Du bist Karja Sturmvogel.
Du träumst von Brenna. In ihren Ohren erklingt ihr Lachen, hell und klar. Als du dich umsiehst, erkennst du sie an Bord des Schiffes, das über die Wellen tanzt.
Dein Schiff, das weißt du auf jene Art, wie es nur Träumer wissen. Du bist zurück in der Mondsee, durch welchen Zauber auch immer. Du kannst die salzige Gischt schmecken und spürst den Wind in deinem Haar. Und Brenna ist an deiner Seite. In diesem Traum habt ihr den Krieg beendet und dir wurde in deiner Heimat verziehen, sodass du zurückkehren konntest. Mit Brenna. Das war genau das, was du immer wolltest.
Du trittst neben sie und ergreifst ihre Hand. Eure Finger spielen miteinander. Brenna grinst dich an und schiebt sich ein Stück Obst in den Mund – woher auch immer sie das hat. Der Wind zerzaust ihr dunkles Haar und reißt an deinem Dreispitz, den du endlich wiederhast.
Du bist Zuhause. Das Gefühl, an einem Ort zu sein, an den du wirklich gehörst, ist unbeschreiblich. Als wärst du endlich wieder ganz. Dass Brenna an deiner Seite steht, verrät dir, dass all eure Abenteuer gut ausgegangen sind. Nichts zählt, außer, mit ihr zusammen über die endlosen Wellen der Mondsee zu fahren.
Eine wunderbare Zukunft. Leider ist sie nur ein Traum und du hast auch keinen Selenit, um zu wissen, ob es jemals Wahrheit werden wird …
Als du blinzelnd zu dir kommst, hörst du die See noch immer rauschen und gluckern. Du brauchst einen Moment, um dich zu erinnern, dass du im Gasthaus an den Klippen bist, nah am Sturmmeer der Wikinger.
Seufzend schlägst du die Augen auf. Die Realität besteht aus vielen ungewaschenen Leibern, die sich auf dem Boden der schlichten Kammer zusammendrängen. Deine Gefährten liegen nicht mehr neben dir, also stehst du auf und suchst sie im Schankraum. Dort sitzen Elred und Allyster mit Langfinger an einem der hinteren Tische.
Für einen Moment fühlst du dich hier furchtbar fehl am Platz. Deine Heimat ist die Mondsee. Hier bist du eine Fremde und außerdem hast du weder mit Allyster noch mit Elred viel Zeit verbracht. Brenna, die eine Person, für die du deine Heimat verlassen hast, ist nicht hier. Das Heimweh trifft dich mit ungeahnter Wucht, einen Moment kannst du gar nicht atmen. Trauer schnürt dir die Kehle zu. Wenn es irgendeine Aussicht gäbe, alleine nach Hause zu kommen und dort Gnade zu erfahren, du wärst sofort umgekehrt.
Doch es gibt keinen Heimweg für dich, keine Rückkehr in die Mondsee. Dort giltst du als Verräterin. Also kannst du nur nach vorne gehen. In diesem Fall an den Tisch deiner Begleiter.
„Na, Prinzessin?“ Elred schiebt dir einen Bierkrug zu. „Endlich wach?“
Du schnupperst an dem Bier und verziehst das Gesicht. Das riecht kein Bisschen besser als gestern. Aber ein Krug kann nicht schaden und du hast Durst, also nimmst du einen Schluck. „Bäh.“
„Hab’s euch gesagt“, meint Langfinger schulterzuckend.
„Wir sollten unsere eigenen Vorräte allerdings sparen.“ Du trinkst noch einen Schluck. Langsam gewöhnst du dich an das bittere Gesöff. „Womit habt ihr bezahlt?“
„Jarlskronen“, antwortet Allyster und nickt zu dem kleinen Jungen. Offenbar hat der Dieb euch etwas örtliche Währung besorgt. Du hattest Angst, dass deine Gefährten kalynorisches Geld genutzt haben, auch wenn du sie eigentlich für klüger hältst.
„Also, Langfinger. Kannst du für Karja noch einmal alles zusammenfassen?“, bittet Elred, während Allyster dem Jungen den Rest von seinem Bier rüber schiebt. Dir fällt auf, dass Elred keinen Krug mehr hat – den hat er an dich abgetreten! Für eine Sekunde dachtest du, er wäre großzügig.
„Das Jarlsdorf ist nicht mehr einfach so zugänglich“, erklärt der Junge. „Sie haben die Mauern verstärkt und die Wachen verdreifacht. Und das sind Leute, die nicht bestechlich sind! Die größten Bären.“
Allyster wirft dir einen vielsagenden Blick zu. „Es muss dort sein.“
Es – der Schöpferstein. Du nickst. Diese Sicherheitsvorkehrungen könnten zwar ein Ablenkungsmanöver sein, doch so schätzt du die Flutheimer nicht ein. Sie haben eine merkwürdige Ansicht von Ehre und Moral, sie bevorzugen den offenen Kampf, ohne List und Tücke.
Sie vertrauen auf ihre Stärke. Mit gutem Grund.
„Das klingt, als kämen wir dort nur schwierig rein“, kommentierst du.
Langfinger nickt. „Eigentlich gar nicht. Es gäbe höchstens einen Weg, den sie nicht versperren können. Und das ist der Fluss, der mitten durch das Jarlsdorf zum Meer fließt.“
„Ein Fluss?“ Du bist davon ausgegangen, dass das Jarlsdorf auf einem der Hügel liegen würde. Das wäre eine bessere Verteidigungsposition für den wichtigsten Ort in Flutheim, was du auch aussprichst.
„Die Verteidigungsanlagen sind auf den Hügeln“, bestätigt Langfinger. „Aber das Langhaus des Jarls liegt im Tal dazwischen, und da ihr zu ihm wollt, müsst ihr auch dorthin. Abgesehen von dem Fluss ist das Tal relativ leer. Ich glaube, dort gibt es Weiden und Felder, damit der Jarl bei einer Belagerung nicht ausgehungert werden kann, sonst aber keine Deckung. Wenn jemand den Jarl angreift, können die Bogenschützen sie von allen Seiten beschießen und töten.“
„Ermutigende Aussichten.“
„Es kommt noch besser.“ Elred bedeutet dem Kind, fortzufahren.
„Auf dem Fluss kämt ihr rein und auch wieder raus. Ihr würdet ein Floß bauen, müsstet im Jarlsdorf abspringen und dann wieder aufspringen. Das muss schnell gehen. Und ich weiß nicht, wie viel Zeit ihr braucht.“
„Vor allem weiß ich nicht, wie sicher so ein Floß ist. Wir könnten … es … vielleicht schnell schaffen, aber was, wenn das Floß sinkt? Oder wir fallen runter?“ Du hast zu viele schlecht verarbeitete Schiffe sinken sehen. „Die Flüsse hier sind eisig und wild. Wir würden ertrinken!“
„Wir können ein Kanu stehlen“, schlägt Langfinger vor. „Irgendwo lassen die Fischer immer eines liegen.“
„Ein Kanu.“ Du verziehst das Gesicht. Die Dinger sind schmal.
„Eine andere Chance gibt es nicht. Ich glaube kaum, dass ihr euch für die Probe anmelden wollt.“
Ihr horcht gemeinschaftlich auf – davon wissen wohl auch deine Begleiter nichts.
„Heute ist der Tag der Probe!“ Langfinger sieht euch entgeistert an. „Davon wisst ihr ja wohl.“
„Und die Probanden dürfen immer noch ins Jarlsdorf?“, fragst du auf gut Glück.
„Probanden? Wenn ihr damit die Sechzehnjährigen meint?“ Langfinger nickt. „Ohne den Segen des Jarls würde ja keiner gehen.“
„Also werden heute lauter junge Leute zum Jarl vorgeführt werden, um sich der Probe zu unterziehen?“, hakst du nach. „Direkt ins Jarlsdorf?“
„Da hat sich nichts geändert.“ Der Junge sieht euch missmutig an. „Wart ihr etwa nie beim Jarl? Kein Wunder, dass eure Probe nicht geklappt hat. Ein Wunder, dass ihr überhaupt lebt.“
„Meine Eltern wollten die Reise nicht machen“, lügst du. „Vater war zu krank dafür und Mutter musste sich um ihn kümmern.“
Das scheint das Misstrauen des Jungens etwas zu besänftigen. „Nun, als Prüflinge kämt ihr bis vor den Jarl. Da ihr kein gebundenes Krafttier habt, werden sie euch vorlassen. Aber da wird es vor Wachen nur so wimmeln. Ich finde, wir sollten es vormittags machen, wenn sich alle noch vorbereiten. Mit einem Kanu oder Raft.“
Du tauschst einen Blick mit deinen Gefährten. „Mir gefällt das mit dem Kanu nicht.“
„Doch nur, weil du größere Schiffe gewohnt bist.“ Elred lächelt. „Denk mal nach. Heute … Abend?“ Er sieht zu Langfinger.
„Die Probe ist abends, ja.“ Misstrauisch sieht er euch an.
„Heute Abend rechnen sie damit, dass vielleicht jemand was versucht. Sie, ähm … haben ja bestimmt Angst vor dieser Gruppe aus Kalynor. Die würden auch während der Probe zuschlagen.“
Du bist dir nicht sicher, ob ihr das Kind noch täuschen könnt. Euer junger Führer ist nicht dumm. Selbst er muss begreifen, dass ihr nicht von hier seid.
„Davor werden sie sich dagegen ziemlich sicher fühlen. Wer würde jetzt zuschlagen, wenn heute Abend so eine günstige Gelegenheit ist?“
„Es ist egal, ob sie damit rechnen oder nicht. Wenn wir vom Kanu fallen und sterben, ist damit niemandem geholfen!“
„So schwierig sind Kanus nicht“, brummt Langfinger. „Ich fahre euch da locker durch!“
„Du kommst mit?“
Er sieht dich finster an. „Kling mal nicht so überrascht. Ich kleb‘ euch am Arsch, bis ich mein Geld habe!“
„Es könnte gefährlich werden“, gibt auch Allyster zu bedenken. „Wir können uns doch hinter dem Jarlsdorf treffen, oder nicht?“
„Damit ihr irgendwie abhaut und mich prellt? Vergesst es!“
„Niemand will dich prellen.“ Allyster schüttelt den Kopf. „Wir wollen nur nicht, dass du erschossen wirst.“
„Und bei der Probe könntest du ja auch nicht mit“, wirft Elred ein.
„Ja, aber da könnte ich euch in der Wildnis wiederfinden.“ Überzeugt sieht das Kind euch an. „Mit dem Kanu könntet ihr mir davonfahren. Also. Wenn ihr den Fluss nehmt, komme ich mit.“
„Dann bin ich erst recht für die Probe“, sagst du. „Nichts für ungut, Langfinger, aber dein Leben ist auch etwas wert!“
„Ich weiß nicht“, meint Allyster jedoch. „Wir haben bisher überlebt, weil wir unberechenbar waren … Karja, wir müssen das Kanu nehmen. Das ist der Moment, wo sie keinen Angriff erwarten.“
Elred nickt zu deiner Überraschung ebenfalls. „Bei dieser Probe werden zu viele Zeugen dabei sein. Das schaffen wir nicht.“
Du …
- … lässt dich umstimmen. Lies weiter in Kapitel 23.
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- … beharrst auf deinem Plan mit der Probe. Lies weiter in Kapitel 24.