Du bist Karja Sturmvogel.
Nach einem letzten Nicken ist es entschieden. Allyster ergreift den Beutel und fischt ein paar Goldstücke heraus, dann reicht er die Münzen Langfinger. Der Junge prüft sie mit einem geübten Biss. Die fremde Ikone darauf betrachtet er mit einem Stirnrunzeln. „Wie kommt ihr denn daran?“
„Sagen wir mal, dass wir unseren Lebensunterhalt nicht mit Ziegenhüten verdienen“, sagst du.
Langfinger sieht auf. „Ziegen? Dann kommt ihr aus dem Grenzgebiet. Ebenfalls ohne Krafttier?“
Was das bedeuten soll, weißt du nicht so recht. Da die Kalynorer unsicher zu dir sehen, nickst du einfach. Wenn der Junge es annimmt, ist es sicherlich die beste Erklärung.
„Was ein Mist. Ich habe die Probe immerhin noch vor mir“, erklärt er nachdenklich, während er die Münzen einsteckt. „Vielleicht erhalte ich ja das Siegel des Bären und werde ein großer Krieger!“
„Du meinst, Steuereintreiber.“ Das Siegel des Bären gehört zur Schatzkammer von Flutheim, so viel weißt du.
„Alle sagen, dass wir in den Krieg ziehen werden“, widerspricht das Kind. „Ich würde auch in die Armee gehen und ganz viele Kalynorer töten.“
„Sicher wirst du das“, murmelt Allyster.
„Ein Elchgeweih zu kriegen wäre toll. Aber ich glaube kaum, dass mein Vater ein verstoßener König war. Er war ein Säufer, müsst ihr wissen.“ Der Junge hat die Münzen eingesteckt und setzt sich in Bewegung, tiefer in den Wald hinein. Ihr folgt ihm einfach.
„Aber vielleicht erwählt mich auch der Wolf. Ich glaube, ich wäre ein guter Jäger“, plappert der Junge weiter. „Eulen wären auch gut. Aber ich will auf keinen Fall ans Meer bei der Probe, auch wenn da die Robben sind. Denn da gibt es auch den Karpfen und ich will nicht Fischer werden …“
Du reimst dir zusammen, dass die Wikinger bei dieser mysteriösen Probe, die vermutlich eine religiöse Zeremonie ist, irgendwie einem Tier zugeordnet werden – was dann offenbar über ihr gesamtes Leben entscheidet. Leute ohne ein Krafttier, wie dieser Junge vor der Probe oder ihr selbst, scheinen der niederste Stand zu sein. Was für eine merkwürdige Welt!
Außerdem hast du gelernt, dass die Steuereintreiber offenbar nur ein Teil der Bärenriege sind – die Menschen mit Bärenrunen sind Krieger. Das alles zu wissen wird euch noch nützlich sein, wenn ihr in der Stadt untertauchen müsst.
Was dich zu dem Grund bringt, aus dem ihr den Jungen überhaupt angeheuert habt.
„Also. Wie kommen wir in die Stadt?“
„Wir müssen zur Ostseite“, antwortet das Kind. „Es geht nur nachts, wenn es dunkel ist.“
„Kein Problem“, sagt Allyster.
Ihr macht die Pferde wieder bereit. Allyster nimmt den Dieb vor sich auf Melréd. So bewegt ihr euch ein Stück zur Seite. Um nach Osten zu gelangen, müsst ihr die Hauptstraße kreuzen. Hierfür schlagt ihr einen großen Bogen nach Norden, also fort von Flutheim, und bewegt euch über die Straße, als ihr in weniger dicht besiedelten Gebieten seid. Trotzdem befinden sich hier überall Reisende auf den Wegen, sodass ihr nicht verhindern könnt, dass euch einige neugierige Blicke gelten. Du weist Elred leise an, den Bogen zu spannen, damit ihr als einfache Jäger durchgehen könnt. Doch ihr fallt so oder so auf. Außer euch gibt es kaum Reiter in diesem Land, Pferde sind mit Sicherheit wertvoll. Ein weiterer Grund, warum ihr dem kleinen Dieb aufgefallen seid.
Im Schutz des Waldes, allerdings immer noch in den lichteren Gebieten, arbeitet ihr euch zurück zur Stadt vor. Ihr reist langsam, sodass sich der Abend bereits über das Land senkt, als ihr an die Reste einer alten Palisade kommt. Zu beiden Seiten stehen Wachen, die bereits Feuer entzündet haben, um sich vor der Nachtkälte zu schützen. Doch die Palisade ist lang, bestimmt eine Meile weit. Dieser Teil ist gar nicht bewacht, was jedoch kein Wunder ist. Die Begrenzung aus Tannenstämmen ist zu hoch, um hinüberzuklettern, und außerdem ist ihr Fuß von dichten Dornenranken geschützt.
„Da kommen wir nicht rüber“, stellt Elred fest.
„Nein“, sagt Langfinger. „Aber hier sind weniger Wachen. Und es gibt eine Lücke in der Palisade.“
Nachdem ihr euch in das Gebüsch geschlagen habt, seht ihr es ebenfalls. Die Dornen verbergen eine Stelle, wo die unteren Bereiche der Palisade abgefault sind. Oben setzt sich die Linie der Stämme ungebrochen fort, nur neigen sich die morschen Balken etwas. Sie werden nur noch durch die Stämme neben sich gehalten – oder, besser gesagt, durch die dichte Moosschicht, die die Balken miteinander verbindet.
Die Lücke ist groß genug, dass ihr auch die Pferde hindurchführen könnt. Das einzige Problem stellen die Dornen dar, die ihr erst einmal an die Seite drücken müsst. Langfinger schärft euch ein, dass ihr diese nicht zerstören dürft.
„Unseresgleichen braucht den Weg noch. Dass ihr hier nichts in die Erde trampelt!“
Dann seid ihr zwar zerstochen, aber auf der anderen Seite der Mauer. Ihr befindet euch in Flutheim!
„Wohin wollt ihr jetzt?“, fragt der Junge euch eifrig. „Reicht das schon?“
Allyster legt die Hand schützend auf den Beutel, dem Langfinger in diesem Moment einen hungrigen Blick zuwirft. „Nicht direkt. Wir werden etwas erledigen müssen, und danach müssen wir wieder aus der Stadt heraus. Ich denke, der Beutel ist prall genug, dass wir das von dir verlangen können.“
„Ja, ja.“ Der Junge verzieht das Gesicht. „Was müsst ihr denn erledigen?“
„Das ist unsere Sache. Glaub mir, Junge, je weniger du weißt, desto besser.“ Allyster schenkt dem Kind ein freundliches Lächeln, um die Strenge seiner Worte abzumildern.
„Fein.“ Langfinger runzelt die Stirn. „Ich schätze, das Geld isses wert. Aber ihr müsst mir sagen, was ihr braucht.“
„Zuerst ein Gasthaus, wo man wenig Fragen stellt“, sagst du nach einem kurzen Blick zu deinen Gefährten. „Und dann … was wir suchen, ist eventuell im Haus eures Jarls.“
Das ist gefährlich nah an der Wahrheit. Aber ihr wisst nicht, wo ihr mit eurer Suche beginnen sollt, wie so oft. Du vermutest, dass der Jarl den Schöpferstein bewachen wird. Und der Junge ist eure beste Chance, nah an den Herrscher von Flutheim heranzukommen.
Nun pfeift Langfinger beeindruckt durch die Zähne. „Ihr nehmt keine Gefangenen. Also gut, ich will gar nicht wissen, was ihr mit dem Clan der Elche zu schaffen habt. Aber ein Gasthaus kenne ich. Es ist sicher. Folgt mir! Zum Hafen!“
Ihr durchquert die Stadt im Schutz der Nacht. Immer wieder müsst ihr in matschigen Gassen halten und euch vor Wachen verstecken, die die Straßen patrouillieren. Ohne den Jungen als Führer hättet ihr hier keine Chance. Doch so bringt Langfinger euch problemlos an die Küste des hochgelegenen Meeres. Die Wellen rollen ruhig gegen die Felsen, auf denen sich ein windschiefes Haus erhebt. Das Gasthaus, wo Langfinger einfach durch die Tür spaziert, als wohne er hier.
Ihr folgt ihm in einen warmen Schankraum, wo einige Gäste sitzen und trinken. Ein Wirt ist jedoch nicht zu sehen.
„Zimmer sind oben“, erklärt Langfinger euch. „Sucht euch einfach irgendwo einen Platz. Ich glaube, das Essen ist schon weg und das Bier würd‘ ich an eurer Stelle nicht trinken.“
Ja, das Bier riecht wirklich schal. Da dir der Magen knurrt, bist du froh, dass ihr noch Vorräte in den Satteltaschen habt. Die Pferde bringt ihr in einen großen Nebenbau, der mit altem Stroh ausgelegt ist. Hier stehen auch Ziegen, einige andere Pferde und Rinder. Die Schlafzimmer oben sind ähnlich voll. Es gibt drei Räume, in denen sich heruntergekommene Gestalten drängen. Säufer, Kranke, Kinder – vermutlich Waisen. Du errätst, dass hier vor allem Menschen ohne Krafttiere unterkommen.
Doch es ist ein warmer Ort, wo ihr vor dem Wind geschützt seid. Mit deinen Gefährten suchst du dir einen Platz. Ihr teilt etwas Brot, ehe ihr erschöpft in Schlaf fallt.
Du schließt die Augen und träumst …
- … von der Mondsee. Lies weiter in Kapitel 21.
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- … von Brenna. (Pairing Brenna & Karja). Lies weiter in Kapitel 22.