Irgendwann habe ich mich einmal versucht, mich mit Statistiken zu beschäftigen. Dabei verstehe ich gar nichts von Zahlen oder von Fakten. Manchmal frage ich mich sogar, ob ich nur Verständnis oder auch einen Verstand habe und ob die Grenzen meines Verstandes wirklich so gering gesteckt sind, wie man mir immer sagte.
Onkel Hannes sagte oft, ich solle mir nicht den Kopf zerbrechen. Dass ich nicht so viel denken sollte, ehe ich mir noch wehtun würde.
Kristian hingegen sagte oft, ich sei zwar talentiert, aber der nötige Intellekt sei mir nicht gegeben, darum müsse er für mich sprechen.
Viele Leute sprachen also mit Kristian über meine berufliche Zukunft, vereinbarten Termine, Chancen und Gelegenheiten in meinem Namen, während ich vorsichtshalber nicht so viel nachdachte.
Dabei will ich doch verstehen, für so vieles will ich Verständnis erlangen, aber oft ist es in meinem Kopf so laut, dass es sehr mühsam ist, zwischen all den schreienden Gedanken überhaupt etwas zu verstehen.
Laut Statistik sollte ich jedoch zufrieden sein. Geradezu glücklich, denn laut Statistik bin ich überdurchschnittlich privilegiert. Ein weißer, männlicher, körperlich in keiner Weise eingeschränkter Mensch, der in Mitteleuropa lebt, ein Dach über dem Kopf und genug zu Essen hat, sodass er eigentlich keine essenziellen Sorgen haben müsste. Seine Probleme sind nicht weiter bedenklich, denn er sucht welche, um sich über etwas beschweren zu können.
Ich beschwere mich ja gar nicht. Aber glücklich bin ich noch lange nicht.
Nicht ohne Kristian.
Kristian.
Der Name, der mir von all meinen Gedanken am lautesten entgegenschreit. Dabei ist Kristian nie ein lauter Mensch gewesen. Onkel Hannes sagt, ich solle mich von ihm fernhalten. Dabei ist Kristian immer ein besonderer Mensch gewesen. Besonders für mich. Wichtig für mich. So wichtig, dass er mich um den Verstand brachte.
Vielleicht hat er meine Tassen entwendet. Wundern würde es mich nicht.
***
Irgendwann stand ich einmal an der Kasse im Supermarkt und konnte mich nicht mehr bewegen. Ich weiß gar nicht mehr, wann das gewesen ist, aber ich stehe gerade an derselben Kasse und muss sofort daran denken.
Ganz genau erinnere ich mich noch daran, obwohl ich es eigentlich hatte vergessen wollen. Meine Hand zittert und mir fällt fast der Geldbeutel auf den Fußboden. Die Menschen hinter mir reden miteinander, aber ich verstehe nichts. Onkel Hannes sagt oft, dass ich mich in der Öffentlichkeit daneben benehme. Er will mir auch immer noch beibringen, wie man sich verhält, um nicht irgendwie unangenehm aufzufallen. Dabei wollte ich ja gar nie auffallen.
In dem Moment an der Kasse wollte ich nichts weiter, als einfach schnell bezahlen und wieder nach Hause gehen. Aber ich konnte nicht. Ich konnte gar nichts mehr, außer hoffen, dass es bald vorbei ist. Das Gefühl, zu ersticken und sich nicht dagegen wehren zu können. Die Kassiererin zog meine Einkäufe über das Band und das Geräusch hat mich verrückt gemacht.
Piep. Piep. Piep.
Wie der Vogel, den man verrückten Menschen in ihrem Kopf nachsagt. Aber viel eher noch wie die Geräte in einem Krankenhaus.
Piep. Piep. Piep.
Ich konnte nicht mehr atmen und auch jetzt fällt es mir schwer. Vorsichtig versuche ich, ob ich mich noch bewegen kann. Die Leute starren mich an, während ich mich vergewissere, dass ich auch gleichzeitig atmen und mich bewegen kann.
„Geht es Ihnen gut?“, fragt die Dame an der Kasse argwöhnisch.
Hastig nicke ich und ziehe einen Schein aus dem Geldbeutel. Ich muss ihn gar nicht anschauen oder mir die Farben merken, meistens sehe ich schon am Gesicht der Kassiererin, ob er genügend wert ist, um damit meinen Einkauf zu bezahlen. Manchmal bekomme ich auch noch etwas zurück. Onkel Hannes sagt, es wäre kein Tauschgeschäft zwischen Papier und Metall, sondern Mathematik. Ich hingegen bin nur froh, dass ich schnell den Laden verlassen kann, nachdem ich alles in meinen Rucksack gepackt habe.
Katzenfutter. Katzenfutter. Kaffeepulver. Katzenfutter. Milch. Nudeln. Milch. Katzenfutter. Katzenfutter. Toastbrot. Papiertaschentücher. Katzenfutter.
Wasser kommt aus dem Wasserhahn, also habe ich an alles gedacht.
Auch an den Vorfall von irgendwann einmal. Und an Kristian, der immer gesagt hat, dass ich allein nicht lebensfähig wäre. Dabei braucht man gar nicht viel zum Leben. Man muss nur atmen und den Rest macht der Körper von allein. Auch das Atmen geht oft von ganz allein, außer in solchen Situationen eben. Vielleicht meinte er das.
Manchmal frage ich mich, ob er stolz oder wütend wäre, wenn er wüsste, wie sehr ich auch ohne ihn lebensfähig bin. Zumindest bisher, aber ich habe nicht vor, das zu ändern. Allein bin ich ja nicht, immerhin lebe ich mit Johanna zusammen. Sie ist immer zuhause, wenn ich vom Supermarkt zurückkomme. Sie beschwert sich nicht. Aber sie sagt auch nichts weiter als Miau.
Von weitem höre ich noch Piep Piep Piep und stelle mir vor, wie Johanna den Vogel in meinem Kopf für mich einfängt, wenn er das nächste Mal eine meiner Kaffeetassen stehlen möchte.
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