"Hey, das ist unfair", beschwerte Jonathan sich lachend, als er sich mit seinen Armen gegen die Schneeballflut abzuschirmen versuchte. In der bereits einsetzenden Dämmerung konnte man langsam nicht mehr erkennen, wer wer war und so war die anfangs als ein Teambattle gestartete Schneeballschlacht bald zu einem "jeder gegen jeden" geworden. Gerade für die Kleinen war es natürlich schwer, Pavel, Marek oder ihn richtig zu erwischen, weil sie nicht nur mit ihrer Schnelligkeit sondern vor allem durch ihre Größe einen ordentlichen Vorteil hatten und so nutzten sie nun ihre Chance und stürzten sich alle gleichzeitig auf ihn.
Während Jonathan erneut eine Ladung Schnee in den Nacken rutschte und das unterdrückte Kichern seine Angreiferin verriet, quietschte jemand anderes überrascht auf und rannte dann lachend an ihm vorbei.
Jonathan hörte jemanden fluchen, als er halb blind vor seinen Angreifern zu flüchten versuchte. Für einen Moment schien es, als wäre sein Plan erfolgreich, doch dann traf ihn ein Schneeball an seiner Schulter und sogleich ein weiterer an seinem Bein. Jonathan versuchte, sich die letzten Überreste von Schnee aus seinem Gesicht zu wischen und setzte zum Gegenangriff an.
Sein erster Schneeball verfehlte sein Ziel, doch der zweite traf und brachte das kurze Etwas zum Straucheln und letztlich zum Fallen.
Bestürzt eilte Jonathan auf den oder diejenige zu und kassierte nebenbei noch einen weiteren matschigen Schneeball. Neben Leon, den er nun an seiner Stimme erkannte, hatte sich bereits jemand hingehockt.
"Geht's?", fragte Marek den Kleinen gerade, als auch Jonathan bei den beiden ankam.
"Ja, alles gut. Ich bin nur irgendwo hängen geblieben." Leon klopfte sich die Hose ab und stürmte dann weiter, als wäre nichts passiert.
"Danke für's Helfen", meinte Jonathan. Marek wollte gerade etwas erwidern, als ihn ein Schneeball so hart am Rücken traf, dass er einen Schritt nach vorn stolperte. Der konnte nur von einem sein ...
"Na warte", flüsterte der Blonde, bevor er ordentlich Schnee zusammen kratzte.
"Ihr saht so aus, als würdet ihr gemeinsame Sache machen!" Rief ihnen eine durchaus bekannte Stimme zu und da flog Mareks Schneeball auch schon erstaunlich zielgenau auf seinen Bruder zu. Der drehte sich gerade noch so, dass ihn der Schnee nur an der Seite traf und ging schnell hinter dem Jasmin-Busch in Deckung, den Jonathans Mutter so eifrig pflegte.
Mia, ein vierjähriger Wirbelwind, tauchte hinter der Hecke auf und machte sogleich quitschend wieder kehrt, als sie Jonathan und Marek beieinander stehen sah. Im Gegensatz zu Marek, dessen Jacke sicherlich für finnische Temperaturen ausgelegt war, erzitterte Jonathans gesamter Körper bei der nächsten kalten Böe.
Marek schien das zu bemerken und rieb ihm über den Rücken, was das Ganze allerdings nur schlimmer machte.
"Nicht! Sonst rutscht der Schnee nur noch tiefer!" Augenblicklich hörte Marek damit auf und Jonathan versuchte ziemlich erfolglos den Schnee aus seinem Nacken zu fischen, doch dazu war der bereits zu weich.
"Ich denke wir sollten langsam reingehen. Wenn selbst du schon durchweicht bist, sieht es bei den Kleinen sicher nicht besser aus."
So holten die beiden Pavel aus seinem Versteck und liefen rufend den Garten ab, um auch wirklich keinen Knirps in der Kälte zu vergessen. Manchmal war es schwierig, dass Lachen der Kleinen zu übertönen aber nach einigen Minuten standen sie alle zusammengedrängt im Flur und fragten sich, wo sie die nassen Sachen am besten unterbrachten, bis sie wieder trocken waren.
Mithilfe der Erwachsenen waren die Kleinen schnell aus ihren nassen Jacken befreit und diese zum Trocknen im Haus verteilt. Bei Jonathan allerdings reichte das Ausziehen der Jacke wie bei einigen anderen nicht aus und so wollte er gerade in seinem Zimmer nach passenden Hosen und Pullis suchen, als seine Oma ihn abfing.
"Wo willst du denn hin? Manfred wollte doch noch mit dir reden." Jonathan versuchte das Zittern zu unterdrücken und deutete auf sein nasses Shirt, dem man aufgrund der dunklen Farbe allerdings nicht wirklich ansehen konnte, dass es nass war.
"Ich hole nur schnell ein paar Wechselsachen, dann kann ich Opa suchen." Sofort blitzte Verständnis in ihren tiefliegenden Augen auf und ein weiches Lächeln machte sich auf ihren Lippen breit.
"Dann zieh doch gleich deinen neuen Pullover an, der wärmt dich sicher schnell wieder auf." Seine Oma redete von dem selbstgemachten Teil, das so wunderschön hellbraun war und Jonathan schluckte. Eigentlich hatte er gehofft, dass er aus der Sache so heraus kommen würde, wie immer - indem er ihr erzählte, dass er ihren Pulli im Haus überzog, wenn ihm kalt wurde.
Vor seiner gesamten Verwandtschaft hatte er ihn allerdings nicht tragen wollen.
"Oh, gute Idee." Falls seine Oma bemerkte, dass seine Begeisterung nur gespielt war, dann zeigte sie ihm das auf jeden Fall nicht, denn sie griff ihm nur an die Wange und ging dann zum Tisch zurück, an dem sich eine Gruppe älterer Herrschaften zusammengefunden hatte.
In seinem Zimmer angekommen, verschwendete Jonathan keine Zeit und zog die nasse Kleidung aus. Er warf sie erst einmal in eine Ecke und zog sich eine neue Jeans und ein neues Shirt an. Mit einem zweifelnden Blick griff er dann nach dem Weihnachtsgeschenk seiner Oma und streifte es sich mit einem Seufzen über - es half ja nichts. Immerhin würde er ihn wieder ausziehen können, sobald ihm wärmer war und seine Oma ihn eine Weile damit rumlaufen gesehen hatte.
Jonathan hing seine nassen Sachen im Bad auf und suchte dann nach Sachen, die auch den Kleinen nicht sofort vom Leib rutschen würden.
Am Ende kam er kaum noch die Treppe herunter, weil er hinter all den Pullis nichts mehr sehen konnte, doch zum Glück war ihm jemand entgegen gekommen und nahm ihm etwas ab.
"Danke." Er erkannte Olivias rundes Gesicht, das ein amüsiertes Lächeln zierte und ließ sich davon prompt anstecken.
"Nicht, dass du uns noch die Treppe runterfällst." Ihr Blick wanderte zu seiner Brust und um ihre Augen bildeten sich kleine Fältchen als sie ein Lachen unterdrückte.
"Man bin ich froh, dass sie mir keine mehr schenkt." Damit huschte sie auch schon die Treppe herunter und die langen Haare flogen ihr wild hinterher.
Seitdem Olivia begonnen hatte, sobald es kalt wurde beinahe ununterbrochen Schals zu tragen, hatte ihre Oma beschlossen, sie brauche keine Pullis mehr.
Vielleicht sollte er das auch einmal ausprobieren, überlegte Jonathan, bevor er grinsend den Kopf schüttelte. An Olivia mochten diese bunten Tücher ja gut aussehen, aber an sich selbst konnte er sich sowas überhaupt nicht vorstellen.
Sobald er im Wohnzimmer war, erkannte er, wohin er die Sachen bringen musste - auf der Couch hatte sich ein wild schnatterndes Decken-Kinder-Knäuel gebildet, neben dem er die warmen Pullis einfach ablegte.
"Sucht euch einfach raus, was euch gefällt." Die ersten stürzten sich begeistert auf die Auswahl, aber einige schienen sich auch sehr auf der Couch wohlzufühlen.
"Oh, wow, der ist ja ... stylisch", mischte sich Pavels Stimme von hinten ein. Als Jonathan sich umdrehte, konnte er den anderen dabei beobachten, wie er den braunen Sweater skeptisch musterte.
"Der ist von meiner Oma." Mehr schien es da nicht zu erklären zu geben, denn Pavel nickte grinsend - Jonathan meinte allerdings auch einen Hauch von Mitleid in seinen Augen zu erkennen.
"Marek!", rief eine weibliche Stimme, die Jonathan nicht zuordnen konnte. Als er sich der Stimme zuwandte, konnte er beobachten, wie Marek sich zu einer jungen Frau hinunterbeugte, die ihn sogleich fest in die Arme schloss.
"Kennst du sie?", fragte er Pavel, der sich nun ebenfalls umdrehte.
"Das ist Nina. Die beiden kennen sich schon seit Jahren." Jonathan fragte sich noch, wieso er Nina nicht wirklich zuordnen konnte, als er wenige Meter weiter Martin entdeckte. Der Glatzköpfige hatte vier Töchter und brachte sie allein über die Runden, nachdem er sich von seiner Frau getrennt hatte.
Seitdem hatte Jonathan ihn und damit auch seine Töchter nicht mehr gesehen, doch das konnte er gut nachvollziehen - es musste schwer sein, für fünf Leute zu sorgen und er bewunderte Martin dafür, dass er trotz dessen immer noch so herrlich laut über Opa Manfreds Witze lachen konnte.
"Kommst du mit?", fragte Pavel ihn und zog eine Augenbraue nach oben, als er nicht gleich antwortete.
"Achso, na klar." Gemeinsam näherten sie sich Nina und Marek, die nur einen Schritt von der Keksschachtel auf der Komode entfernt standen, die schon von Tante Melinda geplündert worden war.
Es erstaunte Jonathan, Marek so offen lachen zu sehen, wo er doch die meiste Zeit ein wenig in sich zurückgezogen wirkte. Insgeheim fragte er sich, ob die beiden wohl ein Paar waren, doch darüber wollte er nicht vorschnell mutmaßen - es ging ihn ja auch nichts an.
"Hey, Pavel, lange nicht gesehen!" Nina hatte sie schnell bemerkt und begrüßte nun auch Mareks Bruder mit einer herzlichen Umarmung.
"Und wer bist du?" Die warmen, braunen Augen hefteten sich neugierig auf Jonathan.
"Ich bin Jonathan, Lilys und Noahs Sohn." Ihr strahlendes Lächeln verblasste nicht im Mindesten, als sie eifrig nickte und ihre kurzen, dunklen Haare damit zum Wippen brachte.
"Stimmt, das sieht man ein bisschen!" Damit musterte sie ihn ein wenig genauer, bevor sie ihn auch kurz in die Arme schloss.
"Ich bin Nina", stellte sie sich ihm dann vor und Jonathan brachte nicht viel mehr als ein Lächeln zustande.
"Wir sind erst seit einer halben Stunde hier - Jule ist nicht aus dem Bett gekommen." Ein kleines Mädchen drehte sich um und streckte ihnen die Zunge raus.
"Ihr seht irgendwie nass aus. Ist irgendwas passiert?" Die zierliche junge Frau sah zwischen ihnen hin und her - zwischen ihren Haaren, um genau zu sein - und vergrub ihre Hände in den Taschen ihrer Jeansjacke.
"Das ist Pavles Idee zu verdanken, mit den Kleinen eine Schneeballschlacht zu veranstalten", klärte Marek sie auf und Nina verzog sogleich den Mund.
"Da hätte ich nur zu gerne mitgemacht! Wäre Jule nicht nur so ein Morgenmuffel." Sie warf ihrer kleinen Schwester einen langen Blick zu, aber Jonathan übersah nicht, wie liebevoll dieser war.
Nina brachte sie noch einige Male zum Lachen, doch Jonathan musste sich bald aus der Runde verabschieden, um Opa Manfred zu suchen, der scheinbar noch etwas Wichtiges mit ihm zu besprechen hatte. Es stellte sich heraus, dass es um Olivias Geburtstag ging, der Ende Januar war und so beantwortete Jonathan die Fragen seines Opas geduldig, während er selbst überlegte, was er seiner Schwester wohl schenken würde ...
Der Abend neigte sich langsam dem Ende, was man vor allem den Kindern anmerkte. Leon und ein junges Mädchen waren einfach auf der Couch eingeschlafen, einige liefen ungewohnt kraftlos zwischen den Erwachsenen herum und wieder andere wurden quengelig.
Also wurden die letzten Gespräche langsam beendet und es wurde sich ans Aufteilen gemacht, wer wo übernachten würde. Sowohl Jonathans Oma als auch Tante Magda und ihr Mann wohnten nur wenige Straßen entfernt und konnten einige Personen aufnehmen.
Zuerst bildeten sich kleine Gruppen, die nicht auseinander gerissen werden wollten - vor allem kleinere Kinder und ihre Eltern - und dann mussten diese nur noch möglichst effizient auf die jeweilige Anzahl der Schlafmöglichkeiten aufgeteilt werden.
Es dauerte zwar seine Zeit, aber schlussendlich war auch das geschafft und Jonathan freute sich auf sein Bett.