Du bist Aji.
Mit einem flauen Gefühl im Magen blickst du auf die drei Holzkästchen, die Siwa Ekana euch nach den vielen Geschichten über die Monster in der Tiefe über den Tisch schiebt. Allyster öffnet das erste davon und betrachtet das Gerät im Inneren. Es ist eine Art Maske, die man über Nase und Mund zieht, mit einem breiten Lederstreifen im Nacken befestigt. Das Leder weist bereits weißliche Flecken von Salzwasser auf, ihr seid also nicht die ersten, die sich dieses Ding vor den Mund schnallen.
Das bemerkt auch Allyster und Siwa sagt auf sein Stirnrunzeln hin: „Keine Sorge, die Filter sind nagelneu. Die Babys werden halten!“
„In Ordnung“, murmelt Allyster und klappt das Kästchen wieder zu. Er überprüft auch die anderen beiden Schachteln, in denen ähnliche Masken liegen. Die für dich ist leicht zu erkennen, denn sie ist etwas kleiner. Doch alle drei besitzen eine Art rundlichen Rüssel vorne, in dessen Spitze wohl der Filter sitzen muss. Außerdem gehört eine Brille dazu, aus großen, flachen Glasscheiben in Leder, die offenbar über den dritten Streifen über den Kopf gestreift werden.
Allyster reicht euch je eine Kiste und schiebt dann einen Beutel Geld zu Siwa. Nachdem der Kapitän sich versichert hat, dass niemand euch allzu auffällig beobachtet, zählt er durch. „Die Hälfte“, stellt er fest.
„Die andere Hälfte liegt in einem Versteck in Krabvest.“ Allyster lächelt schmallippig. „Ein Versteck, das du nur mit unserer Hilfe findest.“
„Vorsichtig wie immer, das kann ich respektieren.“ Siwa nickt zufrieden und steckt das Geld ein. „Ihr versteht sicher, dass ich jetzt erst einmal mein eigenes Versteck aufsuchen muss. In einer halben Stunde treffen wir uns am Strand.“
Allyster akzeptiert das mit einem Nicken und der Kapitän lässt euch alleine.
Arthrax reckt den Hals auf der Suche nach dem Wirt. „Das wäre genug Zeit für einen Krug Rum …“
„Vergiss es“, brummt Allyster. „Mich interessiert aber, was ihr von Siwas Geschichten haltet.“
„Wieso sollte er lügen?“, fragst du.
„Weil Seeleute immer lügen. Das nennt man Seemannsgarn. Ihr Leben ist so trostlos, dass sie es mit solchen Geschichten spannender machen müssen. Um Fremde zu veralbern. Das kann manchmal auch auswuchern.“ Allyster zuckt mit den Schultern. „Aber selbst ich muss zugeben, dass das langsam schon zu viel Aufwand für etwas Aberglauben wäre.“
„Das denke ich auch“, sagt Arthrax. „Ich habe abends im Nebel Lichter gesehen. Stimmen gehört. Und dann die Geschichte mit dem Geisterschiff …“
Du nickst. „Sobald es nebelig wird, sind da ganz viele Lichter. Ich habe Augen gesehen, die uns beobachten. Und einmal war da eine Möwe, die mitten in der Nacht geflogen ist. Sie sah irgendwie … düster aus.“
Arthrax nickt bestätigend. „Das sind nicht einfach nur Streiche, die uns unsere Augen spielen. Irgendwas ist hier faul.“
Allyster nickt. „Ich denke, es schadet nicht, den Seeleuten erst einmal zu glauben. Wir sind in den Jenseitslanden, da sind die Regeln vielleicht etwas anders. Und da wir uns in ihr Reich begeben … verlassen wir uns auf ihr Wissen.“
Dem könnt ihr alle zustimmen. Falls ihr euch damit zu Narren macht, wäre das das geringere Übel, statt die Geschichten nicht zu glauben, falls sie der Wahrheit entsprechen.
In der Taverne trinkt ihr noch einen Saft, das einzige nicht-alkoholische Getränk. Allyster besteht darauf, dass ihr einen klaren Kopf behaltet. Als ihr euch schließlich auf den Weg zu der Stelle macht, wo Siwas Schiff ankert, bist du froh darüber. Dein Blick gleitet wieder und wieder zu den rauschenden Wogen, die unermüdlich gegen den Sand rollen. Nur mit den Masken bewaffnet, den Pikuns, werdet ihr euch unter die Wellen begeben.
Euer Treffpunkt liegt hinter einigen palmenbewachsenen Felsen in einer kleinen, abgeschiedenen Lagune. Das Schiff treibt vor euch auf den Wellen, aber von der Stadt aus und von anderen Schiffen seid ihr nicht zu sehen. Das Wasser dringt hier tief genug ins Land ein, dass ihr ungesehen unter die Wellen und davonhuschen könnt, sobald Siwa auftaucht.
Ihr beginnt damit, die Atemgeräte auszuprobieren. Wie man das Pikun aufsetzt, wisst ihr nicht. Nach einigem Geschimpfe seitens Arthrax‘ kniet sich Allyster vor dich und befestigt deine Maske. Du zuckst zusammen, als er die Riemen um den Hals festzieht. „Au!“
Gedämpft dringt die Stimme deines Mentors durch die Maske, die er selbst noch locker trägt. „Die Pikuns müssen fest sitzen, damit kein Wasser hinein kommt.“
Als nächstes hebt er den oberen Teil an, der die großen Augengläser beinhaltet. Diese sitzen direkt neben dem Leder, das deine Nase bedeckt, und erstrecken sich bis zur Stirn.
Die Luft im Inneren der Maske ist muffig und du merkst, dass du tief einatmen musst, um Luft zu kriegen. Der Rüssel vorne ist dicht gepolstert, jeder Atemzug ein Kraftakt.
„Ich kann nicht atmen!“
„Wer jammern kann, kann auch atmen“, erwidert Allyster, der Arthrax dabei hilft, das Pikun aufzusetzen.
„Ihr gewöhnt euch daran.“ Siwa ist hinter euch aufgetaucht. Der Kapitän überprüft eure Pikuns noch einmal und nickt dann zufrieden. „Also gut. Gehen wir.“
„Wo ist denn dein Pikun?“, fragst du irritiert, als der Graumeerer einfach in die Wellen stiefelt. Gischt schäumt um eure Beine, als ihr im folgt.
„Ich brauche keine Hilfsmittel, kleiner Kalynorer.“ Siwas Blick gleitet zu deinem Haar. Die Kapuze hast du abstreifen müssen, ihr tragt alle nur noch leichte Kleidung. Unangenehm wird dir bewusst, dass du immer noch ein Freak bist. „Falls du überhaupt ein Kalynorer bist.“
Das Meer ist kühl, als ihr eintaucht. Eine Gänsehaut überzieht deine Arme und Beine, als du bis zum Bauch, dann bis zur Brust eintauchst. Schließlich ziehst du den Kopf unter Wasser, so wie auch Allyster und Arthrax. Im etwa hüfthohen Wasser setzt ihr euch auf den Strand und wartet erst einmal.
Durch das Pikun kannst du noch immer atmen. Wenn du ausatmest, steigen Wasserbläschen vorne aus dem Rüssel. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, an das man sich erst einmal gewöhnen muss. Die Atemzüge sind schwierig und erzeugen ein lautes Dröhnen, das du auch von deinen Gefährten hörst. Ihr klingt, als würdet ihr durch eine Metallröhre atmen.
Siwa taucht ebenfalls unter. Dann verändert sich sein Aussehen langsam. Mit großen Augen verfolgst du, wie sein Hals etwas anwächst und flatternd lange Einschnitte offenbart. Kiemen, wie bei einem Fisch. Seine Füße werden noch etwas größer, die Zehen strecken sich, nachdem er sie an Land offenbar immer eingerollt getragen hat. Als er die Zehen spreizt, tauchen große Schwimmhäute dazwischen auf. Mit den Händen ist es ähnlich. Die Schwimmhäute liegen in trockenem Zustand offenbar dicht an, entfalten sich aber unter Wasser zu großen, milchigen Flächen. Zuletzt zieht Siwa Ekana sein Hemd über den Kopf und offenbart eine Rückenflosse, die an der Wirbelsäule ansetzt und sich nun aufstellt. Das Hemd bindet er sich um den Kopf, um die langen Haare zu bändigen, die sich unter Wasser aufbauschen. Auch die eingeflochtenen Knochenstücke klappern unter dem Hemd nicht mehr aneinander, was euch wohl verraten könnte. Seine Tattoos, an Land eher rötlichbraun, leuchten unter den Wellen nun blutrot und kleine Flecken und Linien innerhalb der eigentlichen Bemalung werden sichtbar, die im richtigen Licht irisierend aufblitzen.
Du hattest nie darüber nachgedacht, was es bedeutet, dass Siwa kein Mensch ist. Nun wirst du daran erinnert, dass die Jenseitsvölker allesamt andere Kreaturen sind, selbst wenn sie menschenähnlich aussehen.
Siwa schwimmt ein paar Runden, als müsste er seine Schwimmfortsätze erst wieder trainieren, dann kommt er zu euch.
„Seid ihr so weit?“, fragt er mit blubbernder Stimme. „Habt ihr euch an die Pikuns gewöhnt?“
Ihr nickt der Reihe nach.
Siwa lächelt. „Dann kommt!“
Er ist definitiv schneller als ihr. Während ihr ihm vorsichtig folgt, mit ungeschickten Schwimmzügen, teilweise, indem ihr euch über den Sand zieht, späht Siwa voraus und huscht um euch herum wie ein neugieriger Fuchs.
Allmählich wird es anstrengend und du musst langsamer machen. Das Pikun lässt nicht viel Luft durchdringen. Besonders schnell kommt ihr mit diesen nicht voran.
Dabei müsst ihr in das Höhlensystem unter der Insel. Schon jetzt kannst du die großen, zerklüfteten Felsen erkennen, die hier und dort aus dem Sand brechen. Die Felsen sehen aus wie die Korallen, nur viel größer. Je weiter ihr euch von der Oberfläche entfernt, desto besser kannst du den tiefen Abgrund ringsum erkennen. Hallon liegt auf einem Hügel, der zu allen Seiten tief abfällt, ein wenig wie ein großes, allerdings vollkommen durchlöchertes Ei.
Und dort, im dunkelblauen Zwielicht, huschen nicht nur Korallenfische und Haie umher, sondern auch Graumeerer wie Siwa. Die Stadt an der Oberfläche ist nämlich nur ein Teil des Lebens hier. Unter den Wogen gibt es ebenso große, wenn nicht sogar größere Städte aus Seetang, Stein, Korallen und Schildkrötenpanzern, verziert mit Muscheln und Krebsscheren. Die Stadt von Hallon befindet sich auf tausenden Ebenen und ist die größte Siedlung im Graumeer, nach allem, was du von Siwa erfahren hast.
In ihrem Herzen, irgendwo in diesem durchlöcherten Berg, ruht der Selenit.
Siwa Ekana kehrt von einer Erkundungstour zurück. „Die Luft hier oben ist rein“, erklärt er euch. „Wir können gleich einen der Eingänge nutzen – aber denkt daran, ihr müsst nach oben zurückkehren, bevor es dunkel wird. Nachts gehen alle in den Berg, dann werdet ihr euch nicht verstecken können.“
Ihr nickt schweigend. Worte kosten wertvolle Atemluft.
„Können wir die Hauptstraße nehmen?“, fragt Arthrax. Er deutet auf einen breiten Tunnel, der scheinbar schnurgerade in den Berg führt. „Die wird uns doch direkt zu unserem Ziel führen.“
„Dort sind aber vermutlich auch mehr Graumeerer unterwegs. Fremdlinge mit Pikuns fallen auf“, widerspricht Siwa. „An der Oberfläche konntet ihr zwischen den normalen Reisenden untertauchen, aber hier ist das riskanter. Zwar sind die meisten jetzt bereits draußen, die Seetangernter und Fischzüchter und Korallenpfleger, aber …“
„Was wäre die Alternative?“, fragt Allyster. „Ein kleinerer Tunnel?“
„Es gibt ein Labyrinth verlassener Tunnel weiter unten. Dort ist selten jemand unterwegs, sodass wir ungestört schwimmen könnten. Aber … es gibt keine Karte des Gebiets. Wir müssten etwas suchen, bis wir den richtigen Weg haben. Und es gibt einige gefährliche Tunnel, auf die wir achtgeben müssen, wo die Strömungen tödlich werden.“
„Na wunderbar“, murmelt Allyster. „Die Wahl zwischen Feuer und Gift.“
„Wir könnten auch direkt durch die Siedlungen schwimmen, etwas abseits der Hauptstraße“, schlägt Siwa vor. „Dort kenne ich mich besser aus, aber dort könnten uns auch wieder eher Graumeerer begegnen. Und in dem Fall würde ich euch dort allein lassen. Ich kann nicht riskieren, dass man mich mit euch sieht. Mein Ruf steht auf dem Spiel! Auf der Hauptstraße kann ich wenigstens so tun, als hätte ich nichts mit euch zu schaffen, aber in dem Gebiet müssten wir enger zusammenbleiben.“
Keine dieser Möglichkeiten klingt besonders gut. Du siehst zu deinen Gefährten, die ebenfalls grübeln. Doch ihr werdet euch entscheiden müssen, noch dazu bald – ihr habt nicht ewig Zeit!
Du stimmst für …
- … die Hauptstraße. Lies weiter in Kapitel 17.
[https://belletristica.com/de/chapters/339395/edit]
- … das Labyrinth. Lies weiter in Kapitel 18.
[https://belletristica.com/de/chapters/339397/edit]
- … die Wohnsiedlung. Lies weiter in Kapitel 19.