Um den Supermarkt zu erreichen, mussten Jonathan und Marek lediglich der Straße folgen, einmal rechts abbiegen und noch einige kleinere Straßen überqueren. Bereits kurz nachdem sie losgelaufen waren, machte Marek sich allerdings schon am Reißverschluss seiner Jacke zu schaffen.
„An deutsche Temperaturen scheine ich nicht richtig angepasst zu sein“, meinte er, als er die Jacke aufschob und Jonathan sah zu ihm herüber. Schon beim Anziehen war ihm aufgefallen, dass Marek seine Kleidung aus Finnland mitgebracht haben musste, denn die Schuhe waren eine Mischung aus robustem Wanderschuh und gefüttertem Stiefel, in dem man sicher auch bei Minusgraden noch warme Füße hatte. Bei der Jacke sah es nicht anders aus - sie war aus dickem Stoff, wirkte wasser- und windabweisend und hielt für die milden Temperaturen scheinbar sogar zu warm.
„Dafür war dir in Finnland sicher nie kalt.“ Marek musste schmunzeln und sah Jonathan doch nicht an.
„Auf diese Weise nicht, nein.“ Überrascht legte dieser seinen Kopf schief.
„Das hätte ich nicht sagen sollen, sorry.“ Marek warf ihm einen kurzen Blick zu und zeigte ihm ein bedauerndes Lächeln.
„Wieso? Worauf wolltest du hinaus?“ Seit heute morgen wirkte Marek so anders, als Jonathan ihn gestern noch erlebt hatte und er fragte sich immer mehr, woran das wohl lag. Hatte es vielleicht etwas mit seinem Traum zu tun? Manche Menschen beeinflusste das noch einen ganzen Tag lang - er kannte das von Olivia.
„Ach“, begann Marek zögerlich „Finnland beschäftigt mich nur immer noch.“ Jonathan dachte daran zurück, was der andere am Vortag darüber erzählt hatte. Er war mit seinem besten Freund zusammen dorthin und eine heftige Auseinandersetzung mit ihm hatte Marek dazu gebracht, wieder nach Deutschland zu wollen - demnach musste es wirklich schlimm gewesen sein.
„Du wirkst so, als wärst du gerne dort gewesen.“ Marek seufzte, als er erkannte, dass sein Begleiter nicht vom Thema ablassen wollte, doch er schien sich dem zu ergeben und blockte nicht ab, wie Jonathan es eigentlich erwartet hatte.
„Ja, auf jeden Fall. Finnland war eine tolle Heimat. Die Menschen waren irgendwie so ganz anders als hier.“ Jonathan wartete bis ein Auto sie passiert hatte, bevor er weiterfragte.
„Was hat dich dann dazu gebracht, wieder zurück zu kommen?“ Marek schwieg eine ganze Weile und der andere hätte nur zu gerne gewusst, was in ihm vorging.
"Ich habe erkannt, dass es so nicht mehr weiter gehen kann“, begann Marek, sodass sich in Jonathan nur noch mehr Fragen auftaten.
„Ich habe mich nicht mehr ausreichend um mich selbst gekümmert und irgendwie wusste ich einfach, dass das in Finnland nicht mehr besser werden würde.“ Mareks helle Augen suchten nach Jonathans und der sah zum ersten Mal eine Schwere in dessen Blick, die ihn kalt erwischte.
„Ich weiß nicht, ob du die ganze Geschichte hören möchtest. Sie ist lang und nicht gerade für einen Weihnachtsfeiertag geeignet.“ Jonathan nickte. So viel hatte er mittlerweile erkannt. Hören wollte er die Geschichte schon, allerdings fragte er sich, ob Marek sie erzählen wollte, oder ob er es nur anbot, weil Jonathan nicht aufhören wollte nachzufragen.
„Nur wenn du darüber sprechen möchtest. Ich wollte dich nicht drängen, falls sich das so angefühlt hat.“
Mareks schmale Lippen verzogen sich leicht.
„Ein bisschen“, gab er zu. Doch bevor Jonathan zurückrudern konnte, wie er es vorgehabt hatte, redete der Ältere schon weiter.
„Schon gut. Ich denke ein kleiner Schubs hier und da würde mir gut tun. Ich würde es dir gern erzählen, wenn wir wieder zurück sind.“ Sie wichen gerade einer alten Dame aus, die ihre Post aus dem Briefkasten holte und Jonathan verstand.
„Okay.“ So eine persönliche Geschichte wollte er sicher nicht auf offener Straße ausplaudern.
Also suchten sie im Supermarkt nach den Keksen, die sich zu verstecken schienen und stellten sich dann an der Kasse an.
„Was ist?“, fragte Marek leise, als Jonathans Blick mal wieder zu ihm gehuscht war.
„Nichts“, erwiderte er schnell und heftete seinen Blick stattdessen auf ihren Einkauf, der sich auf dem Band ruckelnd nach vorne bewegte.
„Habe ich was im Gesicht?“ Marek fuhr sich sogleich mit den Fingern über seine Haut und versuchte anscheinend etwas zu ertasten, was gar nicht da war.
„Nein, hast du nicht“, beruhigte Jonathan den anderen schmunzelnd. Marek sah so aus, als würde er noch etwas sagen wollen, schluckte es dann allerdings herunter.
Die beiden brachten die gekauften Sachen ins Haus und begaben sich dann in den Garten. Marek hatte scheinbar schon eine genaue Vorstellung davon, wo er hin wollte und so folgte Jonathan dem Älteren. Er führte Jonathan an der Hecke vorbei, die den Schuppen vom Garten trennte und ließ sich auf die Bank sinken, die vor diesem stand. Hier waren sie vor neugierigen Blicken aus dem Haus geschützt und würden sicher so schnell nicht gestört werden.
Jonathan wandte sich Marek zu und musterte den Älteren, der noch schweigsamer geworden war als zuvor. Er schien in Erinnerungen versunken und tat sich sichtlich schwer, sie mit jemandem zu teilen.
„Yanis und ich haben uns während des Studiums kennengelernt und wuchsen mit der Zeit immer näher zusammen“, begann er und Jonathan hörte aufmerksam zu.
„Er hatte finnische Wurzeln und so stand für ihn von Anfang an fest, dass er versuchen würde, nach dem Abschluss eine Stelle in der Firma seines Onkels zu bekommen. Erst ziemlich spät war dann klar, dass ich versuchen würde mitzukommen.“ Marek schlug seine Beine übereinander und ließ seinen Blick gedankenversunken schweifen.
„Ich glaube irgendwie war uns schnell klar, dass das zwischen uns mehr war als nur Freundschaft aber wir haben lange gebraucht, um uns das einzugestehen.“ Die hellen Augen hefteten sich unerwartet bestimmt auf Jonathan, der hoffentlich nur halb so überrascht aussah, wie er eigentlich war. Dass Marek schwul war, hatte er nicht gedacht.
„Yanis hatte schon seitdem ich ihn kennengelernt hatte ein Problem mit sich und seinem Körper und auch wenn wir unheimlich schnell zusammengewachsen waren, blieb das noch lange ein Thema, über das er nicht sprechen wollte.“ Jonathan versuchte zu verstehen, was das genau heißen sollte, doch wollte Marek nicht unterbrechen.
„Kurz vor unserem Abschluss hat er mir dann offenbart, dass er sich als non-binary identifiziert und hat mich ganz schön damit überrascht, als er dann zu weinen anfing. Ich hatte ihm lediglich gesagt, dass ich so etwas schon vermutet hatte und froh sei, dass er es mir endlich anvertrauen konnte. Scheinbar hatte er nicht damit gerechnet, dass ich so ruhig bleiben würde.“ Das Gespräch der beiden konnte Jonathan sich ziemlich gut vorstellen. Marek schien ein sehr aufmerksamer und ruhiger Mensch zu sein und da schien so eine gefasste Reaktion sehr passend.
„Die nächsten Wochen waren dann ein ganz schönes Durcheinander. Wir hatten uns beide auf eine Stelle bei der Firma seines Onkels beworben und Yanis veränderte sich mit gewaltigen Schritten.“ Marek verschränkte seine Hände miteinander und wandte sich Jonathan etwas mehr zu, sah ihn an, während er sprach.
„Anfangs war es verdammt ungewohnt ihn mit Yami anzusprechen. Es war ein komisches Gefühl ihn dabei zu beobachten, wie er sein Äußeres nach und nach veränderte aber es hat mich auch verdammt glücklich gemacht. Endlich hatte er aufgehört, jemandem etwas beweisen zu wollen und wurde ein bisschen mehr er selbst.“ Jonathan musterte den anderen beeindruckt. Zuzusehen, wie jemand sich so veränderte, war auf keinen Fall leicht und so positiv damit umzugehen aus Jonathans Sicht eine große Leistung.
„Damals hatte ich noch volles Verständnis dafür, dass ihn das psychisch belastete und er Zeit brauchte, um mit seiner neuen Erkenntnis über sich selbst ins Reine zu kommen, aber ... irgendwie ist das nie passiert.“ Ein Hauch von Verzweiflung mischte sich in Mareks Wort.
„Wir hatten in Finnland eine tolle Wohnung gefunden und erstaunlich schnell neue Bekanntschaften geschlossen, die Yami auch so akzeptierten, wie er war, aber irgendwie blieb da in ihm immer noch diese Unsicherheit und Unzufriedenheit mit sich selbst, die zu immer heftigeren Stimmungsschwankungen führte.“
„Die ersten Monate habe ich mir darüber noch nicht so viele Gedanken gemacht und einfach versucht sicherzustellen, dass er sich von mir akzeptiert und unterstützt fühlt. Ich habe seine kleinen Ausbrüche einfach ignoriert, aber andere waren da nicht so geduldig. An einem Freitag Abend hat er sich so stark mit seinem Onkel in die Haare bekommen, dass der ihn kündigte. Er hatte Yami vorgewarnt gehabt, aber das hatte leider nicht viel gebracht.“ Marek schwieg eine Weile und starrte lediglich in die Hecke.
„Ich denke das war der Punkt, an dem alles den Bach runter ging. Yami richtete seine Wut auf sich selbst, anstatt sie raus zu lassen und ich kam bald schon nicht mehr richtig an ihn heran. Zwar habe ich noch versucht, Hilfe zu suchen, aber die wollte er nicht annehmen. Er schien innerlich so ... zerrissen zu sein, dass er alles einfach abschmetterte.“ Marek seufzte und Jonathan wurde das Herz schwer.
„Irgendwann wurde mir dann klar, dass wir beide einander eher schadeten als halfen und ich habe versucht ihn darauf anzusprechen. Erst schien es, als könnten wir ein ganz normales Gespräch führen, aber sobald wir auf seine Probleme zu sprechen kamen, blockte er wieder ab. Ich habe für ein paar Tage Abstand gesucht und bin in eine WG von Freunden von uns gezogen. Aus den Tagen wurden Wochen und mir wurde klar, dass es zwischen uns nicht mehr besser werden würde und dass auch ich in keinem guten Zustand war. Dann bin ich wieder zurück nach Deutschland.“ Jonathan schwieg, mit einem Kloß im Hals. Er konnte sich kaum vorstellen, wie schwer es Marek wohl gefallen sein musste zu gehen und was er in Finnland alles durchgemacht hatte. Einige Details hatte er sicher ausgelassen, die Jonathan nur noch betroffener gemacht hätten.
„Manchmal gebe ich mir die Schuld dafür. Dann denke ich: hättest du früher versucht, einen Psychologen einzuschalten, oder hättest du doch bloß Yamis Onkel überzeugen können, ihm noch eine Chance zu geben.“ Marek fuhr sich mit seiner Hand durch die Haare, die er heute offen trug.
„Ich weiß, dass es niemandem etwas bringt, im Nachhinein noch nach einem Schuldigen zu suchen, aber die Gedanken sind schwer abzuschütteln. Ich versuche irgendwie zu akzeptieren was passiert ist und daraus für die Zukunft zu lernen.“ Leise Schritte kamen näher, begleitet vom Rascheln einer sich bewegenden Jacke und Marek brach ab.
Es war Nina, die erstaunt inne hielt, als sie Marek und ihn dort sitzen sah. Die dunklen Augen musterten die beiden für einen Moment und dann blitzte Erkenntnis in ihnen auf.
„Ich hatte dich gesucht, Marek, aber du scheinst dich ja in wunderbarer Gesellschaft zu befinden. Wir sehen uns sicher später nochmal.“ Nina lächelte sie an und strich sich die kurzen Haare aus der Stirn.
„Danke. Ich suche dich dann“, erwiderte Marek und die beiden tauschten einen langen Blick. Dann war Nina auch schon wieder hinter der Hecke verschwunden und wahrscheinlich wieder auf dem Weg zum Haus.
„Sie war damals eine große Hilfe für mich“, offenbarte Marek ihm. „Wir kennen uns schon seid wir klein sind und als das mit Yami immer schlimmer wurde, erzählte ich ihr von seinen Problemen. Ich hatte gehofft, sie sei auch non-binary und könne mir vielleicht einen Tipp geben, wie ich ihm am besten helfen könnte. Ich war mir verdammt unsicher, ob ich nicht falsch lag, weil ich aus ihrem Äußeren keine vorschnellen Schlüsse ziehen wollte aber ich behielt glücklicherweise recht.“ Ein feines Lächeln legte sich auf Mareks Lippen, als er daran zurückdachte. Nina und er schienen sich wirklich sehr nahe zu stehen.
„Sie bezeichnete sich meist als ‚Enby‘, wenn wir auf das Thema zu sprechen kamen und erzählte mir, wie sie damit umging und wie sie gelernt hatte, sich zu akzeptieren. Zu viel möchte ich dir nicht erzählen, ohne vorher mit ihr gesprochen zu haben aber grob gesagt reichte es ihr zu wissen und zu akzeptieren, wer sie ist, um glücklich zu sein.“ Jonathan nickte, als er sich Nina vor Augen rief. Wahrscheinlich hatte sich ihr Selbstbewusstsein mit der Zeit darauf aufgebaut.
„So ganz habe ich nie verstanden, wieso aber ihr ist es nicht wirklich wichtig, dass andere Bescheid wissen. Hauptsache man behandelt sie einfach ganz normal.“ Er vermerkte sich innerlich, dass er daran denken sollte, wenn er mit Nina das nächste Mal sprach.
„Danke, dass du mir zugehört hast.“ Jonathan sah den Älteren ungläubig an.
„Ich sollte mich wohl eher bedanken, dass du es mir erzählt hast. Immerhin kennen wir uns ja eigentlich nur flüchtig.“ Mareks Lippen verzogen sich zu einem Lächeln und die hellen Augen hielten Jonathans Blick fest.
„Das kann sich ja noch ändern.“