Du bist Karja Sturmvogel.
Da ihr bereits in der Schlange steht, die sich dem Tor nähert, könnt ihr nicht einfach umkehren. Du bist dir allerdings sicher, dass ihr nicht durch die Kontrollen kommen werdet. Die Wachen winken vor allem Fremde heraus, von denen es hier einige gibt. Allyster mit seiner dunklen Haut oder bloß Elred mit den engen, katzenartigen Augen werden ihnen sofort auffallen.
Du siehst dich besorgt um. Irgendwie müsst ihr aus der Schlange heraus, aber ihr dürft euch dabei nicht zu plump anstellen. Das würde die Wachen erst recht auf euch aufmerksam machen.
Um ehrlich zu sein, hast du Sorge, dass ihr bereits jetzt auffallt. Auch Elred und Allyster sehen sich nach einem Fluchtweg um. Eure Unruhe kann eigentlich nicht unbemerkt bleiben. Ein eindeutigeres Schuldgeständnis können sich die Wikinger gar nicht wünschen!
„Bleibt ruhig!“, zischst du den Kalynorern zu, obwohl du selbst die Panik aufsteigen spürst. „Wir müssen uns etwas überlegen, und bis dahin …“
Weiter kommst du nicht. Die Qual der Wahl wird dir abgenommen, als ein Junge dich anrempelt, der sich durch die Schlange wühlt. Bis eben hast du ihn gar nicht bemerkt, aber da er aus der Richtung deiner Gefährten kam, wirst du stutzig. Ein Instinkt, der sich in den großen Städten der Mondsee eingenistet hat, erwacht.
„Hey!“, brüllst du, als du den Geldbeutel im Griff des Jungens erkennst. Der gehört Elred – und er ist voll mit kalynorischer Währung, die euch hier den Kopf kosten könnte. „Stehenbleiben!“
Ihr stürmt dem Dieb nach, der zwischen den einzelnen Hütten abtauchen will, die sich vor der Stadt erheben. Hier draußen liegen die Behausungen von Jägern, Viehzüchtern und ähnlichen Berufsgruppen, die die Nähe zur Wildnis oder mehr Platz brauchen.
Der Junge ist ein Profi. Er wetzt direkt in die engsten Gassen, immerhin hat er bemerkt, dass ihr Pferde habt. Die Wachen rufen ihm wütend nach, also stiehlt er hier vermutlich häufiger.
Womit er nicht gerechnet hat, ist, dass ihr euch aufteilt. Während du ihm mit dem Esel auf direktem Weg folgst, reiten Elred und Allyster zu deinen Seiten an die Flanken des kleinen Hüttenhaufens. Ihr sprecht euch nicht ab. Du jagst dem Jungen nach, der über mehrere Zäune springt, wo du ihm nicht mehr folgen kannst. Dann allerdings hörst du Elreds Ruf.
„Hier! Norden!“
Also treibst du den Esel wieder aus den Gassen heraus und auf die offenen Weiden, wo Coritas dem Dieb bereits dicht auf den Fersen ist. Allyster erscheint hinter dir. Da er zwischen dieser winzigen Siedlung und der Stadt war, muss er erst einmal um die Hütten herumkommen.
Elred zügelt Coritas etwas, sodass ihr aufschließen könnt. Bis dahin hat der Dieb den nächsten Wald beinahe erreicht. Ihr treibt die Pferde wieder an, taucht zwischen die Stämme und umringt den Jungen wenig später in der Deckung der Tannen, außer Sicht für die Wachen.
Die Pferde traben im Kreis, dicht hintereinander. Nur das Fohlen stört etwas, das an Melréds äußerer Flanke läuft und die Stute nach innen drängt. Der Dieb weicht ihr nervös aus, doch er kann auch nicht ausbrechen.
„Fein!“, brüllt der Junge trotzig. Er kann kaum sieben sein, eher noch etwas jünger als Aji. „Hier habt ihr es wieder!“ Er schmeißt den Münzbeutel auf die Erde, sodass dieser sich öffnet und die Goldstücke im Dreck verteilt.
Allerdings ging es euch nicht um das Geld. Davon werdet ihr alle mehr als genug haben, wenn das hier vorbei ist!
Im Rücken des Jungen springst du mit einer eleganten Bewegung vom Esel und packst das Kind. Du drehst seinen Arm auf den Rücken und überstreckst diesen, sodass der Junge sich nicht mehr wehren kann.
Allyster bringt die Pferde ein Stück zur Seite. Elred wirft ihm einen Blick zu und verzieht das Gesicht, ehe er sich in den Dreck kniet und die Münzen einsammelt. Die Aufgabe hätte er wohl lieber dem Zauberer überlassen.
„Lass mich los! Aua!“, schreit der Junge in deinem Griff. Er zappelt, allerdings lässt ihm der Schmerz in seiner Schulter nicht viele Möglichkeiten, sich zu bewegen.
„Beruhige dich“, sagt Allyster ruhig. „Wir wollen dir nichts tun. Im Gegenteil, du hast uns sogar geholfen.“
Das Kind erstarrt und sieht den Zauberer mit finsterem Misstrauen an. „Ihr wollt nicht von den Wachen gesehen werden! Ich hab’s gemerkt! Ihr könnt mir Geld geben, weil ich euch geholfen habe.“
Du lachst auf. „Der Bursche weiß, wie man ein Geschäft macht.“
„Ohne mich würdet ihr noch da stehen und hättet echt Ärger!“
Das hat der Kleine richtig erkannt, weshalb er euch auch sicherlich als Opfer ausgewählt hat. Er weiß, dass ihr die Wachen nicht informieren werdet. Der Junge besitzt sogar die Dreistigkeit, die freie Hand fordernd auszustrecken.
„Ich finde auch, dass er dafür belohnt werden sollte“, brummt Elred. „Mit einem schnellen Tod!“
„Nein!“, zischt Allyster scharf. Dann tritt er vor und kniet sich vor den Jungen. „Du bist ein kluger Kopf. Wie nennt man dich hier?“
„Dieb, Langfinger, Taugenichts.“ Der Bursche legt den Kopf schief. „Falls ihr meinen Namen wissen wollt, nein, danke! Ich weiß von Hexen, die nur den Namen zu kennen brauchen, um dich in einen Teekessel zu verwandeln.“
„Das ist ein Märchen.“ Allyster lächelt sanft. „Aber wir können Langfinger nehmen, wenn dir das lieber ist.“
Du hast dich immer gefragt, wieso der junge Aji ausgerechnet diesem Magier am Rockzipfel hängt, aber du kanntest Allyster auch nie so. Er kann echt gut mit Kindern!
Der neugetaufte Langfinger nickt zögerlich. „Ich nehm‘ jeden Namen, wenn etwas für mich rausspringt.“
„Du kannst dir sogar diesen ganzen Beutel verdienen.“ Allyster deutet auf das Geld, was Elred noch einsammelt. Der Elf ist fast fertig.
Langfingers Widerstand gegen deinen Griff erlahmt. Mit so einem Angebot hätte er nicht gerechnet.
„Ich … mach alles, Sir“, sagt er mit unsicherer Stimme.
„Gut.“ Allyster stemmt sich hoch und wischt Dreck von seinen Roben. „Denn du wirst uns in die Stadt bringen müssen.“
„Rein?!“, fragt Langfinger entsetzt. „Aber …“
„Spiel mir nichts vor, Bürschchen. Ich kann dir ansehen, dass du nicht im Wald übernachtest. Ein Dieb wie du hat seine Wege in die Stadt, egal, wie gut sie abgeriegelt ist. Lügen hat keinen Zweck.“
„Das ist unmöglich! Drinnen gibt es überall Wachen.“ Langfinger zappelt wieder. „Hört mal, ich … ich brauche das Geld gar nicht. Lasst mich los, ich sag einfach keinem was. Ihr wisst, dass ich nicht zu den Wachen kann.“
Allyster muss das kurze Zögern bemerkt haben. „Weißt du überhaupt, wie viel Geld das ist, Junge? Davon könntest du dir ein eigenes Haus kaufen und noch Jahre vom Rest leben. Du müsstest nicht mehr stehlen.“
Der Junge erstarrt. Du kannst zwar nur seinen blonden Hinterkopf sehen, doch du spürst, wie sehr er mit sich ringt.
Schließlich richtet Allyster sich auf, nachdem er sich wieder ein Stück zu dem Kind heruntergebeugt hatte, und nickt dir zu. „Lass ihn los.“
Zögerlich lockerst du deinen Griff. Langfinger reißt sich los, doch entgegen deiner Befürchtungen unternimmt er keinen Fluchtversuch. Stattdessen massiert er sich die Schulter.
„Also gut“, brummt er. „Aber ihr macht genau, was ich sag‘!“
Du musterst das Kind. Langfinger ist zwar in Ajis Alter, aber dennoch ganz anders. Erst einmal ist er kleiner, richtig abgemagert, seine eingefallenen Wangen tragen die Spuren langen Hungers. Sein Haar ist wirr und ungekämmt, nur schlecht geflochten. Das hat er sicherlich mal selbst gemacht. Seine Kleidung entspricht der der Flutheimer, mit Leder und Pelzen, allerdings wirkt seine viel mehr zusammengeflickt, als hätte er abgerissene Stücke zusammengenäht. Vielleicht hat er das genau so getan.
Er sind auch von einigen Narben gezeichnet, die das harte Leben auf der Straße verraten. Der kleine Finger fehlt ihm – soweit du weißt, eine Strafe für Diebe, wenngleich meist gleich die ganze Hand abgeschlagen wird. Unter dem Auge setzt sich eine lange Narbe an, eine weitere am Kinn zeugt von einem Sturz.
Der Junge ist ein reiner Flutländer, blass, blond, mit blauen Augen, die jedoch einen harten Ausdruck tragen. Er guckt wie ein viel älterer Mann. Das Leben war nicht sehr freundlich zu ihm.
Er streckt die Hand nach dem Beutel aus. „Und ich brauche eine Anzahlung.“
Er ist klug – das muss du ihm lassen. Wäre er nicht eine potentielle Gefahr, wäre er dir wirklich sympathisch.
Elred schließt die Finger fester um den nun gefüllten Beutel. Kein Wunder – die kalynorischen Münzen wird auch dieses Kind sicherlich erkennen. Auf jeden Fall wird er merken, dass es keine Jarlskronen sind.
Ihr tauscht stumme Blicke, in denen genau diese Frage steht. Was sollt ihr tun? Wenn ihr dem Kind einige Münzen in die Hand drückt und es diese erkennt, wird er die Wachen womöglich verständigen. Das Kopfgeld auf euch ist jedenfalls sehr viel mehr Geld als alles, was ihr anbieten könntet. Und er mag zwar ein Dieb sein, aber das macht ihn noch nicht zu einem Landesverräter. Irgendwo wird er vielleicht die Grenze ziehen.
Wenn ihr nicht zahlt, wird er euch vielleicht aber auch nicht helfen. Die einzige andere Möglichkeit wäre, ihm gleich so viel Gold zu geben, dass ihr euch seine Treue erkauft. Genug Geld, um ihn zu eurem Söldner zu machen.
Würde das funktionieren?
Du stimmst dich mit Blicken ab und ihr entscheidet …
- … dem Jungen die Hälfte zu geben. Lies weiter in Kapitel 18.
[https://belletristica.com/de/chapters/343594/edit]
- … dem Jungen die gewünschte Anzahlung zu geben. Lies weiter in Kapitel 19.
[https://belletristica.com/de/chapters/343595/edit]
- … dem Jungen gar nichts zu geben. Lies weiter in Kapitel 20.