Rating: P18 für grafischen Horror
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Einsam heulte der Wind durch verfallene Hütten, wirbelte Sand und Steppenläufer durch die Straßen, in denen sich niedrige Kräuter und Sträucher ausgebreitet hatten.
„Was ist hier nur geschehen?“, fragte Kaidh. Der elfische Wabawi zügelte sein Bakari und warf einen unsicheren Blick zu seinem Bruder. „Mir gefällt das nicht.“
„Haben wir eine Wahl?“, fragte der Andere, ein blasser Mensch, der im Sattel schwankte. Er presste die freie Hand gegen die rechte Schulter, wo Blut aus der Schusswunde floss. In der rechten Hand hielt er die Zügel seines Rosses mit schlaffen Fingern.
Kaidh seufzte und richtete den Blick auf die Stadt. Mit einem Schnalzen trieb er das hellbraune Gazellenpferd wieder an. Viele der Holzhäuser waren halb von Dünen verschlungen. Karren mit gebrochenen Speichen lagen in den Seitengassen zwischen den Gebäuden. Aus eingeschlagenen Fensterscheiben gähnte Leere.
„Guck nicht so belämmert!“, schimpfte Siebenschuss. „Das waren irgendwelche armen Siedler, die vergessen haben, einen Brunnen anzulegen.“
„Ich gucke doch gar nicht …“
„Doch, tust du! Sag mir nicht, dass der große Kaidh Angst vor einer Geisterstadt hat!“ Das Schimpfen des jüngeren Wabawis wurde unterbrochen, als er zusammenzuckte und zischend die Luft einsaugte.
„Geht es dir gut?“, fragte Kaidh alarmiert.
„Nein, verdammt, sie haben mich angeschossen!“, fauchte Siebenschuss.
„Schon gut, schon gut.“ Kaidh steuerte sein Pferd auf das größte noch intakte Gebäude zu. Es schien ein Kornspeicher gewesen zu sein. Vielleicht auch eine Versammlungshalle, da es mitten in der Siedlung stand. „Warte hier“, sagte Kaidh und rutschte aus dem Sattel. Sein Bakari am Zügel führend betrat er die morsche Veranda, die unter jedem seiner Schritte ächzte.
Siebenschuss blieb alleine zurück. Die Sonne brannte unbarmherzig auf seinen Nacken. Leise ächzend drehte er den Oberkörper und sah die Straße hinunter. Für ein Siedlerdorf war dieses hier erstaunlich groß. Es gab neben der Hauptstraße mehrere kleinere, von Häusern gesäumte Gassen, die im rechten Winkel abgingen. Siebenschuss‘ Blick suchte allerdings die Steppe hinter dem Dorf, wo sich der ehemalige Pfad zwischen den Sträuchern verlor. Ein paprikaroter Glutball hing einige Handbreit über dem Horizont. Mit zusammengekniffenen Augen spähte Siebenschuss nach den Verfolgern, doch es war niemand zu sehen.
„Alles sauber.“
Kaidhs Stimme riss seinen menschlichen Bruder aus dessen Gedanken und Siebenschuss sah auf. „Sauber?“
„Na ja – dreckig. Extrem dreckig. Aber unbewohnt.“
Siebenschuss schnaubte und klopfte seinem Bakari sanft mit den Schenkeln gegen die Flanken. Das Tier erklomm die Veranda und legte die Ohren an, als der Grund unter seinen Hufen knackte.
„Na komm!“ Siebenschuss trieb das Pferd erneut an. Schnaubend setzte es über die Veranda hinweg und sprang durch die Türöffnung in den Raum dahinter. Kaidh warf sich fluchend aus dem Weg.
Im Inneren des Gebäudes sah es noch trostloser aus. Sand war durch die Fenster hereingeweht und hatte den gesamten Boden bis auf einige Holzdielen im Eingangsbereich überflutet.
Siebenschuss spürte, wie der Sprung des Bakaris seinen Körper erschütterte. Er ächzte und kippte zur Seite. Als er sich festhalten wollte, lösten sich seine Finger wieder vom Sattelknauf. Kraftlos.
„Ich hab dich!“ Kaidh fing ihn auf und ließ ihn sanft auf die Erde sinken. Er lehnte Siebenschuss‘ Rücken gegen einen Sandhügel. „Lass mich sehen.“
„Argh“, stöhnte Siebenschuss und ließ den Elfen gewähren. Der bettete den Menschen sanft an einen ansteigenden Sandhügel und kniete sich neben ihn.
Kaidh schob Siebenschuss‘ Hemd nach oben und runzelte die Stirn. „Scheiße. Das sieht nicht gut aus.“
„Fühlt sich auch nicht so an.“ Siebenschuss ließ den Kopf in den Sand sinken und schloss erschöpft die Augen.
„Hey! Bleib wach!“, sagte der Elf mit angespannter Stimme. Er versetzte Siebenschuss ein paar schwache Ohrfeigen.
„Lass das!“, wehrte der Mensch ab.
„Ich sehe mich um und besorge uns was zu essen“, versprach Kaidh und stemmte sich wieder in die Höhe. Die blutige Hand wischte er an der Hose ab. „Wachbleiben, hörst du?“
Siebenschuss nickte mit schmerzverzerrtem Gesicht.
~ ⁑ ~
Kaidh setzte seine Schritte auf der Straße so, dass der Sand sie dämpfte. Die sinkende Sonne ließ die Schatten zwischen den Gebäuden in die Länge wachsen. Der heulende Wind wurde kühler und Kaidh fröstelte.
Zu beiden Seiten des Weges gähnten pechschwarze Fensterhöhlen. Kaidh spähte durch Türöffnungen ohne Türen in leere Räume voller dunkler Winkel.
Ein Klappern ließ ihn aufhorchen. Schon war das Geräusch verklungen, doch das Echo schallte in einigen der leeren Häuser wider.
Als er den angehaltenen Atem ausstieß, merkte Kaidh, dass er die Pistole aus ihrem Holster an seinem Gürtel gezogen hatte. Er entsicherte die Waffe und schlich weiter. Immer wieder sah er zurück zu dem Gebäude, wo Siebenschuss wartete.
Geisterstädte waren beliebte Verstecke für Banditen. Man konnte niemals sicher sein, dass sie wirklich verlassen waren.
Kaidh erreichte eine breite Kreuzung, die offenbar früher vielbenutzt gewesen war. Die abzweigende Straße führte von der Hauptstraße aus links nach unten in ein Tal. Erstaunt sah Kaidh am Ende der Seitenstraße ein grünes Tal inmitten der Prärie. Grüne Pflanzen, das bedeutete Wasser! Und da sie ihr Pack-Kamel bei der Flucht verloren hatten, war Wasser etwas, das sie dringend brauchten.
Er behielt die Waffe in der Hand, während er nach unten schlich, immer im Schatten unter den Vordächern entlang, um kein leichtes Ziel abzugeben. Sein Herz wummerte kräftig in seiner Brust und sein Nacken kribbelte. Er rechnete jederzeit mit einem Angriff. Doch die schlimmste Gefahr, die er sah, war eine schwarze Schlange, die die Flucht ergriff, sobald sie ihn bemerkte.
Das grüne Tal entpuppte sich als Flussbett inmitten dichterer Vegetation. Wilde Pflaumen, Äpfel und andere Nutzpflanzen wuchsen am Rand. Dicht mit Früchten behangene Zweige senkten sich über die dunklen Fluten des breiten Stroms. Am Ufer erstreckten sich grüne Wiesen.
Kaidh starrte den unverhofften Überfluss an und verspürte einen neuerlichen Schauer. Unmöglich, dass eine solche Oase unbekannt war – oder verlassen! Er sah zurück zu den leeren Hütten und suchte nach Bewegung, nach Rauchsäulen, huschenden Schatten oder Lichtern.
Er konnte nichts sehen.
„Scheiße“, flüsterte er. Er würde Wasser holen, ein paar Pflaumen oder Äpfel einstecken und zu Siebenschuss zurück. Wenn sie die Nacht über still blieben, würde vermutlich niemand ihre Anwesenheit bemerken.
Kaidh kniete sich an den Fluss und tauchte eine Hand ins Wasser. Er führte es an die Lippen und probierte einen Schluck. So weit nördlich in der Tasmada waren viele Flüsse mit Meerwasser durchtränkt, das den Weg durch das Gebirge gefunden hatte. Doch dieses Wasser schmeckte süß. Kaidh stillte seinen Durst mit großen Schlucken, sich ständig wachsam umsehend. Außer Banditen musste er schließlich auch Raubtiere fürchten, die zum Trinken herkamen. Doch es blieb verdächtig still. Also füllte er den Trinkschlauch, riss einige Früchte von nahen Ästen und huschte lautlos zurück. Inzwischen war die Nacht endgültig hereingebrochen. Kaidh machte kurz vor den ersten Gebäuden eine Pause und wendete seinen Sabib. In dem schwarzen Gewand mit der Nacht verschmelzend eilte er zurück zu seinem Blutsbruder.
~ ⁑ ~
Siebenschuss sah tot aus, als Kaidh den leeren Raum betrat. Bleich und mit geschlossenen Augen, die Kleidung von trocknendem Blut bedeckt, lag er im Sand und das Herz des Elfen setzte einen Schlag aus. Als er zu Siebenschuss trat, flatterten dessen Lider und der Mensch blinzelte ihn träge an.
Leise stieß Kaidh die Luft aus. Er kniete sich neben seinen Freund. „Sieh mal! Wasser und Essen!“
Siebenschuss brachte nur ein erschöpftes Lächeln zustande. Kaidh führte den Wasserschlauch an die Lippen seines Bruders. Siebenschuss drehte den Kopf weg.
„Trink!“, sagte Kaidh.
Widerwillig nahm Siebenschuss einen kleinen Schluck und verzog das Gesicht vor Schmerz. „Ich bin … nicht durstig …“
Kaidh ließ den Schlauch sinken. Seinen Bruder zu zwingen, dazu fehlte ihm der Wille. Fragend hielt er ihm eine Frucht hin. „Apfel?“
„Später“, seufzte Siebenschuss matt.
Kaidh nickte und schob das Hemd des Menschen wieder nach oben. „Kümmern wir uns mal um diese Wunde. Achtung …“
Siebenschuss versteifte sich, als Kaidh vorsichtig auf die Wunde drückte. Obwohl der Elf behutsam vorging, stöhnte Siebenschuss vor Schmerz.
„Die Kugel sitzt nicht tief“, murmelte Kaidh nachdenklich. „Atmen kannst du auch normal?“
„Solange du nicht – au! – solange du nicht rumdrückst!“, erklärte Siebenschuss.
Kaidh lächelte erleichtert. Sein Bruder zeigte neue Energie. „Stell dich nicht so an. Wir ziehen sie raus.“
„Lass mich in Frieden sterben!“, knurrte Siebenschuss. Die zuckenden Mundwinkel straften seinen grimmigen Tonfall Lügen.
Kaidh sah sich um, erhob sich und begann, einige Sachen zusammenzusuchen. Er kehrte mit einem stabilen Stock, einem Streifen von ihrer Ersatzkleidung und einem Messer zurück.
„Beiß darauf!“, wies er den Menschen an und schob diesem den Stock zwischen die Zähne. „Kein Laut, hörst du? Du musst absolut still sein.“
Siebenschuss nickte und rollte mit den Augen.
Kaidh packte das Messer mit einer Hand und beugte sich über die Wunde. „Auf drei … Eins. Zwei. Drei!“ Er stieß die Klinge in die Wunde und hebelte.
Siebenschuss‘ Schrei zerriss die Stille. Der Mensch bäumte sich auf und Kaidh wurde nach hinten geworfen.
„Scheiße!“, brüllte Siebenschuss und rang nach Luft.
Kaidh sah sich gehetzt um.
„Tut mir leid“, murmelte der Mensch leiser. „Verdammt, der Schmerz hat mich überrascht.“
„Schon gut“, murmelte Kaidh. „Was passiert ist, können wir nicht ändern.“ Er senkte den Blick auf die Kugel, die er in den Fingern hielt. Er schnippte das blutige Geschoss zu Siebenschuss, zückte seine Pistole und kauerte sich hinter den leeren Fensterrahmen neben der Tür. Vorsichtig hob er den Kopf und starrte nach draußen.
Die Straße lag ebenso verlassen da wie vorher – nein, etwas hatte sich verändert. Mitten auf dem Pfad lag ein Krug.
„Was ist?“, fragte Siebenschuss. Offenbar hatte er Kaidhs veränderten Gesichtsausdruck gesehen, jedenfalls hatte er sich aufgerichtete und tastete instinktiv nach der Pistole. „Banditen?“
„Nein, aber …“ Kaidh unterbrach sich, weil er für seinen Geschmack viel zu nervös klang, und fuhr mit fester Stimme fort: „Da liegt so ein Tonkrug wie von den Assai. Der war eben garantiert noch nicht da.“
„Ein Krug?“
„So ein Amphorending, zum Wasserschleppen.“
Siebenschuss zögerte. „Vielleicht ist es ein Jinn.“
„Sag das nicht in diesem beruhigenden Tonfall, weißt du, was so ein Jinn anrichtet?“ Kaidh sah wieder auf die Straße – und erstarrte.
„Kaidh?“, fragte Siebenschuss alarmiert.
Kaidh sah den Menschen an. „Er ist weg.“
„Weg?“, wiederholte Siebenschuss.
„Der Krug.“ Kaidh sah wieder auf die Straße, die sich leer durch das Städtchen erstreckte.
„Sicher, dass du nicht einfach einen Steppenläufer gesehen hast?“, fragte Siebenschuss.
Kaidh funkelte ihn wütend an. „Ich werde wohl noch einen Busch von einem Krug unterscheiden können!“
Siebenschuss kicherte, ehe er gequält aufstöhnte. „Wenn ich erzähle, dass die Assai sich in dem großen Falken so getäuscht haben.“
Kaidh – dessen Wabawinamen mit der Bedeutung ‚Falke‘ ihm die Assai verliehen hatten – schnaubte. „Du begibst dich auf Treibsand, Siebenschuss. Außerdem solltest du ruhig bleiben, deine Wunde braucht Zeit zum Heilen.“
„Das war echt keine Glanzleistung, was?“, fragte Siebenschuss und berührte die Schusswunde vorsichtig. „Ladehemmung … meine gute, alte Saina hat mich im Stich gelassen.“
„Lass die Theatralik und kauf dir endlich eine neue Waffe“, knurrte Kaidh.
„Ich kann Saina eben nicht so einfach ersetzen.“ Siebenschuss tätschelte die Waffe. Als er Kaidhs Blick spürte, hörte er auf. „Auf dem nächsten Bazaar, versprochen.“
Der Elf nickte selbstzufrieden. Er warf einen letzten Blick aus dem Fenster, stand auf und trat zu den Bakaris. Die Pferde hatten beide Satteltaschen, in denen sich ihre verbliebenen Vorräte befanden. Das Kamel, das ihre Wasserkanister getragen hatte, war während des Schusswechsels geflohen. Zusammen mit dem großen Sabibzelt, ihrem Gold und der Munition. Ihnen waren einige Münzen verblieben und die Nai-Brote, Datteln und getrockneten Schlangen ihrer Dwimminats, drei verschwitzte Hemden und die Kleidung am Leibe. Kaidh fragte sich, wie sie die Reise zurück überleben sollten. Die al Taskmadhia ohne Krüge voller Wasser durchqueren zu wollen grenzte an Wahnsinn. Vielleicht könnten Eingeborene ihnen helfen, doch die Indianer hier lebten verborgen oder durchstreiften die Steppe in der Gestalt wilder Tiere.
Kaidh konnte sich bessere Aussichten vorstellen.
Ein Klappern irgendwo im Dorf schreckte ihn auf. Er sah wieder zur Straße, doch draußen war es inzwischen zu dunkel, um viel erkennen zu können.
Mit dem Essen und einem noch nicht zerschnittenen Hemd kehrte er zu Siebenschuss zurück und bastelte seinem Bruder ein Kissen. Danach half er Siebenschuss in eine sitzende Position und zog ihm das Sabib über den Kopf, um es dem Menschen andersherum überzustreifen.
Die Nächte in der Steppe konnten eisig werden und da er auf keinen Fall ein Feuer entzünden würde – wie denn auch, ohne die Feuersteine? – mussten sie sich auf die Wärmkraft der Wüstenkleidung verlassen.
~ ⁑ ~
„Es ist noch immer niemand gekommen, um uns zu töten“, sagte Siebenschuss nach einer Weile.
„Das heißt nichts“, knurrte Kaidh. „Erinnerst du dich an die Arschlöcher in der Tahota-Mine?“
„Die wussten aber auch, dass wir durch den Canyon mussten. Wer auch immer hier ist – falls jemand hier ist – kennt uns nicht.“
„Ich bin lieber paranoid, als nochmal in so einen Hinterhalt zu laufen“, sagte Kaidh mit einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete.
Siebenschuss wusste es besser, als seinem Freund zu widersprechen. Er schloss die Augen und lauschte auf das Zirpen der Grillen und die fernen Rufe einer Eule. Unter dem provisorischen Verband schwitzte er. Die Wunde pochte unangenehm.
Ein Knirschen ließ ihn aufschrecken. Siebenschuss saß mit einem Mal aufrecht und bereute die plötzliche Bewegung sofort. Mit einem Stöhnen presste er die Hand auf die Schulter.
„Was ist?“, fragte Kaidh.
Siebenschuss schlug sich mit dem Finger förmlich gegen die Lippe. Er hätte Kaidh angeschrien, wenn er es gewagt hätte.
Fragend sah der Elf ihn an.
„Schritte!“, wisperte Siebenschuss und deutete zur Rückwand des Gebäudes. Die Wand dort war an mehreren Stellen eingebrochen und gesplittert. Es gab genug Möglichkeiten, den Lauf einer Waffe hindurchzuschieben und auf den Innenraum zu zielen.
Auf der anderen Seite der Wand blieb es still. Kaidhs Ruf musste die Personen alarmiert haben. Doch auch die Grillen schwiegen.
Kaidh hatte die Pistole nicht einmal ins Holster gesteckt. Sie lag griffbereit neben ihm. Nun nahm er die Waffe auf und klappte den Lauf nach unten, um die Trommel zu entblößen. Mit dem Daumen rieb er über die sechs Kammern, um die Munition zu prüfen.
Siebenschuss warf seinem Blutsbruder einen fragenden Blick zu. Kaidh ließ die Waffe mit einem leisen Klicken zuschnappen und hob zwei Finger.
Zwei Kugeln. Ihnen bleiben zwei verdammte Kugeln. Siebenschuss selbst hatte seine ganze Munition verballert, als sie vor dem Sherif geflohen waren. Wenn die Geschichten, die man sich über ihn und Kaidh erzählte, wahr wären, hätte er jetzt noch den berüchtigten siebten Schuss in der Trommel. Leider gab es kein Siebenermagazin, nur Idioten, die nicht zählen konnten.
Siebenschuss gehörte nun zu ihnen.
Normalerweise schoss er fünfmal und ließ den Gegner glauben, sein Magazin wäre leer. Diesmal hatte er nicht nachgedacht. Die harten Regeln des Ostens bewahrheiteten sich: Wer nicht nachdachte, der starb.
Kaidh zielte auf die Rückwand. Siebenschuss drückte den Kopf gegen den Sandhügel in seinem Rücken, um ein möglichst geringes Schussfeld abzugeben. Er hielt den Atem an.
So verharrten sie eine geraume Weile. Die Grillen nahmen das Zirpen wieder auf. Der Mond zog über den Präriehimmel, die Wabawi konnten sehen, wie die Schatten der zerklüfteten Rückwand, die das kalte Licht aus der Nacht schnitt, über den Boden krochen.
Siebenschuss‘ Bein juckte. Er bewegte es unruhig. Kaidh rutschte lautlos in eine bequemere Position. Sein Blick huschte zu Siebenschuss. Er sah wieder nach vorne. Und wieder zurück zu seinem Blutsbruder.
„Bist du sicher, dass du dich nicht getäuscht hast?“, fragte er flüsternd.
Siebenschuss hob ratlos die Schultern. Sie sahen zur Rückwand, wo sich noch immer nichts regte. Niemand konnte so lange derart lautlos verharren! Langsam fragte Siebenschuss sich selbst, ob er wirklich etwas gehört hatte. Und wenn, war es viel wahrscheinlicher das Knarzen von altem Holz gewesen.
Trotzdem lauschten sie eine weitere halbe Stunde, ehe sie sich zögerlich entspannten.
„Wir könnten ebenso gut weiterreisen“, sagte Siebenschuss schließlich. „Ich glaube nicht, dass ich hier besonders viel Schlaf finden werde.“
„Deine Wunde braucht Ruhe“, widersprach Kaidh missmutig. „Außerdem können die Tiere nichts sehen. Wenn die sich auch noch die Beine brechen, sind wir tot.“ Er stand auf und streckte sich vorsichtig. „Wasser?“
Siebenschuss nickte. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie durstig er war. Ein guter Krug Qbak wäre jetzt genau das Richtige, aber Wasser würde es auch tun. Er nahm den Trinkschlauch von Kaidh entgegen und wischte sich das Kinn ab, während der Elf nach ihm trank.
Kaidh hatte das Wasser gerade abgesetzt, als ein schriller Schrei die Nacht durchbrach. Siebenschuss zuckte zusammen und stieß die Luft vor Schmerz durch die Zähne aus. Kaidh fluchte unterdrückt und ließ den Trinkschlauch zur Erde fallen.
Das Kreischen hallte über die nächtliche verlassene Hauptstraße, wurde lauter, rauschte vorbei und verklang.
Der Elf rannte zur Türöffnung. Siebenschuss konnte sich nicht zurückhalten. Er drückte sich hoch und folgte seinem Bruder.
Das Dorf lag wie ausgestorben da.
„Wie spät ist es?“, fragte Siebenschuss.
„Geisterstunde“, murmelte Kaidh düster.
Noch während die Wabawis Seite an Seite durch die Türöffnung spähten, erglühten grünliche Lichter in den leeren Höhlen der Gebäude zu beiden Seiten der Straße.
Siebenschuss tastete nach Kaidhs Arm. „S-siehst du das auch?“
„Ja“, hauchte Kaidh heiser.
Das Glühen sah widernatürlich aus. Siebenschuss konnte sich nichts vorstellen, welche Lampe auf der ganzen, großen Eisenwelt ein solches Licht hervorrief.
Er drehte den Kopf zurück in den leeren Speicher. Er erstarrte. Ein unförmiges Leuchten erstrahlte auch hier. Es wurde kräftiger und kräftiger, bis es die Wände mit seinem fahlgrünen Schimmer bedeckte. In seinem Zentrum formte sich eine gleißende Kugel.
„Kaidh!“, flüsterte Siebenschuss. Seine Stimme zitterte und wurde ohne sein Zutun lauter. „Kaidh! Geister!“ Er kreischte es, nicht länger fähig oder gewillt, sich zu beherrschen.
Der Elf wirbelte herum. Ein Schuss krachte, doch die Kugel ging einfach durch das Licht hindurch. Die Bakaris bäumten sich mit panischem Wiehern auf. Das Licht flackerte, als würde es die beiden Wabawis erst jetzt bemerken. Dann sprang es auf sie zu.
Siebenschuss packte Kaidhs Arm und zerrte ihn mit sich auf die Straße.
Die Häuser leuchteten. Lachenden Totenschädeln gleich, die mit grünem Feuer gefüllt waren, sahen sie auf die beiden winzigen Wesen hinab, die törichterweise in ihre Mitte gestolpert waren. Türen schwangen auf, ohne dass der Wind oder eine lebendige Hand sie berührt hätte. Heraus traten leuchtende Gestalten im Zentrum grüner Auren. Mit jedem Schritt gewannen sie an Festigkeit und Form. Menschliche Form. Männer und Frauen in Fetzen ehemaliger Siedlerkleidung, löchrige Hüte auf den Köpfen, Knochen und Muskeln unter der kraftlos dünnen Haut entblößt.
Sie klappten die Kiefer auf. Ihr Lachen schallte von allen Seiten herüber. Einem Farmer ganz in der Nähe sprang der Augapfel aus der Höhle. An einem Seil aus Nerven gehalten hüpfte die Kugel, vom Lachen geschüttelt, wild auf und ab, stieß gegen das unrasierte Kinn und unter die Krempe des geisterhaften Strohhuts.
Siebenschuss kreischte auf vor Angst. Kaidh packte ihn und rannte los. Siebenschuss stolperte blindlings hinterher, die Straße entlang. Von beiden Seiten sprangen grüne Erscheinungen auf die Straße und verfaulende Hände mit klauenartig gekrümmten Fingern haschten nach ihnen.
Entsetzt bemerkte Siebenschuss, dass sie tiefer in das Dorf flohen. Als sie eine Kreuzung erreichten, kam ihnen mit einem Mal eine Herde grün leuchtender Tiere entgegen. Ochsen mit skelettierten Köpfen. Flatternde Hühner ohne Federn. Ziegen mit klaffenden Wunden in den Seiten, in denen man die Rippen sehen konnte. Ein Dromedar schleppte seine Innereien hinter sich her.
Siebenschuss merkte, wie seine Beine sich versteiften, als die Herde auf sie zudonnerte. Das wahnsinnige Gekreisch der Tiere war unerträglich. Man hörte ihnen ihre Qual an. Ihre Angst. Siebenschuss spürte Wärme am Innenschenkel.
Kaidh riss ihn zur Seite und aus der Bahn des Entsetzens. Stolpernd folgte Kaidh ihm eine sich senkende Straße hinab. Irres Gelächter folgte ihnen. Als Siebenschuss sich umsah, kamen die Geister ihnen langsam, doch stetig hinterher wie ein zähflüssiger, unaufhaltsamer Strom.
„Siebenschuss!“, brüllte Kaidh und durchbrach den Nebel der Panik, der sich um den Menschen zu schließen drohte.
„W-was?“
„Kannst du schwimmen?“ Kaidhs Stimme klang, als fragte er nicht zum ersten Mal.
„Ich …“
„Egal. Halt dich an mir fest!“
Siebenschuss‘ Füße wurden mit einem Mal kalt. Er sah nach unten und entdeckte pechschwarze Fluten. Ein Fluss. Seine Gedanken rasten. An solchen Wasserlöchern konnte es Sharrkodhis geben, Krokodile oder sogar Bunyips. Er wollte Kaidh aufhalten, doch der Elf watete entschlossen vorwärts. Siebenschuss warf einen Blick zurück und erschrak. Die Geister hatten das Flussufer bereits erreicht! Doch sie setzten keinen Fuß ins Wasser.
Siebenschuss warf sich in den Strom und folgte Kaidh. Die Strömung zerrte an ihnen. Eisige Kälte drang unter ihre Sabibs. Siebenschuss schnappte nach Luft, neben ihm spuckte Kaidh Wasser aus und stemmte die Füße in den sandigen Flussgrund. Er rutschte weg, ging unter. Siebenschuss wurde ihm hinterhergespült. Die Strömung war unerbittlich.
~ ⁑ ~
Er pflügte mit den Armen durch das Wasser, traf mehrmals gegen Widerstand. Dann spürte er unvermittelt Boden unter den Füßen und stieß sich in die Höhe. Er durchbrach die Wasseroberfläche und sog die Luft gierig ein.
Kaidhs Stimme erklang: „Siebenschuss!“
Siebenschuss drehte den Kopf und sah den Elfen vor sich im niedrigeren Wasser. Zitternd vor Kälte kämpfte er sich zu Siebenschuss vor, der ihm entgegenwatete. Halb stützten sie den Anderen, halb stützten sie sich aufeinander. Schwankend, hustend und keuchend erreichten sie das Ufer. Die Blutsbrüder ließen sich erschöpft in den Sand zwischen den vielen Fruchtbäumen fallen.
Siebenschuss sah zum Dorf auf der anderen Seite. Die Strömung hatte sie nicht weit abgetrieben. Er konnte die dunklen Silhouetten der Gebäude vor dem blauer werdenden Himmel erkennen. Von dem grünen Licht oder gar Geistern war nichts zu sehen.
„Was für eine Nacht.“ Er drehte sich zu Kaidh. Der Elf lag mit geschlossenen Augen auf dem Rücken und atmete tief.
Ein kalter Windzug ließ ihn schaudern. Siebenschuss glaubte, eine Stimme zu vernehmen. Verwirrt hob er den Blick.
Direkt vor ihnen leuchtete der Strand grünlich. Das Licht wuchs aus dem Boden in die Höhe. Dann tauchte ein grinsender Totenschädel aus dem Erdreich auf.
„Kaidh!“, kreischte Siebenschuss und sprang auf.
Der Elf schnellte in die Höhe, sah sich um und erblickte den Geist. „Lauf!“ Seine Stimme hatte nichts menschliches mehr.
Die Wabawi flohen die Düne hinauf. Kaidh rutschte über den weichen Sand und fiel. Siebenschuss stolperte erst weiter, dann drehte er sich um und streckte die Hand nach Kaidh aus.
Im gleichen Moment erreichte der Geist den Elfen. Seine modrige Klaue packte Kaidhs Arm und der Elf versteifte sich. Ein Ruck ging durch seinen Körper. Von den Fingern des Geists rasten schwarze und grüne Linien unter der Haut des Elfen vorwärts wie wildgewordene Würmer, die ihn von Innen zerfraßen. Kaidh streckte den Rücken übernatürlich weit durch. Seine Augen verdrehten sich nach oben. Mit einem Jaulen, das sich Siebenschuss durch Mark und Bein fraß, krallte Kaidh die Hand dicht über dem Herzen in seinen Sabib. Er stürzte auf die Erde.
„Nein!“, schrie Siebenschuss auf.
Der Geist richtete den Blick der leeren Augenhöhlen auf ihn. Weitere Geister erwuchsen aus dem Flussufer.
Siebenschuss drehte um und kämpfte sich weiter hinauf. Der weiche Sand gab unter jedem Schritt nach. Er stürzte, richtete sich auf, stürzte wieder, kämpfte sich wieder hoch.
Als er die Spitze der Düne erreichte, erglühte diese in einem goldenen Licht. Verwundert hielt Siebenschuss inne. Das Glühen badete ihn, hüllte ihn ein. Ein vielstimmiges Kreischen erklang.
Siebenschuss wirbelte so schnell herum, dass er in den Sand fiel, fest damit rechnend, dass sich die Geister auf ihn stürzen würden. Doch stattdessen sah er, wie sie sich in den Schatten zurückzogen.
Schatten …? Er blinzelte gegen das helle Licht. Der Morgen hatte die Dünenspitze erreicht. Er saß im Sonnenlicht!
Der grüne Schimmer löste sich auf wie Rauchwolken in einem kräftigen Windzug. Die Geister verschwanden so plötzlich, wie der grausige Spuk begonnen hatte.
Schweratmend saß Siebenschuss im Sand. Die Sonnenstrahlen krochen tiefer und tiefer die Düne hinab. Badete die Häuser, dann das Tal, die Pflanzen, Kaidhs leblosen Körper …
Obwohl die Wüstenluft sich rasch aufheizte und die Feuchtigkeit von Siebenschuss‘ Kleidung trocknete, begann er zu zittern. Das Licht füllte das Tal und strahlte von den Dünen ringsum wider – doch der Fluss blieb pechschwarz. Seine Fluten spiegelten das Sonnenlicht nicht einmal. Schwarz und düster schwappten die Wellen im Flussbett.
Siebenschuss hob die Hände vor das Gesicht. Seine Haut war mit schwarzen Schlieren überzogen. Dazwischen entdeckte er verdünntes Blut von der Wunde, die sich wieder geöffnet hatte.
„Was für ein Dämonenzeug ist das?“ Seine Stimme war schrill. „Halluzinationen?!“ Sein Blick glitt zurück zum Dorf. Keine Fußspuren bis auf jene von ihm und Kaidh und den winzigen Hufspuren der geflohenen Bakaris auf Sandhügeln in der Ferne. Kein Leuchten. Nur der Wind, der durch leere Häuser fuhr. „Kaidh!“ Dieser Gedanke durchzuckte Siebenschuss wie ein Blitz. Er rutschte hinunter zu seinem Blutsbruder und drehte ihn auf den Rücken.
Kaidh atmete nicht mehr. Ein wenig Schaum stand auf seinen Lippen. Der Arm, wo der Geist ihn gepackt hatte, war unversehrt.
Siebenschuss‘ Hände bebten, als er die Pistole an sich nahm. Was auch immer im Wasser war, ob halluzinogenes Gift oder mörderische Dämonen, es war in sein Blut gelangt. Er würde sich weder dem tödlichen Wasser noch Hitze, Durst oder Hunger ergeben!
Ein Schuss hallte über die gelben Wellen der al Taskmadhia. Geier erhoben sich mit hungrigen Rufen in den Himmel. Doch als sie die Beute gesichtet hatten, drehten sie ab. Nicht einmal die Aasfresser wagten es, im Tal des schwarzen Flusses zu landen.