Zwei Wochen lang hat es gedauert, bis Onkel Hannes mich dazu überredet hatte, zum Zahnarzt zu gehen. Ich hatte Zahnschmerzen. Aber der Zahn war nicht mehr zu retten, deswegen habe ich jetzt nur noch Schmerzen und den Zahn durfte ich in einer kleinen Plastiktüte mitnehmen. Der Arzt sagte, wäre ich früher gekommen, hätte man noch etwas machen können. Jetzt ist es zu spät und ich nenne ihn nun den Zahn der Zeit.
Ich frage mich, was ulkiger aussieht. Der Zahn der Zeit in einer Platiktüte, die noch ein bisschen von innen mit Blut verschmiert ist oder mein Lächeln. Denn der Zahn der Zeit war zuvor mein linker oberer Eckzahn und dort ist nun gar nichts mehr. Der Zahnarzt sagt, ich könnte einen neuen haben, aber erstens kostet das Geld und zweitens muss ich mir erst überlegen, ob der Zahn der Zeit überhaupt zu ersetzen ist.
Als ich Onkel Hannes das erzählte, nannte er mich mit einem unhöflichen Wort und sagte, dass ich spinne. Aber dann sagte er, er würde schon sehen, dass er das Geld irgendwie auftreiben kann. Denn so rumlaufen kann ich ja wohl nicht.
Wieso eigentlich nicht. Selbst wenn ich einmal nach draußen gehe, die Kassiererin im Supermarkt stört es sicher nicht, wenn mir der Zahn fehlt. Und ansonsten gibt es wenige Menschen, die es interessieren könnte. Frau Doktor Schneider sehe ich jetzt jede Woche, aber wenn sie fragt, werde ich ihr einfach die Geschichte vom Zahn der Zeit erzählen. Man sagt, er nagt an den Menschen, doch eigentlich war er immer nur mit Nudeln und Toastbrot beschäftigt. Den Kaffee hat er nur beiläufig zu Gesicht bekommen, deshalb hat er immer nur an mir genagt, sonst an niemandem. An meiner Unterlippe. Oder an meinen Fingernägeln, hauptsächlich aber diese kleinen Hautfetzen neben den Fingernägeln, die mich immer in den Wahnsinn treiben.
Jetzt nagt er gar nicht mehr. Jetzt hat er seine Ruhe und ich gönne sie ihm. Viel zu lange habe ich am Zahn der Zeit genagt. Jetzt ist auch das vorbei. Vielleicht ist Kristian der Zahn der Zeit. Denn sie sind beide weg und hinterlassen eine Lücke, die ich unmöglich füllen kann. Eine in meinem Mund und eine in meinem Herzen. Denn sie sind nicht einfach zu ersetzen und austauschbar wie ich.
Ich schaue in den Spiegel, weil es sich seltsam anfühlt, an meiner Unterlippe zu nagen. Ohne den Zahn sehe ich tatsächlich so aus, wie Onkel Hannes und auch immer wieder einige andere sagten.
Vollidiot. Depp. Vollpfosten. Spast. Vollhorst.
Einige lasse ich auch aus, denn sie klingen für mich sogar noch ein bisschen schlimmer als die hier. Ich weiß nicht, wieso viele Schimpfnamen mit „Voll“ beginnen, denn eigentlich fühle ich mich viel eher leer als voll. In meinem Mund fehlt ein Zahn und in meinem Herzen fehlt Kristian.
Die Erdgeschossdame hat mich nicht mehr eingeladen. Dem jungen Fräulein von gegenüber bin ich im Treppenhaus begegnet, als ich den Müll runterbrachte. Sie fragte, ob wir ins Café nebenan gehen. Ich traute mich nicht, abzulehnen. Wieder Schuhe und Hemd.
***
Zwei Minuten lang stehe ich vor der Wohnung nebenan und traue mich nicht, zu klopfen oder zu klingeln. Johanna schläft wahrscheinlich immer noch auf dem Sofa, aber ich sehe sie durch die geschlossene Tür nicht. Den Schlüssel habe ich dabei. Geldbeutel auch. Neben meiner üblichen Kleidung für zuhause trage ich auch noch Schuhe und statt eines gemütlichen Pullovers ein Hemd. Es ist mir zu groß und ich wundere mich. Als ich es gekauft habe, hat es noch gepasst, aber vielleicht ist es beim Waschen aufgegangen. Wie ein Hefeteig.
Auf dem Klingelschild steht noch immer kein Name, aber ich drücke jetzt auf den kleinen Knopf. Es dauert keine zwei Sekunden, bis das junge Fräulein mit einem Handtuch auf dem Kopf öffnet und mich anlächelt.
„Tut mir leid, brauche noch zwei Minuten“, sagt sie, „Aber komm doch rein, du wirst staunen, was ich aus dieser Wohnung noch herausgeholt habe!
Kurz frage ich mich noch, was sie meint. Aber dann bin ich auch schon drinnen und weiß zumindest, was sie in diese Wohnung hineingeholt hat. Nicht nur Unmengen an Kartons, die jetzt gar nicht mehr zu sehen sind, sondern auch mich.
Es sieht gemütlich aus bei ihr.
„Fühl dich wie zuhause. Ich bin sofort da und dann können wir los“, sagt sie und verschwindet hinter einer Tür.
Ich höre das Geräusch von Wasser. Eigentlich sollte sie ja Angst haben, dass ich ein Einbrecher sein könnte. Es kann gefährlich sein, wildfremde Nachbarn in die Wohnung einzuladen. Aber ich werde ihr Vertrauen ganz sicher nicht enttäuschen, immerhin bin ich gar kein Einbrecher, sondern wurde eingeladen.
Durch die Fenster mit den gelben Gardinen fällt das Sonnenlicht in den Raum und taucht ihn in warmes Licht. Wie ein leuchtender Teppich aus Sommer und Wärme.
Wie ein Teppich.
Teppich.
Was für ein dummes Wort. Für einen Moment fühlt es sich an, als würde sich alles um mich drehen und stattdessen dann die ganze Welt stehen bleiben. Aber es ist schnell vorbei, noch bevor ich Atemnot bekomme.
Ganz leise höre ich Miau durch mehrere Wände.
„Ist das deine Katze?“, fragt das Fräulein und ich erschrecke mich.
Sie ist wieder aus dem Badezimmer draußen und hat nun Haare statt des Handtuchs auf dem Kopf. Viele lange dichte kupferfarbene Haare, die wie ein Teppich über ihre Schultern fallen.
Teppich. Teppich. Teppich.
Nein! Schluss jetzt. Ich nicke und sage, dass meine Katze Johanna heißt.
„Ich bin Leonie“, sagt meine Nachbarin hingegen.
Leonie. Was für ein kurioser Name.
„Manchmal nennen mich die Leute auch Leo“, sagt sie.
Manchmal, fährt es mir durch den Kopf, Leo Manchmal. Leo Öfters. Leo Immer. Alles klingt besser als Leo Nie. Es klingt ein bisschen traurig.
Ich bin Leonie.
„Nein“, sagte ich, „Das ist falsch.“
Sie schaut mich argwöhnisch an.
„Du heißt Leonie. Aber du bist immer Leo. Leo Immer. Immer Leo. Für immer Leo“, erkläre ich ihr und in meinem Kopf hat es irgendwie mehr Sinn ergeben.
Ihr Blick wird sanft und gütig. So warm wie der Teppich aus Licht auf ihrem Boden. Sie lächelt und als sie den Kopf etwas schief legt, fällt der Teppich aus rotem Haar über ihre rechte Schulter.
„Dein Onkel sagte, dass du vielleicht ein bisschen Hilfe brauchst“, meint Leo mit einem Mal ganz ernst. Dann lacht sie herzlich, „Aber ich glaube, dass er von dir noch einiges lernen kann!“
Ich muss lächeln und bereue es sofort wieder.
„Oh, was ist denn mit deinem Zahn passiert?“, fragt Leo besorgt.
Ich zucke mit den Schultern, es ist nun mal der Zahn der Zeit. Ich frage sie, ob wir ins Café gehen wollen.
„Ach richtig, das wollten wir“, sagt sie, „Aber am liebsten würde ich hier bleiben. Hast du Kaffeepulver? Ich hab vergessen, welches zu kaufen!“
Jetzt sitzen wir an Leonies Tisch und trinken meinen Kaffee.
Ich schweige lächelnd. Sie erzählt von ihrem Umzug, von ihrer Ausbildung und von ihrer Großmutter, die bald in ein Pflegeheim gehen muss. Deswegen musste Leo sich eine Wohnung suchen, denn der vorherige Hausbestand wird komplett aufgelöst.
Mein Blick muss für meine Verwirrung sprechen.
„Also nicht wirklich aufgelöst“, erklärt sie geduldig, „Das sagt man nur so.“
Sie lacht kurz, dann seufzt sie, „Da stehen noch Unmengen von Sachen, die weder Oma noch ich irgendwo unterkriegen. So ein Haufen Arbeit, da wünscht man sich, es würde sich tatsächlich alles einfach in Luft auflösen.“
Ich nicke verständnisvoll, obwohl ich von so etwas rein gar nichts verstehe.
„Aber es sind sehr schöne Dinge dabei, darum wäre es schade“, sagt sie.
Vorsichtig frage ich, woher sie Onkel Hannes kennt. Sie gibt zu, er habe sie im Treppenhaus angesprochen und gefragt, ob sie sich ein bisschen um mich kümmern kann. Er habe gemeint, ich bräuchte jemanden, der auf mich ein Auge hat, weil ich nicht ganz gescheit wäre. Benommen und gekränkt höre ich kaum, wie Leonie sagt, dass er sich da geirrt haben muss.
***