Du bist Allyster der Sehende.
Der Wind jagt heulend über die Gipfel über euch und schüttelt die düsteren Tannen, zwischen deren Stämmen bereits die Nacht Einzug gehalten hat. Zu beiden Seiten laufen Flüsse unermüdlich über den Berghang, euer Pfad windet sich in Serpentinen über den etwa eine Meile breiten Streifen zwischen den nächsten großen Strömen, die sich teilweise in Wasserfällen über Geröllhalden werfen.
Du wirfst einen besorgten Blick zu dem Fohlen. Das junge Pferd hält euer Tempo gut mit, du hattest Anderes befürchtet. Doch nun zittert das Fohlen sichtbar.
Seit einigen Tagen seid ihr im Vorgebirge. Die Nächte werden kälter, je höher ihr hinaufsteigt. Noch immer jedoch ragen die Berge vor euch in den nun abenddunklen, violetten Himmel. Mächtige Felsen, die Gipfel gekrönt von Wolken.
Die Straße, die Karja ausgewählt hat, ist ein Nebenzugang zu Flutheim. Die Hauptstraße wird von zu vielen Reisenden genutzt, dort würdet ihr auffallen. Dieser Weg ist steiler. Abgelegen und verlassen führt er durch die karge Wildnis um Flutheim herum, zu einem engen Pass. Der Weg ist laut Karja sicher – ganz anders als einige Straßen, die häufig von Lawinen getroffen werden – aber er liegt auf der Seite zum Wald der Dunkelelfen, mit denen die Krieger von Flutheim nichts zu tun haben.
Entsprechend ist euer Pfad nahezu überwuchert. Windzerpflückte Kiefern haben ihre Wurzeln quer über den erdigen Weg gesandt. Teilweise ist da nur die schiefe Linie der Grenzsteine, die euch durch dürre Wiesen oder über graubraunes Land führt. Die Steinblöcke umrandeten einst die Straße, doch mit der Zeit haben Regen und Erosion die klaren Linien aufgelöst.
„Wir sollten Rast machen“, rufst du deinen Gefährten nun zu. Du möchtest nicht, dass das Fohlen erfrieren.
„Noch nicht“, widerspricht Karja jedoch. „Die Flammen würde man meilenweit sehen. Wir brauchen einen geschützteren Ort.“
Du seufzt und nickst. Sie hat recht. „Dann sollten wir eine Weile traben, um warm zu bleiben.“
Dagegen spricht sich niemand aus. Ihr beschleunigt noch einmal. Obwohl die Pferde und Karjas Esel müde sein müssen, gehorchen sie. Schließlich findet ihr eine Senke, wo ihr vor dem Wind und unfreundlichen Blicken geschützt seid. Es ist eine Einkerbung in der Seite des Berges, die hinter einen Felswall taucht. In der Mitte des kleinen Tales sind Schmelz- und Regenwasser zu einer tiefen, dreckigen Pfütze zusammengelaufen. Am aufgeweichten Rand dieses Sees sucht ihr eine trockene Stelle und holt Feuerholz aus den Satteltaschen. Als die Flammen endlich Nahrung finden und das erste Flackern sich in gesetztes Feuer wandelt, wird es auch endlich warm. Ihr reibt die Pferde und den Esel sorgsam trocken, ehe ihr überhaupt daran denkt, euer Abendessen zu braten.
Du nimmst den Selenit hervor. Nachdenklich drehst du den Stein in deinen Händen, während Elred und Karja belanglose Kommentare zu Fleisch und Brot abgeben. Das Brot zu rösten, war Karjas Vorschlag. Den Hasen, den dieses komplementiert, hat Elred in den Wäldern gefangen. Es ist eine recht schlichte Mahlzeit, da ihr euch eure Vorräte gut einteilt. Doch keiner von euch hat hohe Ansprüche.
Dennoch konzentrierst du dich auf den Selenit. Der helle Stein fühlt sich unter deinen Fingern warm an, wärmer als sonst. Als wollte er dir unbedingt etwas sagen.
Du schließt die Augen. Die Vision lässt nicht lange auf sich warten. Schon blitzen Eindrücke unter deinen Lidern auf.
Häuser mit Reeddächern. Düstere Wälder. Eine Küste, ein Meer umringt von Bergen, die wie die Zacken von Haizähnen aussehen. Menschen in wilder Pelzkleidung, mit Schwertern und Bögen und mehr, auf einem Platz vor einer niedrigen Reedhütte. Sie kommen auf dich zu, Blut spritzt, dann siehst du sie am Boden liegen, ehe das Bild wechselt.
Graue Steine in einem Tannenwald. Schatten mit glühenden Augen huschen durch das Buschwerk. Etwas Großes, Gehörntes nähert sich und der Boden bebt. Dann wird alles schwarz.
Als nächstes siehst du Karja auf einer Art kleiner Bühne knien, über den Köpfen einer tobenden Menge, den Oberkörper frei, die Arme zu beiden Seiten an hohe Pfähle gebunden. Das ist alles, was sie noch aufrecht hält, denn sie windet sich in Schmerzen, während ein dir fremder Mann sich mit einem Messer über ihren Rücken beugt. Was er da schneidet, kannst du nicht sehen. Das willst du aber auch nicht.
Vor Karja auf dem Boden liegen Gold und saubere Klingen verteilt. Du runzelst die Stirn, verwirrt, warum der Selenit dir das zeigt, als auch schon alles schwarz wird.
Du siehst Elred durch einen Wald rennen. Er ist allein und er wird verfolgt. Du kannst nicht sehen, was hinter ihm naht, du weißt nur, dass es Unheil bedeutet.
Blaue Flammen schlagen hoch und lassen Elreds Gestalt vor dir verschwimmen. Du streckst die Hand aus, willst rufen …
… und blinzelst verwirrt in das Lagerfeuer und die besorgten Gesichter deiner Gefährten.
„Geht es dir gut?“, hakt Karja nach.
Du rückst deine Roben zurecht. „Ja … Entschuldigt.“ Den Selenit verstaust du wieder unter dem Hemd, was deinen Freunden nicht entgeht.
„Vielleicht solltest du nicht immer mit dem Stein herumspielen“, schlägt Elred vor.
Du nickst. „Womöglich wäre das besser …“ Doch du hast wenig zu tun. Sonst hast du dich während der Rast immer mit Aji zusammengesetzt, um zu lernen. Alle anderen hatten in ihren Gruppen ihre Aufgaben, die sie auch jetzt wieder erfüllen. Elred und Karja sind, da sie Brenna so lange transportiert haben, ein eingespieltes Team. Da kommst du dir vor wie ein fünftes Wagenrad, das zum Fahren nicht benötigt wird und sich eher querstellt und stört, falls es den Boden mal berührt.
°°°
Den Pass überquert ihr zwei Tage später, etwas nach dem Mittag. Inzwischen ist eure Umgebung noch kälter geworden, doch nun geht es wieder tiefer. Vor euch liegen die äußeren Ausläufer eines riesigen Tales. Das Ende könnt ihr nicht einmal erahnen, nur die Berge zu beiden Seiten, eine hohe Reihe wie Zähne in einem Kiefer, die den Rand dieses Teils des Tals bilden.
Dazwischen erstreckt sich hügeliges Land mit düsteren Tannenwäldern und offeneren Weiden, ein Flickwerk aus Wildnis und erobertem Acker, dazwischen wie einzelne Perlen Hütten und Höfe. Die meisten erkennt ihr nur an den dünnen Rauchwolken, die sich Fingern gleich zum Himmel strecken und vom Wind zerrissen werden, ehe sie ihn erreichen können.
Die Straße führt auf einen solchen Hof zu, eine eher ärmliche Hütte mit dunklem Reeddach, das die Wände zu erdrücken scheint, die nur etwa zur Hälfte unter dem dichten Dach hervorsehen. Auch hier steigt Rauch aus dem Schornstein auf, und Hühner laufen um die Hütte herum.
Ein Wald liegt auf der einen Seite der Straße, zur anderen Seite Felder. Noch hinter der Hütte – die einige Meilen entfernt liegt – könnt ihr von eurer erhöhten Position aus ein graues Meer erahnen, eine spiegelnde Fläche mitten im hohen Gebirgsland, von der wohl auch viele der Flüsse und Wasserfälle stammen, die ihr auf dem Hinweg gesehen habt und deren Lauf sie irgendwann unter die Erde führte.
Am Ufer des Meeres befindet sich ein dunklerer Fleck. Eine ferne Stadt, so weit, dass ihr sie kaum erahnen könnt. Flutheim – das Ziel eurer Reise.
Du siehst zu Karja und Elred zurück. „Das sind vielleicht noch drei Tage Reise.“
„Eher mehr“, wirft Karja ein. „In diesem Landstrich wird es vor Flutheimern zu so wimmeln. Lasst euch nicht täuschen, weil alles so karg aussieht. Die Wikinger verlassen ihr Tal nicht. Draußen war unser Weg einfach, aber hier wird es gefährlicher.“
„Einfach“, wiederholt Elred ungläubig. „Der Gebirgsweg soll einfach gewesen sein?“
Du kannst ihn verstehen – ihr hattet einige sehr steile Streckenabschnitte, musstet teilweise durch das Wasser waten, wobei du das Fohlen mit einem Strick um den Bauch gesichert hattest, falls es abgetrieben wird. Man könnte es lächerlich nennen, wie sehr du dich um das Fohlen kümmerst. Elred hat sogar schon gestichelt, dass du einen neuen Lehrling hättest, weshalb das momentan der Name des jungen Pferdes ist.
Lehrling.
Doch du möchtest schlichtweg nicht, dass es stirbt. Hättest du es irgendwo in Sicherheit zurücklassen können, hättest du es getan, aber es muss bei seiner Mutter bleiben.
Immerhin hat sich Lehrling als guter Schwimmer erwiesen. So seid ihr gut bis zum Pass gekommen.
„Ab hier wird es anders schwierig“, korrigiert sich Karja. „Um ehrlich zu sein, ich weiß nicht, wie wir da durchkommen sollen. Um Flutheim herum gibt es hunderte Wikinger.“
„Andererseits erstrecken sich die Wälder bis an die Seite der Stadt“, wirft Elred ein.
Karja sieht ihn überrascht an. „Woher weißt du das?“
„Ich … sehe es.“ Einen Moment ist der Elf verdutzt, dann grinst er. „Ich könnte beinahe die Hütten in Flutheim zählen!“
Du schüttelst augenrollend den Kopf. „Angeber.“
„Hey, das ist jetzt unser Vorteil! Wir könnten in der Deckung der Wälder bleiben. Solange wir vorsichtig damit sein, wo wir unser Feuer entzünden, könnte das klappen!“
„Vergiss nicht, dass es hier wilde Tiere gibt“, widerspricht Karja jedoch. „Wenn wir zu tief hinein gehen – und sehr tief müssten wir nicht gehen – werden sie uns fressen!“
„Tiere lassen sich verjagen oder töten. Hast du einen anderen Plan?“
Tatsächlich nickt die Piratin. „Wir verkleiden uns. Als Wikinger.“
Elred seufzt schwer. „Schon wieder verkleiden … ich dachte, wo Arthrax nicht dabei ist, bliebe mir das erspart.“
Karja grinst zur Antwort. „Ich weiß viel über die Flutheimer. Solange wir aufpassen, können wir damit durchkommen. Immerhin sind sie zahlreich – was heißt, dass sie einander nicht alle kennen können, besonders in der Stadt nicht.“
Unschlüssig zuckt Elred mit den Schultern. Karja macht auch keine Anstalten, ihren Plan zu vertiefen. Sie wirken beide nicht entschlossen, weder in der einen noch der anderen Richtung. Also sehen sie dich fragend an.
Auch du bist noch nicht bereit, eine Entscheidung zu treffen. Um eine Verkleidung zu holen, müsstet ihr vermutlich zu der Hütte, doch du weißt nicht, wie viele Leute dort sind. Das willst du herausfinden, bevor du dich endgültig entscheidest. Und es kann auch nicht schaden, dir die Wälder einmal genauer anzusehen.
„Reiten wir erst einmal ein Stück“, schlägst du deshalb vor. Dann tastest du nach der Kette um deinen Hals. Der Visionsstein könnte dir helfen. Aber ist jetzt der richtige Moment?
Du beschließt …
- … den Selenit zu befragen. Lies weiter in Kapitel 2.
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- … den Selenit versteckt zu lassen. Lies weiter in Kapitel 3.