freundlich. „Es ist eine Fähigkeit meiner Ahnenseele. Bei seelischen Schmerzen allerdings… da hilft meist nur Geduld und weise Worte.“
„Allein das ist bei ihnen bezaubernd.“
Sie lachte leise und errötete etwas. „Danke.“
Ich hielt den Blickkontakt mit ihr aufrecht, angezogen von dem exotischen Blau in ihren Augen. „Ich denke mal, ihre Ahnenseele ist etwas Besonderes. Sagen sie mir ihren Namen?“
Sie tippte leicht auf eine kleine Kunststoffplakette, die von ihrem Kittel hing und sah mich amüsiert an.
„Mein Name ist Anya.“ mit diesen Worten ging sie zur Tür, drehte sich aber davor noch einmal um. „Morgen können Sie wieder nach Hause gehen, Herr...“
„Jones. Einfach Jones.“
„Jones... ein schöner Name...“ Damit verließ sie den Raum.
Es dauerte noch lange bis nach Sonnenuntergang, bevor ich ein Auge zubekam. Aber schlussendlich viel ich in die Arme der Sternenklaren Nacht.
Gegen Mitternacht erwachte ich mit einem schweißgebadeten Gesicht. Ich sah das Dorf vor mir brennen und rannte, rannte und rannte, um Assur und seiner Familie beizustehen. Schließlich fand ich nur noch das Haus, in dem ihre verbrannten Körper lagen. Nur Assur war noch am Leben und weinte um sie. Bis ein Mann aus dem Schatten kam und mich mit bleichen Augen ansah.
Ich schrie, wollte zu meinen alten Freund, aber ich konnte nicht. Ich sah, wie eine Pistole auf mich gerichtet wurde und hörte das leise Klacken, als sie entsichert wurde. Als ich mit einen Schrei hochfuhr, nahm ich einen tiefen Luftzug.
Ich zog meinen Mantel sowie meine Schuhe an und wollte nur noch nach draußen. Ich stürmte auf die Straße und spürte den kalten Wind, der mir entgegenwehte. Ich weiß nicht, wie lange ich auf den Straßen unterwegs war, es müssen etliche Stunden gewesen sein, aber meine Verzweiflung überlagerte alles andere.
Schließlich als mein Kopf wieder klar wurde, wurde mir bewusst, dass ich unverantwortlich gehandelt hatte. Sicherlich machten sich die Ärzte bereits Sorgen und würden nach mir suchen. Also machte ich mich schließlich auf den Weg zurück. Doch als ich wieder dort ankam, war eine große Menschenmenge versammelt. Die Sicherheitsdienste versuchten, sie auf Abstand zu halten. Ich sah, dass das Erdgeschoss des Krankenhauses in Flammen stand. Warum!? Was ist denn passiert?
Ich versuchte, in die Nähe eines Sicherheitsmannes zu kommen, sah aber, dass eine Ilea schon bei dem Mann war und ihn verzweifelt anflehte, er möge doch ihre Tochter retten. „Seien Sie unbesorgt Ma‘am. Die Feuerwehr wird alle evakuieren, die noch drin sind.“
„Meine Tochter Anya sitzt im Erdgeschoss fest! Wie können Sie so ruhig sein bei diesen meterhohen Flammen?
„Wir tun ja schon, was wir können...“
Meine Augen weiteten sich vor Entsetzen, als mir auffiel, wer auf dem Dach stand. Assur! Sie hatten das Feuer gelegt, um mich zu töten. Nicht bei Verstand stieß ich den Polizisten beiseite und rannte so schnell ich konnte ins Haus. Ich musste Anya davor bewahren wegen mir zu leiden.
Ich spürte die Hitze, die mir ins Gesicht stieß und mir Tränen in die Augen trieb. Sogar der Boden war so heiß, dass ich es durch meine dünnen Schuhe spürte. Das Schlimmste war aber der beißende Rauch, der mir in die Augen stach und in meiner Lunge brannte.