So schnell wie Jonathan gehofft hatte, konnte er sich allerdings nicht hinlegen, denn er hatte ein wichtiges Detail vergessen - sie hatten die Matratzen noch nicht verteilt. Also wanderte für die nächsten Minuten Matratze um Matratze über die Flure und den Glücklichen, die eine Luftmatratze mitgebracht hatten, wurden neidische Blicke zugeworfen.
In Jonathans Zimmer befanden sich nach der Umräumaktion noch eine Luft- und eine normale Matratze - eine davon wurde von Pavel belegt und eine von Darius, einem Teenager, der längst bereit zum Einschlafen wirkte.
Deshalb fackelten sie nicht lange und machten auch gleich das Licht aus, sobald sie es alle geschafft hatten, sich fertig zu machen - einen Platz in einem der Bäder zu ergattern, war bei dem Andrang nicht einfach gewesen.
Als es dann bei ihnen an der Tür klopfte, wo es doch gerade ruhiger im Flur geworden war, kommentierte Jonathan das mit einem ungehaltenen Brummen. Er tastete nach seinem Handy und leuchtete in Richtung Tür, als diese ein Stück aufgeschoben wurde.
"Ist hier noch Platz?", flüsterte eine bekannte Stimme und Jonathan ließ den Lichtkegel einmal durchs Zimmer schweifen.
Darius hatte sich Richtung Wand gedreht und war völlig unter seiner Decke vergraben, doch Pavels Matratze könnten sie sicher noch ein Stück schieben.
"Ja, mit ein bisschen schieben sollte das noch passen", murmelte Jonathan und hievte sich aus seinem wunderbar warmen Bett. Marek bugsierte seine Luftmatratze mitsamt Decke irgendwie durch die Tür und schloss diese dann leise hinter sich, bevor er Jonathan folgte.
"Danke. Drüben war es einfach zu voll." Pavel hatte seine Matratze schon ein Stück beiseite geschoben, als die anderen bei ihm ankamen und so fand auch Mareks Luftmatratze schnell ihren Platz.
Sobald Jonathan sich wieder unter seine Decke gekuschelt und seine Augen geschlossen hatte, hatte ihm der Schlaf fest im Griff.
Den konnte er allerdings nicht lange genießen, denn etwas riss ihn schon bald aus seinen Träumen. Jonathan richtete sich leicht orientierungslos auf und versuchte den lauten Atem jemandem zuzuordnen. Auf ein lautes Rascheln folgte das Aufflammen eines Handybildschirms und Pavels leise Stimme.
"Hey, nur ein Traum, keine Panik." Zuerst dachte Jonathan, die Worte seien an ihn gerichtet und wollte sich schon wieder hinlegen, doch dann antwortete Marek: "Sorry. Danke fürs Aufwecken." Seine Stimme klang noch ein wenig atemlos und es raschelte erneut.
"Alles in Ordnung bei euch?", fragte Jonathan in die Dunkelheit und versuchte irgendetwas zu erkennen, doch Pavels Handybildschirm spendete dafür nicht genug Licht.
"Ja, alles gut, war nur ein Albtraum", flüsterte Marek, wahrscheinlich um Darius nicht zu wecken.
Deutlich beruhigter legte Jonathan sich wieder hin und lauschte noch eine Weile auf Mareks sich beruhigenden Atem, bevor der Schlaf ihn wieder einholte.
Am nächsten Morgen weckte ihn das leise Quietschen seiner Tür, als sie von jemandem aufgeschoben wurde. Das Licht, dass durch den Spalt drang, ließ ihn einige Male blinzeln, bis sein Hirn das Bild scharfstellen konnte. Jemand hatte seinen Kopf ins Zimmer gestreckt und fragte: "Jon?"
Es war seine Mutter, die die Tür zögerlich noch ein Stück weiter aufschob, um im Zimmer ihres Sohnes etwas erkennen zu können.
"Bin wach ...", murmelte Jonathan verschlafen und setzte sich langsam auf. Wie spät war es denn?
"Guten Morgen. Ihr solltet bald runterkommen, sonst ist das Frühstück noch alle, bevor ihr etwas davon abbekommen konntet." Leise verließ sie das Zimmer wieder und ließ die Tür einen Spalt weit offen.
Tiefer, gleichmäßiger Atem verriet Jonathan, dass noch jemand anderes im Zimmer war und so bahnte er sich behutsam seinen Weg durch den Raum.
Als er die Vorhänge beiseite schob, flutete Sonnenschein das Zimmer und er kniff seine Augen zusammen. So hoch, wie die Sonne schon am Himmel stand, war es definitiv nicht mehr früh am Morgen und außerdem ließ der beinahe vollständig geschmolzene Schnee vermuten, dass die Sonne schon seit einigen Stunden schien.
Als Jonathan sich wieder umdrehte, erinnerte ihn ein träges Brummen an seinen Gast und er entdeckt sogleich Marek, der halb auf seiner und halb auf Pavels Matratze lag. Seine Decke hatte sich unordentlich um seinen Körper gewickelt und seine blonden Haare waren ziemlich zerzaust.
"Guten Morgen", meinte Jonathan, als er den anderen dabei beobachtete, wie er sich wieder zurück auf seine Luftmatratze rollte und sich die Haare aus dem Gesicht strich.
"Morgen ..." Mareks Tonfall ließ vermuten, dass er kein Morgenmensch war und so beschloss Jonathan, ihn weitgehend in Ruhe zu lassen.
"Das Frühstück ist schon fertig. Wir sollten wohl nicht zu lange trödeln, um noch etwas ab zu bekommen." Bei dem Gedanken an seine hungrige Verwandtschaft, die gemeinsam am Tisch saß und alles auffutterte, verzogen sich seine Lippen amüsiert. Ja, das konnte er sich nur zu gut vorstellen.
"Okay ..." Jonathan schlängelte sich zwischen den Matratzen hindurch und holte sich frische Kleidung aus seinem Schrank. Währenddessen spürte er Mareks Blick auf sich, doch sobald er sich umdrehte, hatte der Ältere sich wieder abgewandt.
"Alles in Ordnung?" Marek hatte seine Ellenbogen auf seinen angezogenen Knien abgestützt und fuhr sich mit den Händen mehrmals über sein Gesicht, bevor er sie im Nacken verschränkte.
"Hm?" Die hellen Augen begegneten kurz Jonathans Blick. "Ja, alles gut. Ich habe nur unruhig geschlafen und muss erstmal richtig wach werden." Jonathan musterte den anderen noch einen Augenblick und meinte einen Streifen zu erkennen, der von seinem Augenwinkel die Wange hinab führte. Dann drehte er sich um und ging zur Tür - das war bestimmt nur ein Abdruck, weil er so lange auf einer Seite gelegen hatte.
"Ich gehe schonmal vor." Darauf erhielt er keine Antwort mehr, bevor er die Tür hinter sich schloss und Marek mit sich allein ließ.
Kurz darauf folgte Jonathan schon der Treppe ins Erdgeschoss, aus dem fröhliches Stimmengewirr zu ihm vordrang. Das Lächeln brauchte einen Moment länger als sonst, bis es sich auf seine Lippen schlich, doch sobald er Olivia entdeckte, die sich in einen roten Schal gehüllt hatte und eine Weihnachtsmütze trug, war gegen das Lächeln nichts mehr zu machen. Einige wünschten ihm einen guten Morgen, andere waren zu sehr in ein Gespräch vertieft, um ihn zu bemerken. Pavel hingegen hatte ihn sofort entdeckt.
"Na du Langschläfer?", begrüßte er ihn und deutete auf den noch - oder schon wieder - leeren Stuhl neben sich. "Ich hätte nicht gedacht, dass noch jemand so lange schlafen kann wie Marek."
Pavel reichte ihm den Brotkorb, sobald er saß und Jonathan nahm sich eines der letzten dunklen Brötchen.
"Er scheint nicht wirklich ein Morgenmensch zu sein", meinte Jonathan und musterte den Jüngeren. Seine blonden Haare waren deutlich länger als die seines Bruders und das Gesicht noch deutlich weicher. Der verschmitzte Zug, der immer auf seinen Lippen lag, gab schon einen Hinweis auf seinen Charakter.
"Naja, er braucht seine Zeit, bis er ansprechbar ist, aber dann ist er meist genießbar." Passend dazu kam nun auch Marek die Treppe herunter. Er sah schon deutlich besser aus als zuvor aber wirkte trotzdem noch nicht so entspannt wie noch am Abend zuvor.
"Wir haben dich schon vermisst!", meinte Pavel grinsend. Sein Bruder zog nur eine Augenbraue hoch und warf ein "Guten Morgen" in die Runde.
Marek fand weiter hinten am Tisch noch einen Platz und aß weitgehend schweigend. Pavel schien Recht zu behalten mit seiner Behauptung, dass sein Bruder morgens seine Zeit brauchte, bis er wieder er selbst war.
"Wann fahrt ihr wieder?", fragte Jonathan während Pavel sich einen Ast Weintrauben von der Staude abbrach.
"So richtig weiß ich das auch noch nicht. Meine Eltern sind da spontan, was sowas angeht." Ja, an so etwas erinnerte er sich - Teresa und Frank waren schon damals keine Freunde des Pläneschmiedens gewesen.
"Also von mir aus könnt ihr noch bleiben." Pavel lachte und steckte sich dann eine weitere Weintraube in den Mund.
"Na dann bleiben wir bestimmt noch."
Als sie später die Überreste des Frühstücks in die Küche trugen, bekam Jonathan doch einen kleinen Schreck. So viel dreckiges Geschirr auf einem Haufen hatte er auch schon lange nicht mehr gesehen. Die Spülmaschine wusch bereits fleißig eine Ladung Geschirr und doch stapelten sich immer noch Teller, Besteck und anderes Frühstückszubehör in der Spüle.
"Bin ich froh, dass wir nicht per Hand abwaschen müssen", murmelte Jonathan als er seinen Teller einfach auf den Stapel stellte.
"Also dann würde ich wahrscheinlich nicht mehr bleiben", warf Pavel ein.
Hinter ihnen begann jemand zu lachen, sodass die beiden sich umdrehten - es war Jonathans Vater.
"Morgen, Papa." Er brachte noch mehr dreckiges Geschirr und stellte es ab, bevor er sich den Teenagern zuwandte.
"Guten Morgen, ihr beiden." Er sah sie für einen Moment belustigt an, bevor er sich an etwas zu erinnern schien.
"Könntet ihr kurz zum Supermarkt gehen und ein paar Dinge besorgen? Die Kekse sind ausgegangen und für die Eierkuchen heute Abend haben wir nicht mehr genug Milch. Die ganzen Kaffeetrinker haben die schneller verbraucht als wir blinzeln konnten." Jonathans Vater deutete auf die leeren Tassen, die noch darauf warteten, gespült zu werden.
"Kein Problem", versicherte Jonathan, doch Pavel wurde unruhig.
"Eigentlich wollte ich jetzt gleich zu Sören und Paula. Wir haben uns auch schon ewig nicht mehr gesehen." Jonathan wollte gerade anbieten, dass er auch allein gehen könne, als eine andere Stimme sich einmischte.
"Ich kann mitgehen", meinte Marek, der ebenfalls sein Geschirr in den Händen hielt.
"Das ist nett von euch, danke." Jonathans Vater lächelte Marek erfreut an und räumte dann den Tisch weiter ab.