Marek und Jonathan waren wieder zum Haus zurückgekehrt und waren gerade noch rechtzeitig gekommen, um das Kaffetrinken nicht zu verpassen. Die meisten Familien würden bald wieder abreisen und so stärkten sie sich ein letztes Mal. Wie schon beim gestrigen Abendessen herrschte eine beinahe unangenehme Lautstärke - scheinbar war auch heute noch nicht alles erzählt, was man mit den anderen teilen wollte.
Jonathan saß wie schon beim Frühstück neben Pavel, der diesmal jedoch neben Sören saß und mit ihm über eine Serie redete, von der Jonathan noch nie gehört hatte. Die beiden empfahlen sie ihm nachdrücklich und versuchten ihm auch die Grundhandlung zu erklären, aber bei dem Tempo war es beinahe unmöglich, dem zu folgen. Pavel war schon allein ein sehr schneller Sprecher, wenn er aufgeregt war aber mit Sören zusammen schien sich das nur noch zu verstärken. Sie putschten sich gegenseitig immer weiter auf, sodass Jonathan bald schon endgültig den Faden verloren hatte.
Wie von selbst glitten seine Augen über die Gesichter der Leute auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches und blieben an Marek hängen, der ihn anlächelte. Jonathans Gedanken wanderten automatisch zu ihrem Gespräch zurück und auch seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Es war noch schöner Marek lächeln zu sehen, jetzt wo er wusste, was dieser in den letzten Jahren durchgemacht hatte.
„Jon?“ Er drehte sich zu Pavel um und begegnete dessen erwartungsvollen Blick.
„Hm?“ Der Blonde zog die Brauen hoch und wartete scheinbar auf eine Antwort.
„Ich hatte dich gefragt ... ach, nicht so wichtig.“ Er schüttelte den Kopf und musterte Jonathan dann neugierig.
„Wo warst du eigentlich die ganze Zeit, nachdem ihr einkaufen wart?“ So richtig war es ihm noch gar nicht bewusst gewesen, dass er eine ganze Zeit lang mit Marek vor dem Schuppen gesessen hatte, doch die Uhrzeit ließ daran keine Zweifel.
„Ich habe kurz mit deinem Bruder geredet.“ Pavel sah überrascht aus und doch fragte er nicht weiter nach. Er schien sich denken zu können, um was es gegangen war, doch in seinen Augen glitzerte trotzdem eine gehörige Portion Neugier.
Danach versuchten Sören und Pavel ihn kaum noch in ihre Diskussionen einzubinden und so bemerkte er auch, wie Nina den Raum betrat und sich neben Marek niederließ. Die Vertrautheit der beiden erstaunte ihn wie immer aufs Neue und er fragte sich, worum es wohl gehen würde.
Nina lächelte ihn freundlich an, als sie seine Blicke bemerkte und ab dann versuchte Jonathan nicht zu offensichtlich zu starren. Es ging ihn ja doch nichts an ...
Sobald die letzten Teller leer und der Stundenzeiger auf die vier gewandert war, hoben sie die Tafel auf. Die Überreste wurden verstaut und die neue Flut an Geschirr in der Küche abgestellt, bevor diejenigen, die hier geschlafen hatten, ihre Taschen aus den Zimmern holten. Die Stimmung kippte beachtlich, sobald all die Taschen sich im Wohnzimmer sammelten und der Abschied bevorstand. Zwar blieben einige noch einen weiteren Tag, doch die meisten mussten sich jetzt schon los.
Also strömten sie alle vor die Tür, zu den Autos und die Verabschiedungszeremonie begann. Jeder umarmte jeden - oder zumindest kam es Jonathan so vor. In Wirklichkeit nahmen sich meist nur die in den Arm, die gerade beieinander standen, oder die sich besonders gut verstanden hatten.
Jonathan verabschiedete seine Tanten und Onkel, sowie seine Uroma und fand sich dann bei Martins Bande wieder.
„Tschüss. Wir sehen uns sicher irgendwann wieder“, sprach ihn eine bekannte Stimme von hinten an. Sobald er sich umdrehte, hatte Nina auch schon ihre Arme um ihn gelegt und drückte sich an ihn.
„Und pass mir gut auf Marek auf.“ Sie löste sich von ihm und musterte ihn mit einem liebevollen Zug auf ihren Lippen.
„Solange er noch hier ist, werde ich es versuchen“, versprach Jonathan ihr, auch wenn er nicht so genau wusste, auf was es da aufzupassen galt. Mit einem „Sehr gut“ drehte Nina sich auch schon zum nächsten um, von dem sie sich noch verabschieden wollte.
Marek nahm sie besonders lange in den Arm und die beiden tauschten noch einige Worte aus, bevor Nina zu ihrer Familie ging.
„Tschüss, Jonathan!“, rief eine von Ninas Schwestern als sie an Jonathan vorbeistürmte und er wank ihr lächelnd zu, als sie neben den anderen stehen blieb.
Die Koordination des Losfahrens stellte sich als herausfordernd heraus, doch sobald eines der Autos sich aus dem Gewirr gelöst hatte und losgefahren war, löste sich der Rest fast schon wie von allein auf. Es war ein merkwürdiges Gefühl, ihnen hinterher zu sehen, wo er doch wusste, dass sie wahrscheinlich erst wieder in ein paar Jahren solch ein großes Familientreffen arrangieren würden.
Marek blieb neben ihm stehen und hatte die Arme verschränkt.
„Kommst du mit rein? Ich bin kein großer Freund von Abschieden.“ Jonathan nickte nur und so gingen sie zurück ins Haus - die anderen Zurückgebliebenen folgten ihnen bald.
„Schaut ihr mit uns Jerova? Wir sehen auch die erste Staffel - Sören hat schon wieder viel zu viel vergessen!“ Wie schon am Tag zuvor bei der Schneeballschlacht, schien Marek erst ablehnen zu wollen, doch dann wandelte sich sein kritischer Gesichtsausdruck zu einem kleinen Lächeln.
„Na gut“, erwiderte und warf Jonathan einen einladenden Blick zu, bevor er sich zu Sören und seinem Bruder gesellte.
Jonathan hatte nicht erwartet gehabt, dass die Serie ihm gefallen würde, aber da schien er sich geirrt haben. Die ersten zwei Folgen flogen geradewegs an ihm vorbei und er ertappte sich dabei, dass er kaum erwarten konnte, bis er einen nächsten Tipp darauf bekommen würde, wer die beiden Hauptcharaktere hintergangen hatte - er hatte nämlich die Vermutung, dass es einer ihrer Freunde gewesen war.
Schlussendlich scheuchte Jonathans Vater sie vom Fernseher weg, nachdem es schon lange dunkel geworden war.
„Ihr könnt doch nicht den ganzen Tag vor diesem Ding verbringen“, ermahnte er sie und nahm die Fernbedienungen einfach mit. Natürlich herrschte zuerst genervte Stimmung zwischen den Zurückgebliebenen, aber nach einem Blick auf die Uhr sahen sie ein, dass es wohl besser so war.
Als Jonathan später umgezogen in sein Zimmer kam, stutzte er. Es lag nur noch eine Luftmatratze auf dem Boden, alle anderen Schlafmöglichkeiten waren aus dem Raum verschwunden. Darius war zwar mit seiner Familie abgereist, aber sowohl Pavel als auch Marek waren doch noch da ...
Marek kam wenig später in den Raum und sah nicht überrascht aus, dass Pavels Matratze fehlte.
„Was ist mit deinem Bruder?“ Der Ältere drehte sich zu ihm um.
„Der ist zu Sören umgezogen. Die beiden scheinen heimlich weitergucken zu wollen.“ Jonathan zog erst die Stirn kraus, aber dann musste er doch schmunzeln. Das sah den beiden nur zu ähnlich.
Wenn er wetten müsste, würde er sagen, dass sie erst warteten, bis alle im Bett waren, bevor sie in Ruhe auf Pavels Tablet weiterschauen würden.
Als er bemerkte, dass Marek immer noch mitten im Zimmer stand, sah er zu ihm auf.
„Alles gut?“ Der Blonde wirkte einen Moment aus den Gedanken gerissen, bevor er Jonathan antwortete.
„Oh, sorry. Ich ... habe nur schon wieder zu viel nachgedacht“, gestand er mit einem schiefen Lächeln. Jonathan rutschte ein Stück zur Seite und deutete dem anderen sich neben ihn zu setzen.
„Über Yami?“ Marek nickte und seufzte frustriert.
Sie schwiegen einen Moment und Jonathan erinnerte sich wieder eine Frage, die ihm gestern eine Weile im Kopf herumgegeistert war.
"Wie läuft das eigentlich mit den Pronomen? Du hast bisher immer 'er' gesagt - das hatte mich ein bisschen gewundert." Überrascht sah Marek zu ihm herüber.
"Das ist noch so eine Angewohnheit, weil viele hier noch nicht wissen, dass er non-binary ist. In Finnland haben wir meist das schwedische 'hen' benutzt. Das verstehen an der finnischen Westküste auch alle." Wieder über Yami zu sprechen schien in Marek unwillkommene Erinnerungen zu wecken und Jonathan ärgerte sich ein wenig über seine Neugier.
„Eigentlich würde ich ihn am liebsten einfach vergessen", gestand Marek leise. "Tagsüber klappt das auch ganz gut. Aber nachts malt sich mein Unterbewusstsein manchmal die schlimmsten Dinge aus.“ Er musste nicht weiter ausführen, was für Dinge - Jonathan konnte sich das nur zu gut vorstellen.
„Jeder ist immer zuerst für sich selbst verantwortlich“, erinnerte Jonathan den anderen. Marek sah ihm stumm in die Augen und Jonathan konnte beobachten, wie die widersprüchlichen Gefühle dort gegeneinander kämpften.
„Du hast gemerkt, dass es dich kaputt macht und hast dann gehandelt. Selbstschutz geht immer vor, haben die von der ersten Hilfe uns erst eingetrichtert.“ Mareks Lippen zuckten, doch sein Blick löste sich noch immer nicht von Jonathans.
„Was auch immer er jetzt macht, oder wie es ihm geht - deine Entscheidung war richtig und du solltest dich dafür nicht schlecht fühlen“, beendete Jonathan seine kleine Rede und wurde sich in der darauffolgenden Stille bewusst, dass er vielleicht über sein Ziel hinausgeschossen war. Er senkte peinlich berührt seinen Blick.
„Danke.“ Mareks Blick traf sofort wieder auf seinen, als Jonathan von seinen Fingern aufsah.
„Ich denke du hast Recht. Ich sollte mich dafür nicht schlecht fühlen.“ Mareks Worte waren leise, aber bestimmt und es schien fast so, als ermahne er sich selbst, sich nicht länger die Schuld zu geben.
Wieder wurde es still zwischen ihnen und Jonathan bemerkte erst nach einigen Momenten, dass sie sich immer noch gegenseitig ansahen. Mareks Züge waren weicher geworden, stellte er gerade fest, als dessen Finger leicht über seine Wange fuhren und ein Flattern in seiner Magengegend verursachten.
Jonathans Atem stockte, als der Ältere ihn eingehend musterte und ihm eine Strähne aus dem Gesicht schob, bevor er seine Hand federleicht an seine Wange legte.
„Darf ich?“, hauchte Marek und biss sich unsicher auf die Lippe. Jonathan fühlte sich wie gefangen im Blick des anderen und nickte stockend. Die Bettdecke raschelte leise, als Marek ein Stück näher rutschte, sodass ihre Beine sich leicht berührten. Er lehnte sich langsam zu Jonathan herunter, der wie von selbst die Augen schloss, als ihre Lippen sich vorsichtig trafen. Zaghaft bewegten sich Mareks Lippen auf seinen und die Hand an Jonathans Wange schob sich in dessen Nacken.
Ein Schauer durchlief Jonathans Körper als er realisierte, was gerade passierte und er lehnte sich dem anderen entgegen. Aufregung rauschte durch seine Adern, als er den Druck von Mareks Lippen leicht erwiderte und einen Arm um dessen Schulter legte.
Ihre Lippen lösten sich voneinander, sodass Jonathan tief einatmete, doch sie verharrten weiterhin in ihrer Position.
„Marek ...“ Seine Stimme klang leicht atemlos und aufgeregt, doch auf Mareks Zügen erkannte er ähnliche Gefühle.
„Ja?“ Die hellen Augen glänzten und seine Lippen wirkten röter als sonst.
Einen Moment lang sah Jonathan ihn einfach nur an. Dann lehnte er sich ein Stück vor, zögerte und überwand dann doch die Distanz zwischen ihnen. Gänsehaut breitete sich auf seinen Armen aus, als ihre Lippen erneut aufeinander trafen, neugieriger als zuvor.
Sein Herz schlug schnell und stark in seiner Brust, als sie sich erneut voneinander lösten und einander in die geröteten Gesichter blickten.
„Das wollte ich schon seit einer ganzen Weile tun“, gestand Marek. Er ließ seine Finger, die zuvor noch in Jonathans Nacken geruht hatten, dessen Arm hinabgleiten und griff nach dessen Hand.
„Ich hoffe das war nicht zu voreilig.“ Auf Jonathans Lippen breitete sich ein viel zu breites Lächeln aus, als ein merkwürdiges Gefühl von aufregender Leichtigkeit sich in seinem Körper ausbreitete.
„War es nicht.“
An diesem Abend verschwendete keiner der beiden mehr einen Gedanken an Yami und am nächsten Morgen wachte Marek mit einem Lächeln auf den Lippen auf. Jonathan, der schon ein paar Minuten zuvor die Augen aufgeschlagen hatte, beobachtete das und spürte, wie sein Herz einen Sprung machte, als ihre Augen sich trafen.