Langsam und konzentriert gibst du das Datum ein: 17.08.2001. Du hoffst, dass du die richtige Reihenfolge hast. Vielleicht wird das Datum ja nach dem amerikanischen Format eingegeben, mit der Jahreszahl zuerst …
Nachdem die Tasten deine Eingabe mit leisem Piepsen übermittelt haben, blinkt ein kleines Lämpchen neben dem Display. Ob der Safe mit Strom läuft? Wie kann er da noch funktionieren?
Ein leises Klicken ertönt und die dicke Tür schwingt auf. Erleichtert atmest du auf und öffnest die Tür.
Du weißt nicht, was du erwartet hattest. Finden tust du jedenfalls Papiere. Eines ist eine Liste mit Passwörtern, die dir nichts mehr bringen, da keine Geräte mehr funktionieren. Anderes sind Besitzurkunden und Wertpapiere, die vermutlich keinen Wert mehr besitzen. Bevor du dich der Enttäuschung hingibst, siehst du dir jedes Dokument an. Schließlich stößt du, ganz hinten, auf einen Brief.
Es ist ein dickes, längliches Paket aus vergilbem Papier, das nicht zu den ansonsten weißen Unterlagen passt. Der Brief ist offen und als du ihn umdrehst, siehst du keinen Empfänger oder Absender, nur eine handschriftliche Notiz.
‚Türen nach Anderswo‘.
Was gewöhnliche Plünderer vielleicht als unwichtig abtun würden, jagt dir ein Kribbeln durch die Finger. Du reißt den Brief an dich und ziehst das raue Papier heraus.
‚Wenn du dies liest‘, beginnt der Text, ‚bist du sehr wahrscheinlich mit der Natur von Portalen vertraut.
Andernfalls wirst du das hier vermutlich für das Gerede eines Irren halten. Aber es gibt Türen in unserer Welt – oder eher Welten – die dich an einen völlig anderen Ort bringen. Ich rede nicht von dem Unterschied zwischen einem Zimmer und dem anderen, nicht von metaphorischen anderen Welten, wenn man etwa einen Nachtclub betritt. Ich rede davon, dass man durch eine Tür geht und sich plötzlich im Mittelalter befindet. Man sieht in einen Karton und stürzt plötzlich in eine gigantische Welt, wo einen Käfer als Beute betrachten. Man nimmt ein Telefon ab und wird in die Matrix teleportiert.
Denn ja, diese Portale können alle möglichen Gestalten haben. Manchmal reichen die Klänge eines Liedes oder ein Bissen vom falschen Kuchen. Manchmal sind es große, magische Portale. In unserer ursprünglichen Welt, die wir als Realität bezeichnen wollen, sind sie selten. Aber hat man das erste durchquert, so findet man sie überall. Aus diesem Grund hat mein Volk der Nomaden beschlossen, die vielen fremden Welten von Anderswo als ein Reich wahrzunehmen. Ein Reich aus unzähligen Dimensionen, die einander an verschiedenen Stellen berühren, aber die Realität fast nie erreichen.
Wir nennen uns Weltenreisende. In Wahrheit sind wir Verloren. Anderswo, dieses Land der Fantasie, ist unendlich. Es gibt mehr Welten als Zahlen in der Unendlichkeit. Es ist schier unmöglich, einen Ort zu erreichen, an den man will, denn es gibt so viele Zufälle und Abwege, auf denen man landen kann. Die Realität ist noch schwieriger zu finden. Portale dorthin sind selten und man weiß nie, ob man zurückkommt. In den Jahrzehnten meiner Reise habe ich es zwei Mal geschafft, doch nie nach Hause. Immer nur in fremde Länder, in Zeiten, die mir nicht gehören.
Ja, die Zeit verläuft anders hier. Ich kenne Menschen, die aus dem Mittelalter stammten. Menschen aus meiner Zukunft. Sie alle sind hier gestrandet. In Phantasma gibt es nur selten Sprachbarrieren und auch die verstrichene Zeit der realen Welt berührt uns nicht. Wir ziehen einfach weiter.
Ich denke, meine Heimat ist untergegangen. In der Realität kann man nie zurückreisen, also ist dies wohl nun meine Heimat: Eine Heimat, die aus der Reise selbst besteht, ohne jemals wirklich irgendwo anzukommen.
Es sollte mich traurig stimmen, aber da ist etwas, das mich weiterzieht. Alle Weltenreisenden, die ich getroffen habe, spüren es. Wir können paradiesische Welten entdecken, am Ende gehen wir doch immer durch ein Portal, ohne zu wissen, in welcher Todesgefahr es uns ausspuckt.
Wir müssen weiter. Und wenn du das hier liest, geht es dir sicherlich genauso. Etwas ruft uns. Es ruft uns vom Ende der Welt, das näher und näher rückt.
Das Ende der Welt. Es ist ein Ort – eine Welt oder eine Reihe von Welten, wenn man so will. Doch es ist auch ein Gift, das sich langsam ausbreitet. Ich fürchte, es kann eines Tages alles verschlingen, ganz Anderswo und vielleicht auch die wahre Realität.
Manche der Kreaturen, die wir hier treffen, sagen uns, dass das unsere Bestimmung wäre. Als Weltenwanderer können wir die Grenzen der Dimensionen überwinden. Nur wir können das Ende erreichen, diese Welten, in denen nichts mehr lebt.
Aber haben wir dort eine Aufgabe? Ist es eine Falle? Ziehen wir in den Tod?
Auf diese Fragen gibt es eine Antwort, doch wir finden sie nur dort: Am Ende der Welt.
Du, der du liest: Ich denke nicht, dass ich je an diesen Ort zurückkehren werde. Es gibt zu viele Welten in Anderswo, und zu viele Gefahren. Aber du sollst wissen, dass du nicht allein bist. Es gibt einige von uns. Du kannst unsere Spuren finden, auch wenn du oft genug ein Pionier in manchen Landen sein wirst.
Komm zum Ende der Welt. Zum Guten oder zum Üblen. Aber pass auf – es gibt auch Wächter, die über die Grenzen der Welt wachen. Sie sind anders als die Gefahren, denen du dich bisher stellen musstest, denn sie teilen dein Wissen um Weltenreisen und sind besser darin als du.
Möge das Glück auf deiner Seite sein, Fremder.‘
Du starrst lange auf die Zeilen. Dann betrachtest du die verschiedenen anderen Unterlagen im Brief, die gesammelte Notizen enthalten. Du erfährst etwas über verschiedene Welten und Gefahren, die dir dort begegnen können, aber auch den Hinweis, dass das längst nicht alle Gefahren der Anderswo-Welt sind. Man kann hier jahrelang reisen, täglich tausende Portale durchqueren, und doch niemals die gleiche Welt zweimal betreten.
Gemessen an manchen Horrorwesen, die du in den Notizen findest, hattest du bisher noch viel Glück. Aber mehr als all das interessiert dich die Tatsache, dass es andere wir dich gibt, die offenbar auch in Gruppen umherziehen. Es wäre schön, nicht immer allein zu sein oder unter Wesen, denen du nicht die volle Wahrheit sagen kannst. Aber dass du jemanden treffen wirst, ist immer noch unwahrscheinlich. In einem unendlichen Universum ist es nicht leicht, zufällig auf jemanden zu treffen.
Du verstaust am Ende alles wieder in dem Brief und überlegst kurz, ehe du das Paket zurückstellst. Der nächste Weltenwanderer, der hier vorbeikommt, wird sich über diese Informationen sicherlich sehr freuen. Du bist dir sicher, dass du dir alle Warnungen der Briefe eingeprägt hast.
Ob du deine eigenen Warnungen hinzufügen solltest?
Schließlich verschließt du den Tresor wieder und erhebst dich. Du bist dir ziemlich sicher, dass du in diesem Gebäude alles untersucht hast, und ein gewisses Kribbeln ruft dich weiter. Ist das der Sog vom Ende der Welt, von dem sogar der Brief gesprochen hat?
Du schulterst deinen Rucksack und wendest dich der Eingangstür zu.
Zeit, weiterzureisen.
Kapitel 900: [https://belletristica.com/de/chapters/313943/edit]