"Nein, einige Fächer mussten wir ab der elften Klasse nicht mehr belegen", versuchte Jonathan seiner kinderlosen Tante Melinda erneut zu erklären, während diese an einem Plätzchen knabberte. "Geographie habe ich zum Beispiel seitdem nicht mehr." Tante Melinda schob ihre Brille wieder zurück auf ihre Nasenwurzel und schüttelte verständnislos ihren Kopf.
"Aber Geographie ist doch wichtig! Hättest du nicht alle Fächer weitermachen können?" Sie wedelte mit ihrem Plätzchen vor seiner Nase herum und Jonathan konnte nicht anders, als sich ein bisschen wie ein Hund zu fühlen.
„Nein, das hätte ich wahrscheinlich nicht gedurft und das wäre auch viel zu anstrengend gewesen.“ Wenn er sich das schon nur vorstellte - neben seinem ohnehin schon vollen Stundenplan auch noch die abgewählten Fächer belegen? Nein danke.
Jonathan sah seine Mutter schon von Weitem, als sie sich ihren Weg durch die Grüppchen suchte - in ihrer Rentierschürze stach sie eindeutig aus den anderen heraus. Sie strich sich ihre Hände an der Schürze ab bevor sie ihren Arm um seine Schulter legte.
"Jon, ich glaube es ist gerade noch ein Auto vorgefahren. Amelie wahrscheinlich." Er nickte verstehend und löste sich mit einem "Ich bin gleich wieder da", von Tante Melinda. Diese lächelte ihn an und erwiderte: "Mach nur mein Kleiner" bevor sie sich ihrer Schwester zuwandte.
Schon Sekunden später hatte sie Johnathans Mutter in ein Gespräch verwickelt, die ihm einen hilflosen Blick hinterher warf, doch er überließ sie mit einem schiefen Grinsen ihrem Schicksal. Tante Melinda zu entkommen, war meist ein Ding der Unmöglichkeit aber er war sich sicher, dass sein Vater und seine Schwester Olivia für ein paar Minuten allein in der Küche zurechtkommen würden.
Als Johnathan nun also die Haustür öffnete, entdeckte er tatsächlich ein Auto, das neu dazu gekommen zu sein schien. Nicht, dass er das bei der Masse an Fahrzeugen, die sich bereits in ihrer Straße angesammelt hatte, noch so genau sagen konnte, aber die Personen, die um das Auto herumwuselten, ließen es zumindest vermuten.
Pavels blonden Haarschopf entdeckte er recht schnell, auch wenn der sich hinter einem Blumenstrauß zu verstecken versuchte und so kam er der Familie entgegen.
"Ihr hättet doch nichts mitbringen müssen." Teresa, Pavels Mutter, stand ihm am nächsten und drehte sich mit einem strahlenden Lächeln zu ihm um.
Die gebürtige Tschechin schloss Jonathan fest in die Arme und musterte ihn anschließend neugierig.
"Wir haben uns eindeutig schon zu lange nicht mehr gesehen, so groß, wie du geworden bist." Bevor Frank, ihr Mann, einen Job in Köln angeboten bekommen hatte, wohnten sie noch in einer Straße, doch aufgrund der Entfernung hatten sie sich schon seit langer Zeit nicht mehr gesehen. Über die Jahre hatte er nur mit Pavel Kontakt gehalten, mit dem er sich bereits seit Kindertagen sehr gut verstand aber auch das war in letzter Zeit immer kürzer gekommen.
Jonathan überlegte gerade, ob es wohl zwei oder drei Jahre her war, seit er die Familie das letzte Mal gesehen hatte, als ihm etwas auffiel.
Da war noch eine vierte Person.
Die unverkennbar blonden Haare, die den jungen Mann als Teresas Sohn auswiesen, waren nicht zu übersehen, aber nichts desto trotz brauchte Jonathan einen Moment, um das Gesicht des jungen Mannes mit dem des schlacksigen Teenagers von damals zu verknüpfen.
"Marek!", erkannte er und musterte den anderen überrascht. "Ich wusste noch gar nicht, dass du nicht mehr in Finnland bist." Die schmalen Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, das ein wenig gequält wirkte.
"Ist auch eine lange Geschichte." Scheinbar wollte der andere lieber nicht darüber reden und so bot Jonathan stattdessen an, der Familie etwas abzunehmen, während sie einige Sachen aus dem Auto räumten. Teresa lehnte das höflich ab und so blieb ihm nichts anderes übrig, als zu warten. Sein Blick wanderte wieder zu Marek.
Seine Haare waren nicht mehr so kurz geschoren, wie er sie früher immer getragen hatte - mittlerweile hatte er an beiden Seiten seines Kopfes einen Undercut und die restlichen Haare waren an seinem Hinterkopf in einen kurzen Zopf zusammengefasst. Es stand ihm, befand Jonathan. Zwar ließ seine Frisur ihn ein wenig streng wirken, doch sie unterstrich auch seine markanten Gesichtszüge.
Auf jeden Fall war es erstaunlich, wie sehr er sich seit ihres letzten Treffens verändert hatte - allerdings war das nun auch schon einige Jahre her ...
"Mann, ist das schon voll hier", stellte Pavel fest, sobald sie das Wohnzimmer betreten hatten, in dem bereits eine beachtliche Geräuschkulisse herrschte. Der Blonde steckte seine Hände in die Hosentaschen, als er sich umsah.
"Wie viele kommen denn noch?"
Jonathan seufzte und versuchte die Gesichter zu Familien zusammen zu fassen, um sich einen Überblick zu verschaffen.
"Also so genau kann ich das auch nicht mehr sagen, aber Amelie sollte noch kommen und Martins Bande fehlt auf jeden Fall auch noch." Eine helle Strähne rutschte Pavel vor die Augen als er zu lachen anfing.
"Wie ich sehe ist also noch immer alles beim Alten." Jonathan konnte ihm da nur schmunzelnd zustimmen.
Wenn ihre gesamte Verwandtschaft zusammenkam, dann konnte das nur in Chaos enden - für etwas anderes waren sie einfach viel zu viele.
"Oh, ein neues Gesicht", sprach sie eine Stimme von der Seite an. Tante Magda hatte sich unbemerkt zu ihnen gesellt und sah an Jonathan und Pavel vorbei. Hinter ihnen stand noch immer Marek, der nicht so recht zu wissen schien, zu wem er sich am besten stellen sollte.
"Ich bin Magda, aber du kannst mich gerne Tante Magda nennen." Sie streckte Marek ihre zierliche Hand entgegen und betrachtete ihn ein wenig skeptisch, was sie allerdings unter ihrem Lächeln zu verbergen versuchte.
"Marek. Ich war für sechs Jahre in Finnland." Er schüttelte Tante Magdas Hand mit Bedacht und ließ es sich nicht anmerken, ob es ihm unangenehm war, so gemustert zu werden.
"Finnland?", sie zog überrascht ihre Augenbrauen hoch. "Aber da ist es doch so kalt." Marek zuckte nur mit den Schultern.
"Daran gewöhnt man sich. Mein bester Freund hatte- hat dort Verwandtschaft." Jonathan lauschte neugierig und fragte sich, was Marek wohl dazu bewegt hatte, nach Deutschland zurück zu kommen. Sechs Jahre waren immerhin eine lange Zeit gewesen.
"Wie auch immer", Tante Magda warf wieder und wieder Blicke in Richtung ihres Mannes, der zwischen vier Frauen ziemlich überforderte wirkte. "Ich glaube, ich muss da mal eingreifen. Bis später." Und damit schob das kleine Persönchen sich auch schon geschickt durch die Menschen.
"Ich gebe es ja nur ungern zu", begann Marek nach einem Moment der Stille und ließ seinen Blick von Person zu Person gleiten "aber irgendwie erkenne ich viel zu viele Gesichter hier nicht mehr wieder." Jonathan sah lächelnd zu ihm herüber.
"Ach, alle kann ich leider auch nicht zuordnen. Ich denke das ist bei einer so großen Familie aber auch nicht verwunderlich." Die hellen blauen Augen, die Pavels verdammt ähnlich sahen, richteten sich nun auf ihn, sodass Jonathan seinem Blick fasziniert standhielt.
"Schon, aber-" Marek kam nicht mehr dazu, seinen Satz zu vervollständigen, denn Olivias Stimme drang erstaunlich klar zu ihnen vor.
"Jungs, wir brauchen hier mal Hilfe!" Die drei sahen sich gegenseitig an und schoben sich dann möglichst schnell und vorsichtig zugleich zwischen einer Männergruppe und dem Weihnachtsbaum hindurch.
In der Küche standen tatsächlich nur Olivia und ihr Vater Noah am Herd, sodass ihre helfenden Hände mehr als nur willkommen waren.
Jonathans Vater schien nicht im Mindesten so überrascht wie sein Sohn, dass Marek wieder aus Finnland zurück war und so vermutete Jonathan, dass dessen Bruder Frank, Mareks Stiefvater, ihm wohl schon davon erzählt hatte.
In der nächsten halben Stunde waren sie damit beschäftigt, allerhand Dinge klein zu schneiden, den Tisch zu decken und mehrere Pfannen voller Würstchen zu braten, was unerwartet viel Zeit in Anspruch nahm.
Da alle, die aus der näheren Umgebung kamen, etwas mitgebracht hatten, fanden sich neben den Würstchen auch zahlreiche Salate, Beilagen und Desserts auf dem Tisch ein, der mit verschiedensten Arten von Stühlen ausgestattet war. Genügend Stühle im Haus aufzutreiben, war eine ziemliche Herausforderung gewesen und diese dann alle ins Wohnzimmer zu tragen, war auch kein Zuckerschlecken gewesen, das konnte Jonathan aus eigener Erfahrung sagen.
Sobald das Essen auf dem Tisch immer mehr wurde, fanden sich alle nach und nach auf den Stühlen ein und das Durcheinander legte sich.
Auch wenn es schön war, die gesamte Familie mal wieder zusammen zu sehen, zog sich das Essen dann doch ziemlich in die Länge. Alles wurde hin und her gereicht und bis die Würstchen mal wieder an ihrem Ende des Tisches ankamen, konnte es schonmal ein paar Minuten dauern.
Die Kinder wurden allerdings schnell hibbelig, nachdem die Bäuche so voll waren, dass auch nichts mehr von Omas Erdbeermousse hineinpasste und so leerte sich der Raum merklich, als die Erwachsenen sie aufstehen ließen. Die Wirbelwinde waren schon bald draußen, in den letzten Überresten des vor einigen Tagen gefallenen Schnees und so ließ auch die Lautstärke im Raum deutlich nach, was eine willkommene Abwechslung war.
So konnte man auch besser den Gesprächen folgen, die teilweise über einige Köpfe hinweg geführt wurden. Jonathan war erstaunt, wie viel man in überschaubarer Zeit an Neuigkeiten erfahren konnte und genoss es, den anderen lediglich zu zu hören.
Erst als auch Pavel aufstand, der sich zuvor mit seiner Oma über deren Kaninchen unterhalten hatte, fiel ihm auf, dass die Plätze neben ihm allesamt leer waren. Als er aufstand, um sich näher zu den Unterhaltungen zu setzen, bemerkte er eine Silhouette, die vor dem Terrassenfenster stand und nach draußen sah. Es war Marek.
Jonathan stellte sich neben den Größeren und sah mit ihm auf den matschigen Schnee, der im matten Licht des Sonnenuntergangs orange schimmerte.
"Alles in Ordnung?" Marek wirkte seltsam melancholisch, wie er dort so unbewegt in die Natur schaute.
"Ja. Ich vermisse nur den Schnee. Also richtigen Schnee." Jonathan war noch nie in Finnland gewesen, aber sicher lag dort meist mehr Schnee, als diese mickrige Schicht aus matschigem Weiß.
"Wieso bist du eigentlich wieder hier?" Der Blonde steckte seine Hände in seine Hosentaschen und wandte seinen Blick vom Schnee ab.
"Ach, das war kompliziert." Trotzdem sah er Jonathan an und schien nach den passenden Worten zu suchen.
"Ich bin damals mit meinem besten Freund rüber und ... wir haben uns gestritten, ziemlich heftig. Ich brauchte einfach einen Neuanfang."
Jonathan schwieg, als er Mareks Gesicht mustern konnte.
"Das tut mir leid", meinte er dann. Das tat es wirklich, aber scheinbar hatte Marek das schon zu häufig gehört, sodass sein leicht aufgewühlter Gesichtsausdruck sich wieder glättete und seine Gefühle verbarg.
"Ach, ich bin schon seit einigen Monaten wieder hier, das passt schon." Jemand drängte sich plötzlich stürmisch zwischen sie und sah zwischen Jonathan und Marek hin und her.
"Kommt ihr mit raus? Den Kleinen muss mal gezeigt werden, wie so eine richtige Schneeballschlacht aussieht!" Pavel zog gerade den Reißverschluss seiner Jacke zu und streifte sich ein Paar Handschuhe über.
"Wieso nicht?", meinte Jonathan und war schon auf dem Weg zur Garderobe als er Marek sagen hörte: "Macht nur. Ich bleibe lieber hier."
Überrascht blieb Jonathan stehen und blickte zurück.
"Komm schon, Jon hat mich früher immer fertig gemacht. Ich brauche diesmal deine Unterstützung." Als Marek sich fragend zu Jonathan umdrehte, grinste der ihn schief an. Pavel hatte nicht Unrecht, damals hatte Jonathan ihn das ein oder andere Mal schon ziemlich nass gemacht - im wahrsten Sinne des Wortes.
"Na gut. Da kann ich dir meine Hilfe wohl nicht verwehren." Marek folgte Jonathan zur Garderobe und Pavel strahlte hinter ihnen übers ganze Gesicht.
Dass Marek sich so schnell überzeugen lassen würde, hatte Pavel nun wirklich nicht erwartet, aber scheinbar war es eine gute Idee von seiner Mutter gewesen, ihren ältesten Sohn dazu zu zwingen, zum Familientreffen mit zu kommen.
Die ungewohnte Umgebung schien seine Verhaltensmuster wirklich ein wenig durchbrechen zu können. Oder vielleicht war es auch der Jugendliche, auf dem Mareks Blick schon wieder ruhte ...