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Datum: etwa 1800 nach Bernstein
Nach dem Prompt „Große Geigenrochen / tierische Geigengeschichten“ der Gruppe „Crikey!“
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Zaghaft zupfte Keli'ai an den Saiten der Ukulele. Die ersten Klänge tönten unnatürlich laut durch den stillen Morgen, schienen wie ein Lichterspiel über die Köpfe der Wartenden zu tanzen, die absolut regungslos verharrten.
Nur die Wellen am Strand begleiteten Keli'ai, als sie die Finger tanzen ließ und in das vertraute Muster der Melodie verfiel, in dem sie die einzelne Bewegung nicht mehr wahrnahm.
Das Lied verblieb zaghaft, so wie die ersten Sonnenstrahlen über den Strand tasteten und die Hänge des Vulkans erforschten. Keli'ai versuchte, die Blicke auszublenden, die sehr sicher auf ihr lasteten, und die Nervosität zu unterdrücken, die in ihr aufkochte.
Was, wenn es nicht funktionieren würde? Was, wenn es nicht heute geschah? Oder gar nicht mehr in diesem Jahr?
Würde sie vor aller Augen versagen?
Doch dann erklang ein Platschen. Hastig hob Keli'ai den Blick, ihre Finger bewegten sich automatisch schneller, zupften die Saiten fester. Da! Wieder tauchte ein Schatten aus der Tiefe aus, ein großer Fisch mit dreieckigen Rückenflossen und einem breiten Gesicht, wie ein Rochen mit dem Hinterkörper eines Hais. Das Tier segelte einen Moment über die Wellen, dann landete es mit dem gleichen Klatschen wie zuvor im Wasser.
Keli'ais Lied veränderte sich. Die Melodie, zuerst sehnsuchtsvoll, wurde nun wild und schnell, bis sie jeden, der sie vernahm, zum Tanz rief. Und draußen, auf dem glitzernden Ozean, tanzten die Rochen zur uralten Melodie des Lebens.
Die Zuschauer, die zunächst noch still gewartet hatten, sprangen nun auf und begannen mit Gesängen und Tänzen, während Keli'ais Lied sich zum Himmel emporhob.
Naair lächelte auf sie herab. An diesem Tag des Festes gingen viele Fische in ihre Netze, und nicht ein Geigenrochen, den die mühsam hätten befreien müssen. Die Beute wurde auf Salz gelegt und haltbar gemacht, um sie bald zu verkaufen. Während Keli'ai schließlich am Abend mit tauben Fingern dem Treiben zusah, kam Eweliko zu ihr, der Häuptling ihres Stammes.
"Du hast gute Arbeit geleistet."
"Danke", erwiderte sie ernst. Die Liedspieler trugen eine große Verantwortung, denn sie sollten das Meer überzeugen, seinen Reichtum mit dem Volk der Monaairu zu teilen. Keli'ai war erleichtert, dass es ihr heute geglückt war.
Dennoch spürte sie Wehmut aufsteigen. Bisher hatte ihre Mentorin diese Rolle ausgefüllt, doch Kahana war in Naairs Umarmung zurückgekehrt. Dies war das erste Jahr, dass Keli'ai ohne sie spielen musste.
Eweliko blieb neben ihr stehen und sah auf die See hinaus, die noch immer aufgewühlt war von den Rochen, die dort jagten.
"Die Zeichen sehen gut aus", bemerkte der noch junge Häuptling. "Naair lächelt auf uns herab. Dies wird ein gutes Jahr."
"Ja", murmelte Keli'ai. Das war nur ein schwacher Trost, aber immerhin ein Trost.
Eweliko sah sie an. "Naair und Kahana." Er lächelte und Keli'ai begriff, dass er ihre Trauer genauestens verstand. Immerhin war auch Eweliko seinem Vater in viel zu jungen Jahren nachgefolgt.
Der Häuptling berührte sanft ihre Schultern und ging, um sie bei ihrer Trauer nicht zu stören. Keli'ai jedoch lächelte, als sie auf das Meer sah: Jenes blaue, bewegte Reich, das sie alle zu ernähren vermochte.
Ja. Es würde ein gutes Jahr werden.