An einem hervorstehenden Felsen blieb der Drache hängen. Der Junge war bereits etwas weiter hangaufwärts im Schnee stecken geblieben und schaufelte sich mit langsamen Bewegungen frei. Uff! Was für eine Strafe für ein kleines bisschen Unachtsamkeit, schallt er sich selbst. Er schielte zu dem Schneewirbel, der dort aufstob und weiter stürzte, wo der Drache zum Halt gekommen war. Ein Flügel stand in einem seltsamen Winkel von ihm ab. Er versuchte, sich aufzurichten, hatte aber offenbar Schwierigkeiten damit, mit den Vorderbeinen festen Halt zu finden, und knickte immer wieder ein.
"Durchhalten", schrie der Junge, von Schuldgefühlen und Angst gepackt. "Ich bin gleich da!" Wenigstens gab ihm die Angst Kräfte, die er sonst nicht spürte, sodass er sich mit schierer Willenskraft befreien konnte. Dann eilte er den Hang hinab, so schnell es ihm möglich war, während er immer wieder im Schnee einsank.
Mittlerweile hatte sich der Drache teilweise unter den Schneemassen hervor gearbeitet. Sein rechter Flügel hing in einem merkwürdigen Winkel schlaff an seiner Seite herab. Außerdem schien er noch immer Schwierigkeiten zu haben, zum Stehen zu kommen.
"Es tut mir so leid", rief Manodriil und klammerte sich nicht sehr hilfreich ans erste Bein des Drachen, das er zufassen bekam. Tränenfluten flossen an den Schuppen herab. Das Salzwasser zeichnete eine klare Spur auf dem rauhen Untergrund. Das Urgeschöpf zitterte. Dann wandte es den Kopf und stuppste Manodriil vorsichtig an. Er schaute zu ihm auf. Auge in Auge schien eine Ewigkeit zu vergehen, in der sich die beiden näher fühlten, als jemals zuvor. Als kennten sie sich schon immer.
Manodriil streichelte über die Nüstern des Tieres und drückte ihm einen Kuss auf die Nase. "Da wollte ich dir helfen, und nun das", flüsterte er kleinlaut.
Sein Freund schubbste ihn auffordernd, sodass er sein Blick auf das Bein richtete: Da traute er seinen Augen kaum: Dort, wo seine Tränen entlang geflossen waren, glänzten die Schuppen golden! Belustigt wackelte der Drache mit den Ohren. Zum Beweis der Heilung stampfte er mit dem Bein kräftig auf, dass die Erde unter ihm zitterte
"Oh nein, keinen neuen Erdrutsch verursachen! Meiner war schon schlimm genug!" Entsetzt hob Manodriil die Arme.
Der Drache hörte mit seinem Treiben auf und schob den Jungen zu seinem immer noch kläglich herab hängenden Flügel.
Offenbar erwartete er, dass der Junge auch diesen heilen könnte. Aber wie? "Ich kann nicht auf Befehl weinen", sagte er kläglich und strich vorsichtig mit einer Hand über die Haut, die an dieser Stelle überraschend zart wirkte. Wieso war ihm nicht früher aufgefallen, wie fragil dieses Wesen war? Als sähe er seinen Freund zum ersten Mal, trat er einen Schritt zurück und betrachtete jede Ader, jeden Knochen, jede Falte des Flügels. So riesenhaft und doch verletzlich - und er hatte nicht die geringste Ahnung, was er tun könnte. Tränen traten erneut in seine Augen, dieses Mal langsamer, sanfter. So nah wie möglich stellte er sich neben den unnatürlichen Knick in dem Flügel. Ein Tropfen fiel darauf, ein zweiter. Sie verdampften, sobald sie den Drachen berührten. Er zuckte zusammen und schnaubte, machte aber keine Anstalten auszuweichen. Also blieb Manodriil, wo er war, und ließ seinen Gedanken freien Lauf, ließ seine Erinnerungen an all die gemeinsamen Erlebnisse wach werden - und schauderte bei dem Gedanken, dass er ohne dieses wunderbare Wesen vermutlich noch immer in dem Sumpf feststecken würde. Und hier auf dem Gletscher sicher nicht heil hinauf oder hinunter käme.
Bei seinen Schreckensszenarien wurde der Drache ärgerlich und schüttelte den Kopf, blies eine Flamme mit lautem Brüllen in den Himmel. Offenbar mochte er es nicht, wenn sich Manodriil selbst bemitleidete. Kein Wunder. Er wandte sich wieder der Schönheit des Urgeschöpfs zu. Tränen tropften auf die Drachenhaut und verschwanden.
Nach einer Weile, die dem Jungen wieder sehr lange vorkam, zitterte der Flügel. Vorsichtig klappte der Drache ihn ein, wieder aus, als probiere er seine Funktionsfähigkeit.
Manodriil schaute zu, wagte kaum zu atmen.
Das Flügelwackeln wurde stärker. Der Drache erhob sich kurz in die Luft und landete klatschend auf dem Schnee, der um ihn herum aufstob und den Jungen mit einer weißen Schicht bedeckte.
"Juchhuu! Dir geht es wieder gut!" Manodriil fiel dem Tier um den Hals und drückte sich an ihn.
Ein Rundblick ergab, dass sie ziemlich viele Höhenmeter verloren hatten. Unter ihnen fiel eine Felskante steil hinab. Sie wandten sich wieder dem Aufstieg zu, wobei sich diesmal der Junge in den Spuren des Drachen hielt und mit einer Hand dessen Schwanzspitze festhielt, um nicht die Orientierung zu verlieren.