Rating: P12
Datum: 1566 nach Bernstein, am 12. Tag des Erntemonds
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‚Du bist verrückt!‘, schoss es Kalaris durch den Kopf, als er hörte, wie die Wellen sich an den Klippen brachen, um ihre Füße schäumten und wirbelten. Das Wasser spritzte und gurgelte ohrenbetäubend. Der Zwerg riss an den Tauen seines kleinen Bootes.
‚Verrückt!‘, kreischte die innere Stimme. Kalaris wusste nicht, ob es seine eigenen Gedanken waren oder doch die Echos der Zweifler, denen er von seinem Vorhaben erzählt hatte. ‚Kein Seefahrer ist aus der Enge zurückgekehrt. Mit so einem kleinen Boot wirst du kentern!‘
Und doch war da diese Lücke gewesen, die er mit dem Fernrohr erspäht hatte. Ein Spalt zwischen den gigantischen Felsen.
Die unruhigen Wasser warfen sein Boot unsanft hin und her. Kalaris eilte zurück zum Steuer, eine Hand immer an der Reling. Er zerrte an den Hebeln neben dem Steuerrad. Eigentlich sollten sich die Segel damit bedienen lassen – niemand hatte Kalaris begleiten wollen, und selbst ein so winziges Schiff konnte man nicht ohne Tricks alleine steuern – doch zwei der Griffe waren bereits gesplittert und das Tau für das Hauptsegel klemmte. Kalaris wusste nicht, woran es lag, und er hatte auch keine Chance mehr, das zu ändern.
Verbissen drehte er am Steuerrad. Die Seite des Bootes schrammte über irgendein Hindernis, das unter der aufgewühlten Wasseroberfläche verborgen gewesen sein musste.
„Beim schwarzen Salamander!“ Kalaris lenkte das Schiff zur Seite und betete nicht zum ersten Mal, dass auf das Schrammen kein Splittern folgen würde. Erneut war die tosende See zu laut, als dass er es hätte hören können.
Eine Welle packte das Schiffchen und hob es in die Höhe. Kalaris sah eine Felswand auf sich zu rasen und lehnte sich zur Seite, um das Schiff irgendwie noch aus dem Weg zu manövrieren. Diesmal hörte er deutlich, wie Holz splitterte, als die Seitenwand gegen den Stein krachte. Heulend warf die See ihn vorwärts, der Kiel des Bootes raste auf die gegenüberliegende Felswand zu. Der Kanal war nicht länger breit genug, um zu wenden.
Kalaris warf sich mit aller Macht in das Steuerrad und ließ es durchdrehen. Er hörte ein Krachen, als das Steuerruder unter ihm gegen Holz schlug. Ein Ruck ging durch das Schiff. Die vordere Spitze kratzte über Felsen. Das Holz unter ihm stampfte, dann drehte das Boot sich und glitt vorwärts. Die nächste Welle erfasste das Heck und schleuderte Kalaris‘ Schiffchen durch die schmale Lücke zwischen den Felsen.
Kalaris blinzelte gegen helles Sonnenlicht. Er drehte das Ruder zurück und lauschte panisch auf Geräusche, die ihm verrieten, dass er gegen den nächsten Felsen schlug.
Doch kein Geräusch erklang. Das Tosen blieb hinter ihm zurück und als sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, fand er sich in einer stillen Bucht wieder. Die Wellen schwappten leise gegen die Felsen und rollten auf den Sand am Ende der Bucht.
Keuchend wischte Kalaris sich Salzwasser und Schweiß von der Stirn. Seevögel kreischten über ihm, Möwen, die an den steilen Klippen nisteten. Hinter dem Sandstreifen, den die Wellen offenbar angehäuft hatten, erstreckten sich zerklüftete Felsen, doch Kalaris‘ Entdeckerblick suchte und fand bereits Möglichkeiten, die Klippen zu beklettern. Auf jeden Fall waren sie weniger steil als die Wände der Schlucht hinter ihm, und dass ihr Fuß auf trockenem Boden stand, machte die Sache noch einmal einfacher.
Zufrieden raffte er jene Segel, die er mit seinem Hebelsystem noch steuern konnte. Dem Zentauren-Handwerker, der es erschaffen hatte, verdankte Kalaris sein Leben. Anders hätte er die Reise nicht überstanden. Nicht alleine. Nicht ohne eine Mannschaft.
Die Fahrt des Schiffes verlangsamte sich und Kalaris reffte die restlichen Segel, ehe er zurückkehrte und mit den funktionierenden Tuchflächen weiterfuhr. Der Wind trug sein Boot über die ruhige See zum Strand. Im Inneren dieser Bucht gab es kaum Wellen, sie alle wurden draußen von den steilen Klippen und Stromschnellen abgefangen.
Der Friede fühlte sich nach der strapaziösen Überfahrt geradezu irreal an. Als wäre er plötzlich taub geworden.
Der Zwerg senkte den Anker kurz vorm Strand und ging unter Deck, um den Schaden zu begutachten. Wasser war ins Innere gelaufen. Die Fahrt hatte mehrere tiefe Kratzer in der Bordwand hinterlassen, doch diese ließen sich schnell mit etwas Pech abdichten. Wichtiger war, dass seine Ausrüstung heil geblieben war. Er hatte sie ausreichend fest verschnürt.
Er nahm die Kletterausrüstung aus dem großen Sack, bevor er ihn schulterte und sich durch das seichte Wasser watend zum Strand begab, keuchend unter der Last.
Es wurde Zeit, diesen Berg in die Knie zu zwingen!
~ * ~
Der Aufstieg war hart, aber Kalaris hatte schon steilere Klippen gesehen. Er hatte die eisigen Steigen von Akijama erklommen und das porösen Gestein des Ulumuru besiegt. Jetzt trieb ihn der Hunger auf neue Welten. Niemand vor ihm hatte diese Klippen überwunden – er konnte gar nicht abwarten, welche Wunder ihn erwarteten.
Doch der Anblick hinter den Klippen war enttäuschend. Die dunklen Steine flachten ab und erlaubten es Kalaris, zu Fuß einigen verschlungenen Pfaden zu folgen. Ob dies uralte Wege von Menschen waren oder nur die Trampelpfade von Tieren – oder sogar weder das eine noch das andere, sondern das simple Ergebnis von Jahren herbeigewehten Sandes, der sich zwischen den Klippen angesammelt hatte – konnte Kalaris nicht erkennen. Kaum ein Kraut wuchs zwischen den dunkel aufragenden Steinen. Die scharfe Brise vom Meer traf auf heißere Winde vom Landesinneren. Die Luft war dünn.
Leicht gebeugt unter der Last seines gewaltigen Rucksacks stapfte Kalaris über den unwirklich toten Sandboden. Langsam wurde der Weg flacher und flacher. Kalaris bemerkte huschende Eidechsen auf den Berghängen.
Die Sonne hatte bereits tief gestanden, als er den Anker gesetzt hatte. Jetzt zwang ihn die heraufziehende Nacht zu einer Pause. Kalaris hielt widerstrebend bei einem kleinen Tal, das gerade groß genug war, um im Schutz von drei Felswänden sein Zelt aufzubauen. Der Zwerg bereitete sein Lager und holte dann Feuerholz aus seinem Rucksack. Seine Vorräte würden nur zwei Nächte vorhalten. Er würde zusehen müssen, dass er mehr Holz fand.
Als die Flammen knisterten, Tee darüber köchelte und Kalaris Reis und eingelegte Eier aufwärmte, war die Nacht bereits hereingebrochen. Obwohl er am liebsten weiter erforscht hätte, wusste er, dass es unklug gewesen wäre, im Dunkeln durch eine fremde Umgebung zu wandern.
Seufzend starrte der Entdecker in die Flammen. Er dachte darüber nach, dass die Aufregung ihn heute Nacht sicherlich nicht schlafen lassen würde. Er war in einer vollkommen neuen Umgebung, in einem Land, das kein vernunftbegabtes Wesen vor ihm jemals betreten hatte! Wer könnte da schon ruhig schlafen?
Seine Euphorie wurde unterbrochen, als er ein fernes Gejaule hörte. Es klang nicht ganz wie Wolfsgeheul – schriller, unregelmäßiger und höher. Doch es gab keinen Zweifel, dass dies der Jagdruf großer Carnivoren war.
Kalaris sprang auf und sah sich nach einer Waffe um. Selbstverständlich besaß er ein Schwert, doch konnte er damit nicht sonderlich gut umgehen. Vielmehr verließ er sich darauf, dass allein der Anblick der Waffe Banditen und anderes Gesocks abschrecken würde: Es war ein teures, fein gearbeitetes Schwert, das einem Freund von Kalaris vor dessen Ableben gehört hatte. Den Krieger hatte es während ihrer Reisen durch den dhubayaanischen Dschungel erwischt. Eine castrische Hure hatte Kalaris einmal gefragt, ob er das Schwert als Erinnerung oder als Mahnung behielt und er wusste bis heute nicht, was er darauf antworten sollte.
Ein von Kämpfen gezeichnetes Schwert würde Wölfe nur bedingt abschrecken. Also entschied sich Kalaris für einen brennenden Ast aus dem Feuer. Aufmerksam stand er da, die heiße Waffe in der Hand, und lauschte in die Dunkelheit. Das Gejaule war verstummt. Sehen konnte er nichts, das helle Feuer hatte seine Augen geblendet. Atemlos wartete er. Seiner Erfahrung nach müsste er das Knurren der Angreifer hören können, ehe sie ihn ansprangen. Doch er kannte dieses Land nicht und wusste nicht, mit welchen Gefahren er hier rechnen musste. Was, wenn diese Raubtiere klettern konnten und über die Felswand hinter ihm angreifen würden?
Schaudernd sah Kalaris sich um. Die Felsen, auf denen sein flackernder Schatten tanzte, erhoben sich dunkel und gewaltig hinter ihm.
In diesem Moment hörte er das Japsen. Kalaris wirbelte herum, doch er sah nur noch einen Wirbel dunklen Fells, als auch schon etwas gegen ihn krachte und ihn von den Füßen riss. Kalaris schlug blindlings mit der Fackel zu. Er hörte ein Jaulen, dann riss der Aufprall ihm die Fackel aus der Hand.
Er hörte Pfotentrappeln, das sich entfernte. Der Angreifer war geflohen!
Blinzelnd orientierte Kalaris sich. Er lag auf dem Zelt, das unter seinem Gewicht zusammengebrochen war. Die Fackel lag neben ihm – und die Flammen griffen auf den Stoff über!
Kalaris wollte sich zur Seite rollen, da explodierte Schmerz in seiner Seite. Er griff dorthin und fühlte Nässe. Als er die Finger wieder vor das Gesicht hob, waren sie rot vom Blut.
Er hustete. Rauch kroch ihm in die Lunge. Sein Hals fühlte sich an, als stünde er in Flammen.
Verzweifelt tastete Kalaris über die Zeltplane. Er suchte nach irgendwas … eine Waffe, ein Eimer Wasser, Rettung.
Dann legte sich Schwärze über seine Sinne und zog ihn hinab in eine unbestimmbare Tiefe.
~ * ~
Sein Hals fühlte sich wie mit Glassplittern gefüllt an. Kalaris rang nach Atem. Etwas kribbelte in seiner Luftröhre und zwang ihn, sich in einem Hustenkrampf zu winden.
Dann hörte er eine Stimme. Worte in einer Sprache, die er nicht begriff. Etwas berührte seine Schulter und half ihm, sich auf die Seite zu drehen.
Gierig rang Kalaris nach Sauerstoff. Dann erst konnte er blinzelnd die Augen öffnen.
Er lag auf Gras. Schmerz pulsierte in seiner Seite und er erinnerte sich schlagartig an die Bisswunde. Seine Hand fuhr zu seinen Rippen, doch die Finger stießen auf Stoff.
Schritte erklangen hinter ihm. Dann kamen ein Paar Füße in Sicht. Nackte Füße mit schwarzen, unregelmäßigen Zehennägeln und gelbbrauner Haut. Kalaris blinzelte und wollte die Augen weiter aufreißen, doch seine Muskeln gehorchten ihm nicht. So hob er zwar die Brauen, doch die Lider flatterten halbgeschlossen, juckend vor Müdigkeit und tränend vor Helligkeit.
Es war der nächste Morgen. Mindestens.
Wieder erklang eine Stimme. Die gleiche wie vorher, Kalaris erkannte sie. Er konnte ebenfalls bestimmen, dass es eine Frau war, die sprach. Doch Worte erschlossen sich ihm keine. War er noch zu benommen, um sie zu verstehen?
Oder … handelte es sich um eine fremde Sprache?
Die Neugier jagte Kalaris in die Höhe, ungeachtet der Schmerzen. Schlagartig war er hellwach und sah die Frau an, die bei seiner plötzlichen Bewegung einen Schritt zurück machte.
Sie hatte sehr helle, gelbliche Haut. An den Ärmeln ihres weiten, weißen Oberteils und der knielangen Hose aus hellem Leder konnte Kalaris dunklere, braune Flecken sehen, sie sich regelmäßig über die Oberseite ihrer Arme und die Schienbeine zogen, während die Arminnenseiten und die Waden unbedeckt waren. Auch an ihrem Hals konnte er Flecken aus dem Nacken erahnen, jedoch keine an der Kehle. Ihr Gesicht war rundlich, und sie hatte kurzes, rotbraunes Haar. Ihre Lippen, Fingernägel und sogar die Nasenspitze waren schwarz. Dunkle Linien umrahmten auch ihre schrägen, tierischen Augen. Zuletzt entdeckte Kalaris die beiden fellbesetzten Ohren am Kopf, zu beiden Seiten ihrer Haare, die sich als Streifen über den Schädel zogen, die Schläfen und Seiten jedoch freiließen.
Eine Tierfrau. Welcher Tierart, das konnte Kalaris nicht sagen. Ihre runden, dunklen Ohren waren geformt wie die eines Bären und dünn wie die einer Katze.
Wieder sagte sie etwas. Ihre Stimme klang fröhlich und gleichzeitig vorsichtig. Sie wollte ihm wohl sagen, dass sie keine Gefahr darstellte, doch Kalaris verstand ihre Sprache nicht. Seine plötzliche Bewegung musste die Frau erschreckt haben.
„Ich tue dir nichts“, sagte er auf Castrisch und hob beschwichtigend die Hände.
Die Tierfrau starrte ihn an.
„Kalaris“, sagte er und deutete auf sich. Dann hob er fragend den Blick.
„Sheyrkada“, sagte die Tierfrau mit schwerer Zunge und deutete auf sich.
Mit fragendem Blick machte Kalaris eine Geste, die das weite Land ringsum einfasste. „Wo bin ich?“
Sheyrkada lächelte, was ihre spitzen Zähne im breiten Kiefer offenbarte: „Wajbaqwinat.“