Rating: P12
Datum: ca. 5.000 vor Bernstein
Nach dem Prompt „Bartgeier [Tierische Geschichten mit gezeichneten Vögeln]“ der Gruppe „Crikey!“
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Der Schamane hatte seinen Schnabel in die Pfütze getaucht, die aus rotem Sand, Wolpertingerblut und Regenwasser bestand. Er trat vor den Häuptling, der sich aufrichtete und die Augen schloss.
Sein Gefieder, eben noch mazaska - silbern, rein, friedlich - wurde mit dunklen Linien bemalt. Linien, die den Wind nachahmten, damit die Geister der Luft den Häuptling sicher und rasch an sein Ziel tragen würden. Farben von Krieg und Kampf, die die Stärke und den Mut von Häuptling Otakuya nach außen bringen sollten.
Pawi wartete schweigend in den Reihen der Krieger, die zusahen, wie ihr Anführer die Kriegsfarben annahm. Pawi selbst gehörte erst seit einigen Wochen zu den Kriegern der Donnerschwingen. Zum letzten Vollmond hatte Ektuza, der Schamane, ihm in einem ähnlichen Ritual die Farben eines Erwachsenen geschenkt.
Schon zu diesem Tag hatte sich abgezeichnet, dass die Donnerschwingen bald in den Krieg ziehen würden. Der Clan der Wüstenklauen wurde zu dreist. Sie verlangten das Land der Berge, vertrieben die Menschen, die unter dem Schutz der Donnerschwingen standen.
Lange hatte Häuptling Otakuya nach einer anderen Lösung gesucht. Doch die Wüstenklauen ignorierten die getroffenen Vereinbarungen. Sie ließen sich weder durch Geschenke noch durch Drohungen aufhalten.
Es hatte nur einen Vorfall wie diesen gebraucht: Ein weiteres Gemetzel an den Menschen, die die Wüste östlich der Berge besuchten. Nun legten die Donnerschwingen das Mazaska ab, das Silber des Friedens.
Nach dem Häuptling waren die restlichen Krieger dran, vom ältesten bis zum jüngsten. In roter Farbe, für die die großen Geier drei Tage lang Wolpertinger und kleine Bakaris gejagt hatten, zeichnete Ektuza die Farben des Krieges auf weißes Gefieder, bis Blut das Mazaska verdeckte.
Zuletzt war Pawi an der Reihe, der jüngste Krieger. Die Farbe fühlte sich kühl an auf seiner Brust.
Nicht mehr viel war übrig, doch er hatte auch noch keine Gelegenheit gehabt, große Taten zu vollbringen. So zeichnete Ektuza nur die Windlinien und zuletzt das Zeichen für Pawis Namen: Die Sonne, die er auf der Brust trug. Ein roter Fleck, der sich schwer auf seine Federn legte. Zum Teil ein Schutz, zum Teil eine Bürde. Die Sonne war das Auge Kotaamirs. Pawi war es, als könnte er den Großen Geist fühlen, der ihn begleiten wollte.
Hoffentlich würde er den Blick nicht abwenden! Hoffentlich sah er genau wie sie die Dringlichkeit, die Macht der Wüstenklauen zu brechen!
Nun kamen die Frauen nach vorne und legten einen Ring aus jungen Hölzern und Wüstenkräutern um die Krieger. Sie schlugen Funken mit den Klauen und entfachten ein qualmendes Feuer, dessen weißen Rauch sie mit den Schwingen über die Krieger legten. Pawi musste ein Husten unterdrücken, als der beißende Rauch in seinen Schnabel drang und seine Augen tränen ließ. Dieser Qualm war intensiver als all die Rauchbäder zuvor. Tapfer breitete er die Schwingen aus, ließ den heiligen Atem über seine Federn streichen.
Kotaamirs Wille sollte ihn leiten. Der große Geist würde wissen, ob dieser Krieg rechtens war. Er sah mehr als die Donnervögel. Denn Pawi war überzeugt, dass es keinen anderen Weg mehr gab, doch sollte es ihn geben, so betete er zu Kotaamir, dass er ihn dem Schwarm weisen würde.
Musste es wirklich ein Krieg sein? Seit Jahrhunderten hatten die Donnervögel nicht mehr gekämpft. Doch die Wüstenkrallen sahen darin ihre Erlaubnis, die Gesetze zu missachten.
Die Zeremonie fand in tiefstem Schweigen statt. Doch als der Rauch sich legte und die Sonne stieg, wurde es Zeit, dass Häuptling Otakuye seine Rede hielt. Ernst trat der große Geier vor die Gruppe. Pawi wartete wie alle anderen auf die Rede, doch stattdessen sagte der Häuptling nur ein Wort.
"Sicaya." Es ist schlimm.
An diesem Tag ließ Pawi Demut sein Herz füllen. Mit schweren Schwingen hoben die Krieger vom Berggipfel ab, kreisten über dem Horst, bis sich alle Krieger ihrem Schwarm angeschlossen hatten. Dann flogen sie nach Osten, den Strahlen der aufgehenden Sonne entgegen.
Es war der Tag, an dem die Donnervögel zu ihrem letzten Flug aufbrachen. Das Rauschen ihrer Schwingen klang wie ein Sturmwind über der Wüste, ein Brausen von West nach Ost, das den Wüstenklauen verkündete, dass ihr Ende nahte. Viele sahen in dieser Stunde zum Himmel und noch Jahrtausende später würden Lieder vom letzten Flug der Donnervögel erzählen, würde der Anblick der dunklen Schwingen im goldenen Himmel auf Decken und Teppiche gestickt werden.
Es war der Tag, an dem die Sonne selbst zürnte und ihr Grollen über den Kontinent hallte.