»Dieser Mann ist von Teufel gezeichnet. Schafft ihn aus dem Kloster. Sofort.«
Die Stimme des Abtes von San Juan de la Peña klang kalt und gefühllos.
Santiago stand vor ihm, zitternd in seinem dünnen Novizenhabit und versuchte zu begreifen, warum man ihn noch vor der Matutin von seinem Lager geholt und in den Kapitelsaal geschleppt hatte. Der Abt hatte ihm die Augenklappe heruntergerissen und dann waren die Anklagepunkte wie Hagelkörner auf ihn niedergeprasselt.
Er begriff nur eines.
Jemand hatte ihn verraten.
Sinnlos, sich verteidigen zu wollen. Sinnlos, an die christliche Nächstenliebe der Brüder zu appellieren. Zwei kräftige Klosterknechte ergriffen ihn an den Armen und führten ihn hinaus. Mit einem höhnischen Knirschen fiel das Tor des Klosters hinter ihm zu und schloss ihn aus der Gemeinschaft der Brüder aus.
Es war stockdunkel, eine Nacht ohne Mond oder Sterne. San Juan de la Peña lag in einer engen Schlucht, unter einem weit herausragenden Bergüberhang der äußeren Pyrenäen. Die Gegend war einsam und schwer zugänglich. Im Umkreis eines Tagesmarsches gab es keinen Ort, an dem er um Nahrung oder Wasser hätte bitten können.
Aber in den Wäldern lebten Wölfe.
In mondhellen Nächstern hatte er oft ihr schauriges Geheul gehört.
Er ging ein paar Schritte von Kloster weg und setzte sich auf den Boden. An einen Felsen gelehnt saß er da und blieb die ganze Nacht wach, weil er viel zu viel Angst hatte einzuschlafen ...
Keuchend fuhr Santiago aus dem Schlaf hoch. Einen Moment lang saß er mit gesenktem Kopf da, während seine Lunge wie ein Blasebalg pumpte. Er hätte damit rechnen sollen. Er hatte vor langer Zeit diese Lektion gelernt – jedes bisschen Frieden, das er erlangen konnte, forderte einen schmerzhaften Preis. Mit zitternden Händen griff er nach seiner Decke und trocknete sich das schweißnasse Gesicht ab. Er hasste seine Albträume, die ihn um den Schlaf brachten. Zur Abwechslung war einmal nicht der Tag vorgekommen, an dem die Männer seines Vaters ihn verschleppt hatten, während Onkel Dante feixend zusah. Auch nicht seine Mutter, die abwechselnd auf Knien um seine Freiheit bettelte oder sich die Seele aus dem Leib schrie, aber dennoch war es ein Traum voller Schatten und Dunkelheit gewesen. Er starrte auf den schwach erleuchteten Fleck an der gegenüberliegenden Wand und zwang sich, in Gedanken den Kamin abzuschätzen und das Glutnest in einer Ecke wahrzunehmen. Er versuchte, den Krampf in seinen Muskeln, die unsichtbare Faust, die sich um seine Eingeweide krallte und die Enge in seiner Kehle zu ignorieren.
Zumindest konnte er immer noch atmen. Dieser Gedanke bot ihm eine kleine Sicherheit, und er hielt sich dankbar daran fest. Kontrolle – das war die einzige Waffe, die er hatte.
Einen Augenblick lang presste er seinen Kopf mit den Händen zusammen, dann machte er eine verärgerte Handbewegung. Er konnte er sich nicht leisten seiner Schwäche nachzugeben. Ganz gewiss nicht in einem Moment, in dem sich monatelange Planung und Vorbereitung endlich auszuzahlen begann.
Er sprang aus dem Bett, eilte zum Fenster, öffnete die Läden und atmete tief die veronesische Luft ein, die ihm so köstlich und paradiesisch vorkam wie nie zuvor. Er sah hinter den Weinbergen die noch sanfte Morgenröte. Er ahnte die Schneeberge, hörte Vogelgezwitscher, das sich mit den Glocken der Ziegen auf der Weide zu einem anheimelnden Klang vereinte und er stellte fest, wie sehr ihn diese Musik beruhigte. Wenn es etwas wie Balsam für ihre inneren Wunden gab, so war dieses Gut eine Salbe für eine Verletzung, die schon lange schwärte.
Santiago wusch sich Gesicht und Hände, schlüpfte in eine schlichte Tunika und Beinlinge, zog sich die Augenklappe über und ging nach unten.
Er fand Belladonna und Leone im Hof vor dem Pferdestall. Sie hatten eine Schar Hilfskräfte organisiert – dem Aussehen nach Bauern. Die Männer waren damit beschäftig, das alte Stroh aus den Unterständen der Pferde zu entfernen, während die Pferdeknechte der Compagnia die Morgenration Futter für die Schlachtrösser herankarrten.
Als er eintrat, wandten sich ihm schlagartig alle Gesichter zu. Die Bauern musterten ihn mit verstohlener Neugier und was sie zu sehen bekamen, schien nicht das zu sein, womit sie gerechnet hatten.
Santiago verbarg seinen Unmut hinter einem sparsamen Lächeln, nickte den Bauern zu und trat zu seinen Freunden. »Täusche ich mich, oder sehen unsere neuen Helfer ein wenig enttäuscht aus?«, sagte er auf Griechisch. »Was haben sie erwartet? Teufelshörner und Schwefeldampf?«
Belladonna grinste, während Leone immerhin den Anstand besaß betreten auszusehen. »Sie brauchten einen kleinen, zusätzlichen Anreiz, um mitten in der Erntezeit ihre Felder im Stich zu lassen«, rechtfertigte er sich. »Und du hast nun einmal einen Ruf, der sich bestens dafür eignet.«
Santiago zog es vor, darauf nichts zu erwidern.
Belladonna knuffte Leone in die Seite. »Merkst du was? Wir sollten den Capitano öfter ausschlafen lassen. Das macht ihn merklich umgänglicher.«
»Gebt Ruhe, ihr Spaßvögel«, sagte Santiago. »Seid froh, dass ich euch nicht die Ohren lang ziehe, dafür, dass ihr mich nicht geweckt habt. Wir haben jede Menge Arbeit zu bewältigen. Also? Wie steht es? Sind die Karren mit den Vorräten eingetroffen?«
»Ja, kurz nach Mitternacht. Die Männer sind schon fast fertig mit dem Abladen. Ich wollte gerade mit der Inventur beginnen«, erwiderte Belladonna und zeigte auf das Bündel Kerbhölzer in seinem Gürtel.
»Gut für dich«, bemerkte Santiago. »Gehen wir.«
Bewaffnet mit langen Listen schlenderten sie an den mit Hafer, Roggen und Gerste gefüllten Scheunen vorbei. Vor der Schreinerwerkstatt stapelten sich Eichenbretter und an der Außenwand lehnten die ersten neuen Fassdauben. Belladonna zählte, während Leone Santiagos Anweisungen auf einer Wachstafel notierte.
Entlang der Mauer kamen die Katen und Nebengebäude des Herrenhauses in Sicht, die Schmiede, aus der über das Getrappel der Hufe hinweg der Klang des Hammers zu hören war. Das Backhaus mit den Brotschiebern, den Trögen, Arbeitstischen und Mehlfässern. Die Scheune, in der Baumkelter, Bottiche und Fässer auf ihren herbstlichen Einsatz warteten.
Leone warf über Belladonnas Arm hinweg einen Blick auf die Listen. »Ich frage mich, wie es euch beiden gelungen ist, diese riesigen Vorratsmengen einzukaufen. Auf den Märkten im Umkreis ist das Getreide knapp, weil durchziehende Truppen die Felder der Contrada verwüstet haben. Selbst Gold vermag nicht zu kaufen, was es nicht gibt. Also? Woher stammen die Waren?«
»Aus Sizilien. Eingeführt über Venedig.« Belladonna vermochte kaum die Befriedigung aus seiner Stimme herauszuhalten. »Ich habe gute Kontakte.«
Leone schüttelte den Kopf. »Da hast du ja wahrlich keine Zeit verloren, Darius«, bemerkte er milde. »Wir sind knapp einen Tag hier und du hast eingekauft, Fuhrleute gefunden, alles verpacken - und über eine Strecke transportieren lassen, für die man im besten Falle zehn Tage braucht. Alle Achtung.«
»Ich hatte das Haus schon länger im Visier«, erklärte Santiago kurz angebunden. »Es war nur eine Frage der Zeit, bis Adelardi die Mittel ausgehen würden. Wir hatten eine ausreichende Frist, um uns vorzubereiten.«
»Wusste ich es doch, dass an diesem Kaufvertrag etwas anrüchig ist«, sagte Leone. »Du hast es auf Francesco Adelardi abgesehen.«
»Adelardi interessiert mich nur am Rande«, sagte Santiago. »Ich wollte dieses Haus. Für Domingas.«
»Ich verstehe. Und wie passt Monna Adelardi in diesen Plan, Bruder Santino?«
»Gar nicht.«
»Diese Furie von Ehefrau hätte uns beinahe einen Strich durch unsere schöne Rechnung gemacht«, murmelte Belladonna grantig.
Leone lachte. »Furie? Lass sie das besser nicht hören. Beim nächsten Mal trifft sie vielleicht.«
»Das findest du wohl sehr erheiternd, was? Wie typisch, dass dir nichts Besseres einfällt, als zu spotten. Heißen Dank übrigens, dass du dein Hinterteil nicht aus dem Gebüsch bewegt hast, um mir zu helfen.«
»Nicht streiten«, tadelte Santiago.
»Was willst du mit Monna Adelardi tun?«, fragte Leone. »Ich fürchte, wir handeln uns Ärger ein, wenn wir sie als Geisel behalten.«
Darius schnaubte. »Ärger? Etwa von ihrem feinen Herrn Gemahl?«
»Nein, von ihrem Vater«, gab Leone zurück. »Ich habe einen ihrer Soldaten ausgehorcht. Sie ist die Tochter des Grafen Léon von Morra. Der Name sollte euch ein Begriff sein.«
Darius pfiff durch die Zähne. »Die Sache fängt an, interessant zu werden.«
»Ich denke, wir sollten das Ganze als Missverständnis deklarieren und sie auf dem schnellsten Wege nach Morra zurückschicken«, sagte Leone. »Capitano?«
»Wir werden sehen«, war alles, was Santiago bemerkte. »Ich habe mich noch nicht entschieden.«
»Dachte ich es mir doch«, brummte Leone.
»Was denn, du kannst denken?«, gab Darius zurück.
»Sicher«, erwiderte Leone gelassen.
»Und was hast du dir gedacht?«, hakte Darius nach.
Santiago schüttelte wortlos den Kopf, nahm seinem Freund das Bündel Kerbhölzer ab und begann damit zu jonglieren.
Leone schenkte ihm ein bitteres Lächeln. »Gebt es zu, Monna Adelardis Auftauchen hat euch einen gehörigen Schrecken eingejagt.«
»Das Valle del Tasso zu bekommen war unsere erste Übung. Bei der Nächsten arbeiten wir schon viel sauberer, du wirst sehen«, erwiderte Darius.
»Die Frage ist, haben wir so viel Zeit? Ein Léon von Morra lässt sich mit Gauklertricks nicht aufhalten, oh edler Belladonna.«
»Silentium«, sagte Santiago.
Doch Darius war nicht zu bremsen. »Ein bisschen mehr als Gauklertricks haben wir schon zu bieten«, beschied er Leone in strengem Ton. »So viel solltest du inzwischen begriffen haben.«
Leone setzte zu einer bissigen Antwort an. Augenblicklich ließ Santiago seine Requisiten fallen: Kerbhölzer plumpsten auf Belladonnas und Leones Köpfe, ein Teil fiel in die Pferdetränke und bespritzte die Männer mit Wasser.
Beide wandten sich ihrem Capitano zu und starrten ihn erbost an.
Santiago, der nicht einen Wassertropfen abbekommen hatte, erwiderte die Blicke gelassen. »Ich dulde keinen Streit zwischen Waffenbrüdern«, sagte er. »Und ich pflege meine Befehle auch nicht zu wiederholen.« Damit drehte er sich um und ging davon.