Du bist Allyster der Sehende.
„Ich hoffe, ihr habt bereits ein Versteck im Auge“, brummst du.
Elred nickt zu eurer Überraschung.
„Es gibt nur eine kleine Klappe zum Dachboden des Ziegenstalls. Weder von drinnen noch von außen sieht man, dass dort ein Raum ist. Er muss flach sein und sicherlich staubig, aber ich habe die Klappe an der Rückseite gesehen.“
„Das könnte funktionieren.“ Du nickst und bedeutest ihm, vor zu gehen. Elred führt euch zur rückwärtigen Seite des Stalles.
Die Klappe liegt anderthalb Manneshöhen über dem Boden, und sie ist wirklich unauffällig in die Struktur der Balken eingebaut. Nachdem Karja Elred eine Räuberleiter gemacht hat, kann er die Klappe öffnen und hineinsteigen.
Als nächstes steigst du auf die Hände der Piratin, dann auf ihre Schultern, womit du bereits mit dem Oberkörper in dem Kriechraum bist. Du robbst neben Elred, der sich umständlich gedreht hat, um Karja hinaufzuziehen.
Ein letztes Mal siehst du zum Wald, ehe sie die Klappe hinter sich zuzieht. Eure Pferde sind von hier aus nicht zu sehen. Hoffentlich werden die Steuereintreiber sie nicht finden!
Ihr liegt noch nicht besonders lange zwischen Staub und Spinnweben, da hört ihr Schritte auf dem Kiesweg, dann auf dem erdigen Hof. Es gibt einige Ritzen im Holz des Stalles, durch die die Geräusche viel zu laut zu euch getragen werden. Ihr werdet richtig leise sein müssen, wenn sie euch nicht entdecken sollen!
Du hörst, wie einer gegen die Tür des Hauses hämmert.
„Aufmachen!“, ruft er in der Gemeinsprache. „Wir wissen, dass ihr da seid!“
Als alles still bleibt, wendet die gleiche Stimme sich an den Rest der Gruppe, allerdings verstehst du die Worte nicht mehr. Es klingt für dich wie ein Soldat, der seinem Hauptmann Meldung macht. Dieser antwortet, für dich ebenfalls unverständlich, in einem merkwürdigen Tonfall zwischen Resignation und Belustigung.
Du errätst, dass die Steuereintreiber nicht zum ersten Mal hier sind. Dass die Familie sich vor ihnen versteckt, hätten sie eventuell nicht erwartet – so liest du den Tonfall desjenigen, der geklopft hatte – aber es überrascht sie nicht sehr. Sie rechnen nicht damit, dass es den Bauern fiel helfen wird. Aus dem Tonfall des Anführers liest du Mitleid und Enttäuschung.
Wenn sie wüssten, dass die Familie ihnen durchaus entgegengetreten wäre!
Als immer noch niemand reagiert, gibt der, den du für den Anführer hältst, einen Befehl: „Sucht alles ab! Wenn sie sich wieder verstecken, finden wir sie.“
Du hältst erschrocken die Luft an. Elreds und Karjas Blicke huschen im düsteren Zwielicht zu dir. Ein Streifen Licht fällt auf Elreds blasses Gesicht. Die neue Fellmütze rutscht Karja immer wieder in die Stirn.
Ihr harrt aus, während sich die Schritte überall verteilen. Es knirscht und stapft auf allen Seiten des Stalles. Ihr hört Türen knarzen, das Klappern hölzerner Schrankwände.
„Niemand“, ruft ein Steuereintreiber.
„Hier auch nicht!“, brüllt einer, der direkt unter euch im Stall war. Ihr zuckt alle zusammen, weil ihr ihn vorher gar nicht gehört habt.
„He, hier ist eine Klappe!“, ruft dann jemand vom Eingang.
Ihr wechselt einen weiteren angespannten Blick. Elred zieht, auf der Seite liegend, sein Jagdmesser. Du rollst dich auf den Rücken, um die Hände für Zauber frei zu haben. Wenn sie euch wirklich entdecken, könnt ihr euch hoffentlich eine Weile verteidigen, da es nur einen schmalen Eingang ist. Aber diese Leute brauchen nur ein Feuer zu legen, dann ist es um euch geschehen.
Schritte nähern sich der Stallseite mit dem Eingang.
„Nein, so dumm sind sie nicht, dass sie sich wieder da verstecken“, urteilt schließlich der Anführer. Er hebt die Stimme allerdings noch einmal. „Nehmt die Ziegen, alle. Und was immer ihr tragen könnt vom Hausrat. Wenn sie nicht hier sind, müssen wir uns eben selbst nehmen, was sie uns schulden! Nehmt alles. Decken, Essen, Gerät!“
Vielleicht hofft er, die Bauernfamilie so aus ihrem Versteck zu treiben. Ihr rührt euch selbstverständlich nicht. Die Ziegen sind euch egal – für sie ist es vielleicht auch ein besseres Schicksal, aus dem Stall befreit zu werden. Die Stille überzeugt den Anführer der Steuereintreiber aber wohl auch, dass niemand im Dachgeschoss des Stalles hockt.
Wofür dieser Raum gedacht ist, ist dir übrigens ein Rätsel. Hier gibt es nur Staub und Spinnweben. Nicht einmal leere Säcke, Arbeitsgeräte oder etwas ähnliches wird hier oben gelagert. Ein verschenkter Raum, der im Winter aber vermutlich etwas Dämmung zwischen den Ziegen und der eisigen Schneedecke auf dem Dach bietet.
Du rückst vorsichtig in eine bequemere Position, während die Flutheimer unter euch beginnen, alles zu plündern. Ihr werdet wohl eine Weile hier sein …
°°°
Schließlich ziehen die Steuereintreiber endlich ab. Sie treiben die gesamte Herde der Ziegen mit sich. Viele von ihnen schleppen Säcke mit gestohlenem Hausrat, sogar Möbel mit sich.
Als es still wird und ihr aus dem Dachboden klettert, ist es bereits Nacht. Der Hof sieht nun ziemlich geplündert aus. Das Wohnhaus wirkt kahl und leer. Schränke und das Bett wurden umgeworfen, vermutlich, weil die Steuereintreiber nach Verstecken gesucht haben. Im Hof ist die Erde an mehreren Stellen umgegraben. Nur eure eigene Grabung hinter dem Stall haben sie nicht entdeckt. Dort hat niemand nachgesehen, sodass ihr auch eure Pferde im Wald wiederfindet.
Ihr holt sie in den Stall, wo sie das letzte Ziegenfutter essen können. Mit dem Schwinden der Sonne ist es kalt geworden, sodass dir wohler damit ist, wenn Lehrling im Stall geschützt steht.
Ihr werdet heute nicht mehr weiterreisen. Also macht ihr das Bett zurecht und genießt eine Nacht auf einer Matratze – auch wenn es eine billige Matratze ist und das Haus nur ein einziges Bett besitzt.
Es ist ein merkwürdiges Gefühl, in der leeren Hütte zu schlafen, mit dem Wissen, dass ihr die ehemaligen Besitzer getötet habt. Doch eine Nacht in einem Haus ist eine Nacht in einem Haus – und ihr nehmt, was ihr kriegen könnt.
Am nächsten Morgen sattelt ihr die Pferde und reitet los. Langsam und mit gehörigem Abstand folgt ihr den Steuereintreibern.
Ihre Spur ist leicht zu verfolgen. Quer durch das Tal führt sie euch auf Straßen, die sich von kiesiger Erde zu Kopfsteinpflaster wandeln, gen Flutheim. Die Stadt an der Küste des hochgelegenen Sturmmeers liegt umringt von dichten Koniferen-Wäldern. Nur vereinzelte Siedlungen umgeben die Stadt, weiter außerhalb sind die Dörfer wesentlich größer. Als würden alle, die ohnehin in der Nähe der Stadt sind, auch gleich nach Flutheim ziehen und nur jene, die zu weit entfernt wohnten, haben ihre Häuser dort behalten.
Entsprechend erstreckt sich die chaotische Siedlung über gut zwanzig große Hügel am Ufer des Meeres, welches, wie ihr euch erinnern müsst, bereits einige Meilen über der Hochebene des Sonnenlandes liegt. Das Sturmmeer ist aufgewühlt, finster und grau, selbst die Gischt wirkt irgendwie zu scharf, zu kontrastiv mit den schwarzen Wogen.
Viele Hütten mit Reeddächern bilden die Siedlung von Flutheim. Hier und da gibt es hölzerne Palisaden, die die Grenzen kleinerer Dörfer erahnen lassen, welche sich zu der größeren Stadt zusammengeschlossen haben. Dazwischen wimmelt alles von den Flutheimern, großen, bleichen Menschen mit blondem Haar, in der Pelzkleidung, die auch ihr euch gestohlen habt.
Deine dunkle Haut sticht da hervor, andererseits gibt es hier aber sehr viele Leute und wie Karja sagte akzeptieren die Flutheimer auch Fremde in ihren Reihen, solange sie sich an ihre Gesetze halten. Ihr seht einige Menschen anderer Hautfarbe, auch Kalynorer mit dunkler Haut, sowie andere Jenseitsvölker in den Riegen der Wikinger. Orks, Dunkelelfen, alles Mögliche. Somit erntest du zwar auf den Straßen nach Flutheim neugierige Blicke, aber als ihr euch den Toren nähert, nimmt das Interesse an euch spürbar ab.
„Karja“, murmelst du nach einer Weile gedämpft. „Diese Wachen, werden sie uns durchlassen?“
Am Tor stehen mehrere Krieger, die viele Reisende aus der Menge herauswinken und kontrollieren.
Die Piratin entgegnet deinen Blick angespannt. „Ich hatte immer gehört, Flutheim wäre eine offene Siedlung.“
Den Eindruck geben auch die Palisaden, die viele, riesige Lücken aufweisen. Aber nun merkst du, dass diese Lücken gefüllt wurden. Teilweise mit niedrigen Steinmauern, teilweise mit Barrikaden aus Karren, teilweise mit Wachen.
„Sie haben die Sicherheitsvorkehrungen verschärft!“, stellt Elred entgeistert fest.
„Seht es positiv“, versucht Karja vergeblich, euch aufzuheitern. „Wir wissen jetzt definitiv, dass der Schöpferstein hier ist.“
Du ziehst die Mundwinkel nach unten. Natürlich muss alles immer kompliziert werden!
Herzlichen Glückwunsch!
Dies ist das Canon-Ende von Allysters Part.
Lies weiter bei Kapitel 17.