August 1258
Die abgestandene Luft im Vorraum der Burgkapelle roch an diesem Morgen eindeutig nach Freiheit. Zumindest für Diotima von Morra.
Die junge Frau warf ihrer Zofe einen verstohlenen Blick zu. Biancas Gesichtsfarbe erinnerte an frisch geernteten Lauch und sie schien nicht in der Lage, ihre Finger auch nur einen Augenblick lang ruhig zu halten.
Verkehrte Welt.
Kopfschüttelnd wechselte Ima ihren Krückstock von der rechten in die linke Hand. Sie verbarg ihre vernarbten Finger in den Falten ihres perlenbestickten Gewandes und nickte Bianca zu. Eilfertig öffnete das Mädchen die Tür zur Burgkapelle und kündigte sie an. Begleitet vom leisen Kratzen des Stockes auf dem Steinboden schritt Diotima auf den Priester im Chorraum zu.
Heute war ihr Hochzeitstag.
Sie hatte sich immer ausgemalt, an der Seite des jungen Milanesi(*FN* Raoul de Cabrera vor den Altar zu treten. Sein betörendes Schurken-Lächeln hatte ihren Herzschlag zum Stolpern gebracht und ihr den Kopf verdreht.
Wie dumm sie gewesen war.
Als Raoul begriffen hatte, welche Schäden sie nach ihrem Unfall zurückbehalten würde, hatte er ihre Träume zerquetscht wie reife Maulbeeren und war verschwunden.
Nur gut, dass sie es jetzt besser wusste
Herzklopfen, feuchte Hände und Ameisen im Bauch waren ohnehin lästig.
Heute fühle ich nichts, stellte sie zufrieden fest, nichts, nicht die mindeste Rührung. Dass ich mit sittsam gesenktem Blick dort hineingehe, ist eine durchdachte Geste, abgewogen, nichts Spontanes. Ich gebe mich furchtsam und nervös, weil ich spüre, dass es von einer Braut erwartet wird, nicht weil ich es bin. Nichts fühle ich.
Sie heiratete Messèr(*FN* ) Francesco Adelardi nicht aus Liebe. Im Gegenteil. Ihrer Einwilligung in diese Heirat lag die nüchterne Erkenntnis zugrunde, es könne sich um ihre einzige Chance handeln, der elterlichen Burg mit ihrer bedrückenden Atmosphäre mitleidiger Zurückhaltung zu entkommen. Ihre Schwestern wollten tanzen, auf die Jagd reiten, sich amüsieren. Dass sie dies nicht länger konnte, war kein Grund, jeden Spaß aus Morra zu verbannen. Sie war es leid, bedauert zu werden.
Gräfin Judith und Graf Léon unterbrachen ihr Gespräch mit dem Priester und sahen ihr entgegen. Das Gesicht ihres Vaters war ausdruckslos, das ihrer Mutter zeigte unverhohlene Besorgnis. Die Mienen ihrer Schwestern dagegen verrieten vorsichtige Erleichterung.
Bald seid ihr mich los.
Diotimas Blick wanderte zu dem in teurem Schwarz gekleideten Mann, der in Vertretung des Bräutigams mit ihr die Ehe schließen würde. Sein Name war Fulco. Er hatte ein sanftes, von hellblonden Locken umrahmtes Gesicht. Seine Umgangsformen waren untadelig, und er hatte während der Verhandlungen mit ihrem Vater nicht ein einziges Mal die Stimme erhoben. Diotima hoffte, dass der umgängliche Charakter seines Stellvertreters dem ihres zukünftigen Gemahls entsprach.
»Ima?« Graf Léon trat auf sie zu und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Bist du dir sicher, Kind? Sei versichert, dass wir nicht auf dieser Eheschließung bestehen, wenn du sie nicht willst.«
»Ich weiß.«
»Deine Mutter fürchtet, du könntest dich aus den falschen Gründen entschlossen haben Messèr Adelardi zum Mann zu nehmen.«
»Ihre Sorge ist unbegründet.«
»Ima, du weißt, dass wir ...«
»Vater. Es ist gut.«
Er musterte sie eindringlich mit Augen, deren intensiver Farbton sie an das Blau der Ysopblüten im Burggarten erinnerte. Sie hatte die Augenfarbe von ihm geerbt, zusammen mit dem Safrangold ihres Haares. Es hatte eine Zeit gegeben, in der sie darauf stolz gewesen war, doch inzwischen hatte sie begriffen, dass ihr Aussehen weder den Gehstock noch die Narben aufwog.
Ihr Vater nickte knapp und kehrte an seinen Platz neben ihrer Mutter zurück. Er griff nach der Hand seiner Gemahlin und drückte sie.
Ima schluckte gegen die altvertraute Welle der Übelkeit an und setzte sich Richtung Altar in Bewegung. Fulco empfing sie mit einer vollendeten Verbeugung und einem warmen Lächeln. »Seid Ihr bereit, Signorina Diotima?«
Nein. »Gewiss, mein Herr.«
»Dann seid so gut, mit der Zeremonie zu beginnen, Don Michele«, forderte er den Geistlichen auf. Diotima erhob keinen Einspruch. Das Sakrament war die notwendige Bekräftigung eines geschäftlichen Handels und ihr Schlüssel zu einem eigenständigen Leben. Sie ließ ihre Gedanken wandern. Es würde klappen. Es musste einfach. Sie brauchte ihren eigenen Hausstand, um zu beweisen, wozu sie fähig war, wenn man sie nicht länger wie ein rohes Wachtelei behandelte.
Wenig später steckte ihr Fulco einen Ring an den Finger und Don Michele erklärte sie mit strahlender Miene zur rechtmäßigen Gemahlin des Nobiluomo Francesco Adelardi. Fulco verbeugte sich erneut und wich hastig einen Schritt zurück, um dem Überschwang ihrer Schwestern zu entgehen, die kichernd ganze Wolken farbenfroher Blütenblätter auf das Paar herabregnen ließen.
Diotima fröstelte. Sie hatte sich immer wieder gesagt, dass diese Heirat der Preis war, den sie für ein Leben ohne mitleidige Blicke in Kauf nehmen musste. Aber das traf nicht zu. Innerhalb einer Familie sollte es keinen eiskalten Hauch der Entfremdung geben, keine lähmende Scham, die von ihr verlangte, sich zu verstellen.
Fulco räusperte sich diskret und Ima wandte sich wieder ihm und den praktischen Fragen zu. Sie wäre am liebsten sofort zu ihrem neuen Heim aufgebrochen, allerdings hatten ihre Eltern in dieser Angelegenheit nicht mit sich reden lassen. Sie bestanden auf einem Festmahl. Zumindest hatte Ima sie von dem Gedanken abbringen können, sämtliche Nachbarn einzuladen. So waren es nur die Burgleute, die hinter ihnen in den Saal strömten. Fulco führte sie zu den Ehrenplätzen an der Stirnseite der Tafel und rückte ihr den hochlehnigen Sitz zurecht. Auch hier waren ihre Schwestern am Werk gewesen und hatten das Tischtuch üppig mit Blütenblättern bestreut. Ungeduldig wischte Ima eine Rosenknospe von ihrem Teller. Sie verspürte keinen Appetit, obwohl ihre Mutter dafür gesorgt hatte, dass alle ihre Lieblingsgerichte auf den Tisch kamen.
Fulco erkundigte sich, ob er ihr von der gebratenen Ente vorlegen dürfe und sie nickte. »Erzählt mir von meinem neuen Heim«, bat sie.
Das ließ sich das nicht zweimal sagen und erging sich in ausschweifenden Beschreibungen des Hauses, der Obstgärten und Weinberge, die zum Besitz gehörten. Das monotone Gleichmaß seiner Stimme war ermüdend. Zum Glück schien er nicht von ihr zu erwarten, dass sie sich am Gespräch beteiligte.
Eine leichte Unruhe am Eingang des Saales erregte ihre Aufmerksamkeit. Einer der Pagen führte einen Boten in einem wappenlosen Waffenrock herein. Der Mann verneigte sich vor ihren Eltern und sprach eine Weile mit ihrem Vater. Dieser wies schließlich in ihre Richtung. Der Bote trat vor sie und verbeugte sich erneut. »Monna Diotima, ich bin beauftragt, Euch dieses Geschenk zu überreichen.«
Ima nahm das Päckchen in die Hand und drehte es um. Es war in Wachstuch eingeschlagen und enthielt keinerlei Hinweis auf den Absender. Sie legte es auf den Tisch.
»Wer hat Euch beauftragt?«, fragte sie.
»Öffnet es«, erwiderte der Bote. »Der Inhalt wird Euch die Herkunft des Geschenks verraten.«
Ima entfernte das Wachstuch und fand ein schmales Holzkästchen. Es enthielt eine mit Edelsteinen besetzte Schmucknadel und eine Botschaft. Hitze stieg in ihren Nacken und die Wangen. Sie starrte auf die Nachricht, die aus willkürlich aneinandergereihten Lettern und Zahlen zu bestehen schien. Lautlos zählte sie die Buchstaben ab und verschob sie, wie es der Lösungsschlüssel vorgab.
Meglio un anno come un leone, da cento anni come una pecora.(*FN*
Bleib stark. Und hilf deinem Glück auf die Sprünge, wenn nötig.
Diotima schlug die Hand vor den Mund, um nicht in hysterisches Gelächter auszubrechen. Das war wieder einmal der typisch morbide Humor ihrer älteren Schwester Roana.
Sie schickte ihr als Hochzeitsgeschenk eine tödliche Waffe.
Milanesi = Mailänder(s)*FN*)
Messèr = Anrede für den Mann*FN*
Lieber ein Jahr wie ein Löwe, als hundert Jahre wie ein Schaf.*FN*)