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Datum: etwa 1800 nach Bernstein
Nach dem Prompt „Hau kuahiwi [Pflanzliche Klippengeschichten]“ der Gruppe „Crikey!“
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Eweliko stürmte in das Zelt, ohne sich mit Höflichkeiten aufzuhalten. "Du musst mir helfen!"
Keli'ai war offenbar dabei, die Saiten ihrer Ukulele zu fetten. Jetzt suchte sie einen Platz, um die empfindlichen Schnüre abzulegen, ohne dass sie dreckig wurden. "Was ist denn?"
"Eine Katastrophe. Jetzt komm schon!" Er hüpfte ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Einerseits wollte er die Liedspielerin nicht in dieser wichtigen Tätigkeit unterbrechen, andererseits brauchte er ihre Hilfe - bevor die entsetzliche Wahrheit bekannt wurde.
Keli'ai hatte schließlich einen Platz für die Sehnen gefunden und stand auf. "In Ordnung. Wohin?"
"Zum Gebirge." Eweliko musste sich beherrschen, um nicht wie früher ihre Hand zu nehmen. Das stand einem Häuptling nicht zu!
Im Eilschritt führte er die Liedspielerin aus dem Dorf und hinauf in die dunklen Klippen, die den Leib Naairs zeichneten. Der Drache ruhte an der Westseite der Insel, seitdem er die Flut verhindert hatte, die ihr Volk vor vielen Jahrtausenden beinahe ausgelöscht hätte. Nur manchmal stieg noch Dampf auf, wenn der Drache im Schlaf schnaubte, ansonsten war er eins geworden mit dem Land, mit den grünen Hängen Irumadas.
Parallel zum Fluss eilten sie auf die Dreierspitze von Naairs Kopf zu. Die Gipfel Hoya, Manda und Tyoula reckten dunkle Spitzen zu den Sonnen.
Doppelsonnenzeit. Kotaamir öffnete beide Augen, das große Goldene und das kleinere Rote, um die Taten der Sterblichen zu bewerten. In diesem doppelten Licht, das die Luft dichter und vor allem wärmer machte und das Meer abends violett spiegeln ließ, musste sich der junge Häuptling des Stammes bewähren.
Es war Ewelikos erste Prüfzeit. Keli'ai folgte ihm keuchend, als sie bergan zu laufen begannen. Sand war grünen Wiesen gewichen, die sich nun zunehmend in raues Gestein verwandelten. Eweliko kannte den Weg, sein Vater hatte ihn oft mitgenommen. Jetzt brachte er Keli'ai auf den steilen Weg, der sich um die hohen Klippen wand. Schon von weitem sah er das, von dem er gehofft hatte, es würde sich als Täuschung herausstellen.
"Eine Lawine", sagte Keli'ai und zerstörte damit die letzte Hoffnung. "Oh nein, sie ist doch nicht ..."
"Doch. Sie ist genau dort, wo die heiligen Bäume standen", sagte Eweliko mit düsterer Stimme.
Als sie sich der Geröllzunge näherten, die den Weg verschüttet hatte, kam Kalua ihnen entgegen. Die Wache, noch mit den rituellen, gelben Farben gezeichnet, hatte Eweliko begleitet.
"Ich konnte nur noch einen Baum finden", berichtete der ältere Krieger jetzt mit besorgt gerunzelter Braue. "Doch auch er wurde getroffen. Ich bin mir nicht sicher ..."
"Führe uns hin!", verlange Eweliko.
Nach dem zweiten Aufstieg war er müde. Kalua dagegen, der einige Stunden hier allein gewartet hatte, bis Eweliko mit der Liedspielerin eingetroffen war, hatte einen Weg im Geröll freigeräumt und zeigte ihnen nun den einzigen Baum, der von dem kleinen Hain geblieben war.
Der niedrige Baum hatte, wie der Rest, auf dem Steilhang gewachsen. Noch immer reckten sich gelbrote Blüten nach den Wolken des inzwischen dunkler werdenden Himmels. Doch ihre Farben waren blass, viele der grünen Blätter bereits abgefallen.
Prüfend strich Keli'ai über die matten Pflanzen, ohne ein Wort zu sagen. Sie betrachtete den Riss im Stamm, wo ein Stein diesen gespalten hatte. Dann schüttelte sie traurig den Kopf.
Die heiligen Blüten der seltenen Pflanze, Naairs Krone, war verwelkt!
"Was ... was machen wir denn jetzt?", fragte Eweliko unglücklich. Eigentlich sollte er im Morgen mit einer Halskette zurückkehren, deren Sternstück eine einzige der besonderen Blüten war. Doch wie könnte er auch nur eine Blüte von dieser letzten Pflanze brechen? Ganz abgesehen davon, dass diese farblos und die Blätter gewellt waren!
"Das ist ein böses Omen", raunte Kalua bedrückt. "Das Dorf muss davon erfahren."
"Gibt es nichts, was wir tun können?" Flehend sah Eweliko Kali'ai an. "Ein Lied, zum Beispiel?"
Sie schüttelte den Kopf. "Das hier ist der Wille der Geister."
Eweliko sah zur Erde. Es gab diesen besonderen Baum nur hier, nur an dieser Stelle. Nirgendwo sonst im Gebirge, einzig auf dieser unwegsamen Klippe. Sein Blick schweifte in den Abgrund zu seiner rechten, wo das Geröll Stillstand erlangt hatte. Sicherlich lagen die anderen Bäume dort unter Steinen gebettet. Wie die Hoffnung, dass das Land heilen könnte, nachdem die Fremdlinge es geschändet hatten!
Langsam sah er wieder zu seinen beiden Gefährten. "Was soll ich tun? Wie rette ich den Stamm vor diesem Unglück?"
"Ich denke nicht, dass wir etwas tun können", sagte Keli'ai leise. "Du bist ein guter Häuptling, du hast alles richtig gemacht. Dennoch ist mit deinem Vater etwas gestorben, das nie wieder blühen kann."
Als er schwieg, nahm sie ihn sanft in den Arm. Er ließ zu, dass sich ihre Kraft und Ruhe durch den Druck auf ihn übertrug. "Gehen wir zurück zum Dorf", sagte Keli'ai dann.
Mit Trauer im Herzen vollführte jeder die rituellen Abschiedsgesten, die Trauer und das Versprechen der Erinnerung in sich hielten. Sie ehrten den sterbenden Baum wie einen ihrer Toten. Denn in gewisser Weise hatten die heiligen Pflanzen zu ihrem Stamm gehört. Der Erdrutsch bedeutete einen großen Verlust für das Volk.
Während Eweliko seinen beiden Gefährten langsam vorausging, die Schritte schwer vor Kummer, geschlagen nachdem jede Hoffnung sich aufgelöst hatte, sanken die Doppelsonnen vor ihnen. Er schämte sich seiner Tränen über das verlorene Leben nicht. Im Meer über dem Westen wurde die Luft violett und dunkel, das Wasser schimmerte geheimnisvoll und dunkel wie die Zukunft.