Rating: P12 [CN: Erwähnung von Gewalt, Todeswunsch & Vergewaltigung]
Datum: um 1730
Nach dem Prompt „Gerippter Bachkäfer / Junikäfer“ der Gruppe „Crikey!“
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Sie hasste dieses Land.
Ja, sie war aus freien Stücken hergezogen. Hatte hart für die Überfahrt über das Schlangenmeer geschuftet und die Warnungen ihrer Eltern ignoriert. Elira hatte sich jede Nacht ausgemalt, wie Wajbaqwinat sein würde.
Dort lag auch das Problem. Der Wüstenkontinent war so anders als in den Berichten früherer Pioniere.
Die endlose Freiheit der Prärien entpuppte sich als trostlose Ödnis. Die majestätischen Dschungel als giftige Todesquelle und die vielversprechende Arbeit auf den Plantagen als Sklaverei. Sobald sie sich freigekauft hatte, war die junge Kriegerin zur al Taskmadhia gezogen, und die 'majestätischen Dünen in der Farbe von Sonnenuntergängen' waren eine endlose, sandige, blutrote und tödlich heiße Plackerei gewesen.
Da waren keine Abenteuer zu finden, kein Gold, nicht das versprochene Glück, dessen Größe nur von dem Fleiß ihrer Hände abhängen sollte. Elira hatte die Wüste überlebt, aber nicht dank ihrer Fähigkeiten. Eine Karawane der Nunya-Indianer hatte sie mitgenommen.
Jetzt war sie in der Tasmada, wo die Eisenbahn gebaut wurde und alles vom Fortschritt sprach, doch in ihren Ohren hallten nur die Worte der Indianer wider.
"Fremdling."
Sie war fremd in diesem Land. Sie gehörte nicht hierher. Nun endlich begriff Elira, dass sie einer Lüge aufgesessen war. Sie war weit, weit weg von zuhause. Lirhajn schien am anderen Ende der Welt zu liegen! Sie hatte kaum noch Geld, keine Hoffnung, ein Stück Land zu kaufen und sich ein Leben aufzubauen. Sie hatte auch keine Illusionen, das das gelobte Shakdee in irgendeiner Form besser wäre. Wajbaqwinat war eine Lüge, eine endlose Landfläche aus Hitze, Staub und Sand, die glorreiche Freiheit pures Chaos. Gesetzlosigkeit.
Sie hatte die Stadt verlassen, weil eine Schießerei ausgebrochen war. All ihr Zeug war noch dort, doch sie wagte nicht, umzukehren. Wozu auch? In der angeblichen Zivilisation wurde man vergewaltigt, ausgeraubt, in einem Hinterhof erschossen und dann den Qutrubs zum Fraß vorgeworfen.
Wieso sollte sie umkehren, wenn sie auch einen friedlicheren Tod in der Steppe finden könnte?
In diesen düsteren Gedanken störte sie ein Brummen und sie erstarrte. Es war ein Käfer. Nur ein kleiner Käfer, den sie auf einem dürren Strauch erblickte.
Aber Käfer - allgemein Insekten, außer den Mücken und Zikaden - waren selten in diesem Land.
Elira musterte das Insekt genauer. Ein unauffälliger, brauner Käfer, doch er erschien ihr so vertraut. Hatte sie solche nicht am Dorfrand zuhause gejagt? Wie hießen sie noch gleich? Sommerkäfer! Weil sie in den Sommermonaten so zahlreich schwärmten ...
"Was machst du denn hier?"
Sie hockte sich neben den Busch, streckte die Hand aus. Als wäre der Käfer ein Hund. Natürlich zuckte er vor ihrem großen Daumen zurück.
"Du bist weit weg von Zuhause", murmelte sie, während sie das Tier mit schiefgelegtem Kopf betrachtete. "Hier ist es doch viel zu warm für dich."
Zu ihrem Erstaunen kroch der Käfer auf ihre Hand. Sie stand auf und hielt ihn nah vor ihr Gesicht, noch immer ungläubig. Doch es war wirklich ein Sommerkäfer. Ihr wollten die Tränen kommen, weil sie bei diesem Anblick ihre Heimat so unfassbar vermisste ...
Der Käfer flog auf.
"Warte!", rief sie ihm nach. "Komm zurück!" Sie heftete den Blick auf den kleinen Punkt am Himmel und rannte ihm nach.
Sie lief und lief, trotz der Hitze, bis sich ganz unvermittelt der Boden vor ihr auftat und sie stolpernd am Rand eines tiefen Tales anhielt. Vielleicht war es auch eine Schlucht, gerissen von den trägen Gezeiten der Erde, kaum größer als die Felder ihres Dorfes. Doch ihr Blick glitt weiter, in die Tiefe, die der Käfer nun aufsuchte.
Dort unten war es grün. So unfassbar grün. Kühle stieg aus der Schlucht auf, strich über ihre Haut. Pflanzen drängten sich so dicht, dass der Boden kaum zu sehen war. Pflanzen der Dschungel. Nadelbäume. Mächtige Salbäume und Birken wie zuhause in Lirhajn. Sie sah Palmen und Akazien und so vieles mehr, das sie nicht benennen konnte. Manche Bäume waren riesig, doch ihre Kronen ragten nicht aus der kleinen Schlucht heraus. Andere waren so bauchig, dass sie irreal erschienen, und wieder andere dünn.
Es war ein Wald, wie sie ihn noch nie zuvor gesehen hatte.
Langsam folgte Elira einem Pfad an der Seite, der hinabführte. Ein Prickeln lag in der Luft und sie begriff, was sie ohnehin gewusst hatte: Magie bewahrte dieses Wunder vor Hitze und Sandstürmen. Magie hatte Wasser aus dem harten Boden gelockt, der anderswo nur verbranntem Gras Nahrung bot. Ein kleiner Flecken Paradies, verborgen vor allen Blicken, ein Diamant inmitten einer Kohleader.
Tief in ihrem Herzen wusste Elira, dass dieser Ort ein Geheimnis bleiben musste, wenn er fortdauern sollte. Siedler könnten dieses Tal in nur einer Woche komplett roden! Nichts durfte sie von diesem Schatz verlauten lassen, kein Andenken mitnehmen.
Doch sie ahnte nun, dass die Erzählungen von den Wundern Wajbaqwinats nicht völlig übertrieben gewesen waren. Und dies war der größere Schatz.