Ringsum die höchste Erhebung des Berges gab es jede Menge Schneeformationen und Eisskulpturen zu entdecken. Doch auch die schönsten Natur-Kreationen werden uninteressant, wenn man alleine ist und sich nach Abwechslung sehnt - oder schlicht der Magen knurrt. Unwillig stieß Manodriil einen Schneebrocken mit dem Fuß zur Seite. So ein Drache kennt wohl nichts von alledem? Sein Gefährte verharrte noch immer in derselben Position wie die vergangene Nacht. Als sei er selbst zur Skulptur geworden, dachte der Junge missmutig. Ihn zu wecken, traute er sich nicht. Offenbar brauchte das Wesen seine Ruhe. Es würde sich schon noch melden.
Als bei Sonnenuntergang allerdings immer noch keine Bewegung in das riesige Geschöpf kam, wurde er langsam unruhig. Noch eine Nacht hier oben? Unwirtlich, kalt, auch wenn man zu zweit ist. Er drückte sich an seinen Freund und hoffte, der würde endlich reagieren. Die Sonne verschwand, die Sterne eroberten den Himmel und Manodriil kuschelte sich zwischen Drachenschwanz und -körper, um sich ein bisschen zu wärmen.
Das dauert ja ewig! Erst langsam dämmerte ihm, dass der Drache nicht zu atmen schien. Ihm wurde unheimlich. Er rüttelte sanft an dessen Bein, an einer Schulter. Doch nichts.
"He, wach auf, wir müssen hier weg!" Erst leise, dann immer lauter flehte er seinen Gefährten an, der reglos dalag. Irgendwann brach Manodriil zusammen und weinte. War er ... war er Waise? Die meisten seiner Tränen gefroren in seinem Gesicht, nur einige wenige tropften auf die Schuppen. Ein kaum merkliches Zittern lief durch den massigen Körper, das erst das Bewusstsein des Jungen erreichte, als das Geschöpf regelrecht bebte.
Abrupt endete Manodriils Tränenfluss. "Du lebst!"
'Natürl...' Kaum konnte sein Freund antworten, als der Schnee unter ihnen zitterte. Das Beben des Drachen hatte die weißen Massen in Schwingung und eine Lawine in Gang gesetzt, die die beiden erfasste. Gerade eben bekam der Riese noch mit dem Maul einen Zipfel von Manodriils Jacke zu fassen, als sie auch schon hinab gen Tal rutschten, rutschende Schneebrocken vor ihnen, hinter ihnen und bald über ihnen. Tosend begruben sie die beiden unter sich. Irgendwann kam die Lawine zu einem Halt und es wurde still.
Energisch schüttelte der Drache seinen Kopf, ohne den Jungen loszulassen. Dass der unsanft hin und her geschleudert wurde, scherte ihn im Moment nicht. Hauptsache, er kam wieder an die Oberfläche und konnte atmen. Als ein Schreckenslaut ihm signalisierte, dass dieses Ziel erreicht war, ließ er los und begann, sich mit Schwanz-, Bein- und Halsbewegungen selbst zu befreien.
Allerdings hatten die Bemühungen eine erneute Lawine zur Folge. Laut brüllend wurden sie weiter talwärts gerissen. Dieses Mal wurden sie getrennt ...
Als sich nach einer gefühlten Ewigkeit die Schneemassen wieder beruhigten, reckte Manodriil seinen Kopf aus dem Schnee - selbst überrascht, wieviel Glück er gehabt hatte. Direkt vor ihm ragte die Spitze einer Tanne aus dem Boden. Er arbeitete sich darauf zu und klammerte sich an ihr fest, während er seine Umgebung mit den Augen absuchte. Wo ist der Drache?
Nur aufgewühlter Schnee überall, die Bergspitze im Hintergrund hatte ihre Form deutlich verändert. Erde und Geröll bedeckte an vielen Stellen das Weiß. Keine Bewegung, kein Anzeichen, dass hier irgendein anderes Lebewesen war.
Seufzend kauerte sich der Junge zusammen. Er fror. Sein Körper schien überall zu schmerzen. Immerhin nichts Gebrochen. Aber wo sollte er die Suche nach seinem Freund beginnen? Es war fast dunkel, wie sollte er heute noch die riesige Fläche absuchen?
Leise rief er, doch kein Echo, nichts als Stille antwortete ihm. Nicht diese tiefe Stille, die einen umarmt und tröstet, sondern die kalte, unheimliche, wenn man einsam ist und sich verloren vorkommt. Hoffnungslosigkeit schwappte über den Jungen wie er sie zuletzt in dem Sumpf gekannt hatte.
"Ich muss es wenigstens versuchen!" Laut zu sich selbst sprechend richtete er sich auf und wagte ein paar Schritte. Da er mehrfach wegsackte, nahm er die Hände zur Hilfe. Er arbeitete sich Stück für Stück voran, auch als die Nacht ganz übernommen hatte. Ab und zu rief er wieder, doch blieb der Drache verschwunden. Jedes Mal, wenn wieder der innere Sumpf den Jungen zu überwältigen versuchte, sprach oder sang er. Tief in seinem Bauch hatte sich ein eiserner Wille eingenistet: Dieses Mal wird die unendliche Traurigkeit mich nicht kriegen - und ich werde meinen Freund finden!
Doch irgendwann war er so erschöpft, dass er an Ort und Stelle zusammensackte einschlief.
Das Schloss. Ein Springbrunnen davor. Der Drache hinter ihm. Staunend blickte Manodriil an der Fassade empor. War dort in einem der oberen Stockwerke ein Gesicht am Fenster? Er winkte, aber die Silhouette, wenn es denn jemand war, war schon verschwunden. Enttäuscht ließ er die Hand sinken. Tief durchatmend setzte er sich in Bewegung.
Das Tor schien riesig. Es schwang wie von Zauberhand vor ihm auf. Vorsichtig betrat er den Empfangssaal. Zu beiden Seiten führten geschwungene Treppen hinauf. Schritte näherten sich, jemand schaute von der Galerie herab. Jemand mit blonden Zöpfen, die fast bis zum Boden reichten. Ein Märchen?
Krallen landeten in Manodriils Schultern. Der Schmerz samt lautstarken Krächzens weckten ihn auf. Erschrocken fuhr er auf, schlug um sich. Ein schwarzer Vogel flatterte ein Stück fort. Ein weiterer hatte es sich auf der Tannenspitze bequem gemacht.
"Kusch, weg", rief der Junge.
"Krkr, nicht so unfreundlich, junger Mann."
Das Entsetzen wandelte sich in Erstaunen, dass er den Vogel verstehen konnte. "Wenn du freundlich angesprochen werden willst, tu mir nicht weh", konterte er dennoch forsch.
"Krkr, nichts für ungut, aber der junge Junge hat dort ganz schön lange unbeweglich gelegen. Man wird ja noch mal prüfen dürfen, ob wir es mit einem lebenden Kadaver zu tun haben."
"Lebend, ja, Kadaver nein. Nachdem das geklärt wäre - könntet ihr euch vielleicht nützlich machen?"
"Krkr, klar doch. Was möchte der junge Herr wohl von zwei Raben?"
"Ich habe meinen Freund gestern in einer Lawine verloren. Er müsste hier irgendwo unter dem Schnee verborgen sein - bitte, schaut ihr von oben, ob ihr ihn erspähen könnt?"
"Krkr, der Herr befiehlt, wir fliegen." Schon schwangen sich die beiden in die Luft und kreisten über der weiten Fläche. Ab und zu stießen sie hinab, nur um sogleich wieder aufzusteigen.
Auch Manodriil mühte sich ab, kletterte und rutschte, sackte ein und rief immer wieder nach dem Drachen. Die Suche kam ihm endlos vor, bis endlich, einer der Raben auf ihn zu steuerte und wieder davon flog.
"Krkr, schau hier, was ist das?" Er landete nicht weit entfernt und zupfte an etwas herum. Der Schnee geriet in Bewegung.
Manodriil eilte, so schnell es ihm möglich war, zu ihm. Dann schrie er auf - ein dunkler Hautfetzen wie von einem Drachenflügel! Er stürzte sich darauf und scheuchte den Vogel weg, der Anstalten machte, den Hautfetzen aufzufressen. "Bist du verrückt! Such lieber weiter, irgendwo hier muss er sein!" Wie ein Irrer begann er, Schneebrocken hoch zu heben und weg zu schleudern, als könne er dadurch den Drachen befreien. Die Wahrheit war: Das Wesen konnte irgendwo hier in weitem Umkreis begraben sein. Das einzige, was der Hautfetzen bewies, war seine Existenz - und dass er verletzt war!