Du bist Elred Aramys Nuvian.
Dein Schädel dröhnt, als wäre eine Herde Wildschweine darübergaloppiert. Du blinzelst und fragst dich, wie viel du gestern getrunken hast. Sicherlich hat Arthrax dich dazu überredet …
Du bewegst dich und stöhnst. Es fühlt sich an, als hättest du dir etwas gebrochen. Gott, was hat sich dein betrunkenes Ich bloß einfallen lassen?
Als du die Augen öffnest, siehst du allerdings keinen vertrauten Schweinetrog, kein leeres Tavernenzimmer und nicht einmal einen zerbrochenen Krug. Stattdessen findest du dich auf hartem Stein wider, in einer Zelle.
Und das ist keine Ausnüchterungszelle, sondern eine karge Steinkammer mit fremdartigen Runen, die in die Steine gekratzt wurden.
„Scheiße …“ Nun fällt dir alles wieder ein. Flutheim. Langfinger. Euer waghalsiger Plan – und zuletzt Karjas Gesicht, als sie dir den tödlichen Befehl gibt.
Du reibst dir den Hinterkopf und ertastest eine beträchtliche Beule. Aber du lebst noch. Das wundert dich mehr als alles andere.
„Du bist also wach.“
Erschrocken fährst du zusammen, was du sofort bereust. Deine Rippen sind gebrochen, dein Arm offenbar auch. Von dem schmerzhaften Pochen wird dir übel. Nur verschwommen kannst du die Gestalt dir gegenüber erkennen. Ein riesiger Mann, gekleidet in dunklen Stoff und braunes Fell, beides ist mit Gold verziert. Auf seinem Kopf sitzen gewaltige Elchschaufeln, ein Geweih, dessen Enden leicht über die Decke kratzen.
Langsam setzt du dich auf. „Ihr … seid der Jarl.“ Das Sprechen fällt dir nicht leicht. Vage erinnerst du dich, dass du zwischendurch kurz wach warst und ein sehr wütender Flutheimer unter brüllenden Fragen auf dich einschlug. Du warst aber viel zu benommen, um auf die Befragung zu reagieren.
„Ich bin Audor Lurasson, Auserwählter des Elchs, ja.“ Der Jarl lächelt. „Wie ist dein Name, Kalynorer?“
Du zögerst, aber welchen Schaden kann das schon anrichten? „Elred.“
Audor nickt. „Du bist ein harter Hund, Elred. Ich mag dich zwar nicht, aber das muss ich anerkennen. Wenn du nicht gerade versucht hättest, mich zu bestehlen, würde ich dich vielleicht nicht einmal hassen …“
„Danke.“ Das erscheint dir angemessen.
„Nun, du weißt es vielleicht, vielleicht auch nicht – aber heute ist der Tag der Probe. Die jungen Leute unseres Landes werden von den Göttern geprüft. Wer sich würdig erweist, von ihnen erwählt zu werden, kehrt als ein Wikinger zurück. Und dass du ausgerechnet heute aufgetaucht bist und dich nicht verhören lässt, erschien mir als Zeichen.“
„Ein … Zeichen?“ Das klingt nicht so hoffnungsvoll, wie der Tonfall des Jarls nahelegte. Eine Gänsehaut überkommt dich.
Audor nickt. „Ich lasse das Gottesurteil über dein Schicksal entscheiden, Fremder. Wenn sie dich verschonen, sollst du neugeboren werden und Gnade erhalten. Du könntest ein wertvoller Kämpfer für Flutheim sein. Selbst wenn du uns verlassen wirst und gehst, so war es der Wille der Götter. Sie sehen mehr als wir Sterbliche. Aber ich vermute, dass du sterben wirst, wie alle Schwächlinge.“ Ernst sieht er dich an. „Deine Geheimnisse mögen mit dir sterben, doch deine Freunde werden wir schon finden. Es ist jetzt offensichtlich, dass ihr keine mächtigen Steine bei euch habt. Der Zirkon hat schon mich nie akzeptiert, einen Geringeren wird er niemals als Träger wollen!“ Der Jarl erhebt sich. „Also habe ich entschieden, dein Leben dem Willen der Götter zu überlassen.“
Na toll. Du musst diese merkwürdige Prüfung bestehen, von der Langfinger gesprochen hat. Hättet ihr den Jungen mal genauer dazu befragt! Dann könntest du einschätzen, wie deine Chancen stehen. Schlecht, vermutest du jedoch. Sehr schlecht. Du bist nicht einmal sicher, ob du laufen kannst.
°°°
Etwas später stehst du dann doch, zusammen mit vielen jungen Flutheimern und einigen anderen Fremden, in der großen, von Feuern erhellten Halle des Jarls. Du hast als einziger hier warten dürfen, der Rest wurde erst eben vorgelassen. Jetzt hält der Jarl eine Rede, auf die du dich kaum konzentrieren kannst. Irgendwas von wegen Auserwählte der Götter. Er spricht von verschiedenen Tieren. Am Rande bekommst du mit, dass Karpfen was mit Fischern zu tun haben und Elche zu Jarls und Herrschern werden.
Keine echten Elche, vermutlich. Das muss irgendwas Spirituelles sein.
Dann geht es hinaus. Die Prüflinge geben ihre Waffen ab, deine wurden dir bereits abgenommen. Du schwankst, bei jedem Schritt protestieren deine Rippen. In der Halle ging es, denn dort wurden irgendwelche Kräuter verbrannt, die dich, ähnlich wie in den Ruinen von Aak, betäubt haben. Sie waren nur nicht ganz so stark …
Das wäre dir im Moment allerdings lieber gewesen. So lässt die Wirkung nach, kaum dass ihr im kalten Wind einer mit Lichtern geschmückten Straße durch die Stadt folgt. Zu beiden Seiten stehen Flutheimer, oft scheinbar die Eltern der Kinder um dich herum. Sie winken, viele weinen. Deine Begleiter haben mutige Mienen aufgesetzt, doch du spürst ihre Angst.
Was für eine verdammte Prüfung ist das bloß?
Ihr zieht aus der Stadt heraus. Hier werden die Prüflinge alleingelassen. Wage erinnerst du dich, dass ihr für diese heilige Prüfung eurer Bestimmung folgen sollt. Ihr müsst in die Berge, zum Meer oder in den Wald, um dort eure Götter zu finden. Du hältst wenig von dieser Tradition und wankst stattdessen direkt auf die Deckung der Fichten zu.
Allyster, Karja und Langfinger wurden auf das Meer hinausgetrieben. Allerdings ist dies einige Stunden her. Sicherlich werden sie bald umkehren. Wissen sie, dass du noch lebst? Vermutlich werden sie nicht anhalten, selbst wenn sie es vermuten sollten. Ihre Mission ist zu drängend. Sie werden zur Taverne zurückkehren und den Zirkon abliefern.
Du musst sie irgendwo abfangen. Hoffentlich bist du noch nicht zu spät!
Einen Arm um deine schmerzenden Rippen geschlungen humpelst du los. Krähen krächzen in den Zweigen der Koniferen, als würden sie sich über dich lustig machen. Dein anderer Arm baumelt herab und scheint in Flammen zu stehen, wann immer er gegen deine Seite stößt. Du brauchst eine Schlinge, um ihn zu stützen, vielleicht ein paar gerade Stöcke … Rennen kannst du so jedenfalls nicht.
Nach ein paar weiteren Metern hältst du inne. So hat das Ganze keinen Sinn. Obwohl es so kalt ist, treibt dir der Schmerz den Schweiß auf die Haut. Er rinnt deinen Rücken hinab und lässt dich unkontrolliert zittern.
Dir ist schlecht. Die Übelkeit wird nur vom Schwindel übertroffen.
Ächzend lässt du dich an einem Stamm herab sinken. Verdammter Mist. So kommst du nirgendwohin. Vor allem kannst du auch dem Jarl so nicht entfliehen. Wenn die Prüfung um ist, wird er sicherlich feststellen lassen, ob du wirklich gestorben bist. Vermutlich besteht die Prüfung darin, die wilden Tiere hier draußen zu überleben. Und schon das wird eine Herausforderung.
Du schließt einen Moment die Augen und denkst nach. Dann ziehst du die gestohlene Weste aus und suchst zwei gerade Äste zusammen. Das erste, was du tun kannst, ist die Schlinge für deinen gebrochenen Arm. Als dieser nicht mehr herunterbaumelt, sind die Schmerzen schon deutlich besser. Du merkst, dass du Hunger und Durst hast. Seit dem Bier am Morgen hattest du nichts mehr. Normalerweise kommst du mit wenig Essen aus, aber im Anbetracht deines Zustands benötigst du mehr. Also beginnst du, Beeren und Pilze zu suchen. Als du Wasser rauschen hörst, folgst du dem Klang bis an das Ufer eines kleinen Baches, wo du dich hinkniest und einhändig deinen Durst stillst.
Die Nacht ist undurchdringlich tief. Nun allerdings hörst du ein lauteres Rascheln, als würde sich etwas Großes seinen Weg durch den Wald suchen.
Dein Herz schlägt sofort schneller. Allerdings nicht nur vor Angst. Etwas in dir drängt dich, dem Geräusch entgegen zu gehen. Wie ein magischer Ruf.
Das wäre Wahnsinn. Was immer da kommt, es ist sehr viel stärker als du! Eine Bestie, vielleicht mit Magie gesegnet, die ihre Beute zu ihr lockt. Und du willst keine Beute sein.
Wegrennen ist allerdings auch keine Option. Dafür bist du zu geschwächt. Du siehst dich um. Ob du dich vielleicht mit einem Stock bewaffnen kannst?
‚Komm her‘, scheint eine Stimme dich zu locken. ‚Tritt vor, verlorener Sohn, und empfange deine Bestimmung.‘
Das klingt gefährlich wie das, wovon der Jarl gesprochen hat! Das heißt, dass dir wirklich nicht gefallen wird, was da kommt.
Doch gleichzeitig fühlt sich ein Teil von dir, als würdest du nach einem langen Tag in die Taverne zum Teufelsochs kommen, jenen Ort, der deinem Zuhause am nächsten kommt. Die Feuer sind entzündet, warmes Licht fällt in den Sumpf, begleitet vom Duft nach fettigem Braten und gutem Bier. Die Taverne, wie sie früher war, nicht so wie bei deinem letzten Besuch, wo sie kalt, heruntergekommen und voller Verräter war.
Zuhause. Heimat. Ankommen.
Du siehst in die Nacht. Deine Hand tastet über den Boden am Flussufer, sucht nach einer Waffe. Und die Stimme lockt dich näher.
Du …
- … gehst unbewaffnet. Lies weiter in Kapitel 32.
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- … suchst nach einem geeigneten Stock, bevor du aufbrichst. Lies weiter in Kapitel 33.