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Datum: 1578 nach Bernstein
Nach dem Prompt „Regenbogenforelle“ der Gruppe „Crikey!“
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Je näher sie der Küste kam, desto angespannter war Ichoro. Sie biss sich auf die Lippen.
Todesküste nannte man das Dschungelufer in Dhubya. Angeblich gab es hier wilde Kreaturen, die mit Blasrohren und vergifteten Pfeilen auf Reisende zielten und zahllose Segler in Geisterschiffe verwandelt hatte.
Ichoro Taxo hielt das für Gerüchte. Wahrscheinlicher war, dass die Mannschaften sich schlichtweg nicht an Land trauten. Die Strömungen vor den Mangrovensümpfen waren trügerisch und gefährlich.
Vielleicht hatten es einige Forscher einmal geschafft, die falsche Frucht gegessen und waren daran gestorben. Oder angelegte Schiffe hatten sich aus dem weichen Grund losgerissen und waren ohne die unvergiftete und durchaus lebendige Mannschaft losgefahren.
Dennoch war die akijamische Forscherin nervös. Der Dschungel war nahezu unerforscht. Seid Kalaheeri vor zwölf Jahren einen Weg durch die 'Pforte' gefunden hatte, richteten sich viele fragende Blicke auf den Urwald, den die Eingeborenen 'yan Yaiyin' nannten. Taxo hatte schließlich genug Gelder für die begehrte und gefährliche Aufgabe gesammelt. Sie würde es sein, die diese ungezähmte Wildnis erschloss. Die letzte Wildnis westlich der großen Berge ...
Ihr monarisches Kayak näherte sich der Mündung eines breiten Flusses. Die Sonne glühte über den klaren Wassern, die sich blau und grün über den hellen Sand erstreckten. Gischt spritzte um den Bug. Forellen, die in allen Farben unter den Sonnen schillerten, wichen dem Paddel aus.
Entgegen der Strömung folgte Ichoro den Fischen in den kühlen Schatten unter den urwüchsigen Bäumen, deren Kronen sich über dem Fluss verschränkten. Sofort nahm sie der Duft dieser fremden Welt gefangen. Der Urwald roch nach unbekannten Blüten, nach einer Art Moschus, nach feuchter, trocknender Erde.
Der Fluss schimmerte fast im Licht der wenigen Sonnenflecken. Die Fische pflügten durch den Strom, pfeilschnell zwischen den kühlen Wellen. Die Luft war dagegen warm, im Schutz des Waldes aber gerade richtig. Ichoro lauschte aufmerksam, doch sie merkte, dass sie in einen Paddelrhythmus verfiel. Mit kräftigen, ruhigen Bewegungen trug sie sich vorwärts, immer flussaufwärts, ostwärts in dieses unerforschte Land hinein. Ihr Blick glitt über verschlungene Wurzeln, die kaum Platz für Erde ließen, über zarte Blumen, die vielleicht noch keines Elfens Blick gestreift hatte. Sie hörte Vögel über sich rufen, ein Gackern aus dem Unterholz, ein zartes Flöten, das Kreischen der Sittiche und Papageien.
Ein Hunger erwachte in ihr. Am liebsten würde sie jede Pflanze mitnehmen, bis auf das letzte Blatt, um sie alle zu erforschen und einzuordnen. Gleichzeitig fühlte sie sich befreit. Sie konnte jederzeit, an welchem Ufer auch immer, halten, ein paar Proben einsammeln und Notizen machen. Weiterreisen, wenn ihr danach war, im Kayak oder zu Fuß. Sie konnte rasten, wann sie wollte, essen, wann sie wollte. Fern des Schiffes, das sie hergebracht hatte und irgendwo bei Irumada auf sie wartete, müsste sie sich einsam und verloren fühlen, aber stattdessen fühlte sie sich lebendig.
Der yan Yaiyin schien sie willkommen zu heißen. Ichoro ließ sich mit einem wohligen Seufzen in seine verlockende Umarmung gleiten.
⁂
Nah der Quelle rann der Fluss schulterschmal über einen Felsvorhang und stürzte an einer zerklüfteten Felswand, zwischen Moos und Lianen, herab in ein schattiges Halbtal. Zum Süden hin lag es offen, dort, wo der Fluss seinen Lauf nahm, aber die Sonne drang nicht in die Tiefe unter dem Gestein vor. So hatte Ichoro den Tempel erst auf den zweiten Blick gesehen.
Sie kniete schon lange auf den verwitterten Steinen, kratzte Erde und kleine Gewächse aus den Lettern und notierte die ihr unbekannte Schrift. Meter für Meter arbeitete sie sich über die vom Sprühregen des Wasserfalls glitschigen Stufen einer Steinpyramide. Das Wasser fiel in ihrem Rücken, von der tiefstehenden Sonne in einen Regenbogen verwandelt, ein prächtiger Farbenvorhang, eine weiße Säule, welche sie vor den Gefahren wilder Tiere zu schützen schien.
Das Lied der Vögel, gesungen in vielen Stimmen, war ihr inzwischen vertraut. Sie kannte die Warnrufe vor großen Raubkatzen und würde rechtzeitig in Deckung gehen können. Ihr Lager hatte sie im Schutz des mächtigen Tempels bereits aufgeschlagen.
Obwohl das Licht immer schwächer wurde und sie langsam ein Feuer machen und Kochen sollte, wurde sie nicht müde, Schriftzeichen für Schriftzeichen zu befreien, nach Bildern zu suchen, die Symbole auf ihr widerstandsfähiges Pergament zu übertragen. Nach und nach bekam sie ein Gefühl für Symbole, die sich wiederholten. Einzelne Elemente tauchten immer wieder auf. Es schien eine Art Silbenschrift zu sein.
Welche Geheimnisse mochte diese Kultstätte bloß verkünden? Ichoro fühlte sich so nah, so nah daran, das Rätsel zu lösen, diese Botschaft zu entschlüsseln, die ein unbekanntes, offenbar lange verlorenes Volk hier festgehalten hatte. Ihr Herz schlug sehnsuchtsvoll. Was würden ihr diese Worte über den yan Yaiyin, den Flusslauf, Wajbaqwinat und nicht zuletzt sie selbst verraten? Zu welchen neuen Wundern mochten sie weisen? Welche Weisheit oder Drohung oder Ehrerbietung hatte hier die Jahrtausende überdauert?
Vollkommen in ihre Arbeit versunken merkte sie zu spät, dass etwas nicht stimmte.
Die Vögel waren verstummt.
⁂
Das Wasser des Flusses floss rot wie der Sonnenuntergang. Geborsten trieb das Kayak auf den Wellen, geschaukelt vom lebenslustigen Sprung der Wirbel. Licht und Schatten huschten abwechselnd über Ichoros Gesicht. Sie lag auf dem Rücken, halb auf den Brettern ihres Bootes, halb im Wasser. Eine Forelle strich dicht an ihren Fingern vorbei, folgte dem Arm, warf beim Abtauchen Tropfen auf das Gesicht der Elfe.
Ichoro blinzelte. Langsam hob sie den Kopf, nur um ihn stöhnend wieder nach hinten gleiten zu lassen. Ihr Haar trieb aufgefächert im Fluss, bauschte sich um sie wie ein Schleier.
Das Kayak kreiselte, drehte sich auf dem Strom. Blut hatte Ichoros Kleidung durchtränkt, doch zum Glück nicht viel. Die kleinen Geschosse, gefiederte Blasrohrpfeile, hatte sie rausgerissen, ehe sie sich zum Kayak geschleppt hatte und geflohen war.
Wie viel Zeit verging, wusste sie in ihrem fiebrigen Zustand nicht. Nur, dass da stets der Bach an ihrem Ohr war, der Wechsel der Blätter über ihrem Gesicht und der Klang der springenden Forellen, manchmal gar ein Stupser an ihrer Hand.
Ihr Auge glitzerte halb geschlossen, während ihr Körper das Gift überwand. Ein Lächeln kroch auf ihre Lippen, als ein weiterer Sonnenstrahl den Fluss traf.
Hier, gewiegt von den Wellen, war ihre Heimat. Sie wusste schon jetzt, dass sie zurückkehren würde, sobald nur ihre Wunden geheilt wären.