Rating: P12 [CN: Naturschutz, trauriges Ende]
Datum: etwa 1780 nach Bernstein
Nach dem Prompt „Quetzal/Hundert“ der Gruppe „Crikey!“
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Yugo verlagerte sein Gewicht äußerst vorsichtig und lauschte auf die leisen Geräusche der Zweige und Äste, bis ihm ein Knirschen sagte, dass jede weitere Bewegung zu viel wäre. Noch ein Stück vor, und der Zweig würde brechen. Dann erwartete ihn nur der Sturz in die Tiefe.
So verharrte er, die Hand ausgestreckt. Am Ende des präparieren Stocks, der wie einer der vielen Zweige erschien, lockten gut sichtbar präsentierte Avocados.
Nun wartete er. Dabei war es egal, jedenfalls laut den Überlieferungen, ob man ein, hundert oder tausend Jahre wartete. Die Luftschlange würde sich erst dann zeigen, wenn das Herz des Jägers bereit war.
Yugo hoffte, dass er bereit wäre. Eine der freiheitsliebenden Luftschlangen zu fangen war die höchste Kunst. Niemand würde diese Tat je vergessen. Und das Dorf der Yuyugas benötigte die Medizin des Vogels dringend.
Also wartete Yugo, schwankend in der Baumkrone balancierend, auf einer Klippe der Berge, die steil unter ihm abfiel, über dem yan Yaiyin und dem Nebel.
Es dauerte keine tausend Jahre, nicht mal einen Tag, sondern nur eine knappe Stunde, da hörte er Flügel schlagen. Yugo öffnete die Augen, da er reglos gedöst hatte, und sah sie vor sich, wellenartig und dunkelblau. Ein ganzer Schwarm der bunten Vögel begrüßte ihn mit ihrem Gesang und kam näher. Ihre langen Schwungfedern peitschten die Luft wie fliegende Schlangen.
Sie kamen näher und Yugo erstarrte. Hoffentlich würde die Tarnfarbe halten. Hoffentlich würden sie kommen!
Und sie kamen. Yugo hielt den Atem an, als ein Vogel flatternd die Falle umkreiste und dann neben den Avocados landete. Die Finger des geduldigen Jäger lagen schon längst am Faden und mit einem Ruck schloss er die Schlinge.
Die Luftschlange stieß einen schrillen Schrei aus und versuchte flatternd, aufzusteigen. Doch die Schnur aus Pflanzenfasern band sie fest an den Zweig. Yugo holte die Beute rasch näher und packte den kleinen Vogel, der ihn mit angstvollen Augen ansah und auf das Ende wartete.
Mit einer schnellen Bewegung rupfte Yugo ihm die drei Federn aus, die sie benötigten, und entließ den Vogel zurück zu seinem Schwarm. Während die Luftschlange noch völlig verwundert floh, kletterte er hinab und entfernte die Avocados von der Falle, um sie den Bergvögel zu lassen.
So lautete das Gesetz. Die Göttervögel durften nicht getötet werden. Damit auch in einem, in hundert und in tausend Jahren noch Friede herrschen möge!
Also steckte Yugo die Federn ein und machte sich an den langen Abstieg zurück in den Urwald, um seinem Stamm zu helfen. Er summte leise und fühlte sich heimisch in diesem Netz aus Regeln, das seit einem, seit hundert, seit tausend Jahren bestand hatte und noch für alle Zeit bestehen würde.
Doch es kam anders.
Nach einem Jahr erklangen raue, fremde Lieder in unbekannten Stimmen, wo Yugo gejagt hatte.
Nach hundert Jahren war der dichtgeflochtene Teppich des Waldes ordentlichen Plantagenreihen gewichen.
Nach tausend Jahren würde diese Welt für alle Zeit vergessen sein.