- Vom Affen, der von der Drehorgel fiel -
Als die beiden Jungen um die Ecke bogen, erblickten sie eine drängelnde und schubsende Menschenmenge an den Eingangstoren. Hier griff blanke Panik um sich. Wo die Menschen daheim bei den leichten Erdstößen nur milde lächelten, verwandelten sie sich hier in eine blökende Schafherde, in deren Mitte ein Wolf wütete. Sie rempelten hemmungslos, drängten sich gegenseitig aus dem Weg und rissen anderen an der Kleidung, um schneller durch die Türen ins Freie zu gelangen. Verzweifelte Mütter riefen schrill nach ihren Kindern, andere suchten lautstark ihre Angehörigen. Es war ein lärmender und wogender Hexenkessel aus Geschrei und Emotionen. Familien, die sich gefunden hatten, hielten einander weinend in den Armen. Die ersten geflüchteten Besucher fuhren vom Parkplatz oder warteten derangiert an der Bushaltestelle an der Straße.
Chris verstand die ganze Aufregung nicht. Es war im Grunde nichts außergewöhnliches geschehen. Es war kein solch starkes Beben gewesen, wie sie hier alle paar Jahre auftraten. Die Geschäfte hätten ihre Waren nur besser in den Regalen sichern und an den Wänden befestigen sollen, dass ja. Dann wäre auch weniger zu Bruch gegangen. Doch alles in allem schien niemand verletzt, von ein paar Kratzern oder Schrammen abgesehen, die die Menschen sich bei ihrer Flucht gegenseitig zugefügt hatten. Selbst daheim fiel einem mit Pech die Lampe auf den Kopf - oder das Marmeladenglas auf die Füße. Ebenso gab es immer mal wieder Stromausfälle, wenn Leitungen rissen. Doch von leichten Blessuren abgesehen schienen hier alle Besucher mit dem Schrecken davongekommen zu sein.
«Wir sollten zum Auto gehen», unterbrach Ben die Gedanken seines Bruders. Dann bemerkten die beiden etwas Seltsames. Der Anblick war so absonderlich, dass Chris sich unwillkürlich fragte, ob das gesamte Geschehen hier vielleicht doch nur einem merkwürdigen Traum entsprang.
An einer Ecke des Vorplatzes zum Einkaufszentrum tanzte und lärmte eine bunt gekleidete Gestalt hinter einer Drehorgel. In geflickten, nicht zusammenpassenden Gewändern, mit einem vergammelten Zylinder auf dem Kopf kurbelte sie an dem fahrbaren Instrument. An ihrer Brust schwang ein gelb-brauner funkelnder Anhänger.
Das Schmuckstück hüpfte und sprang lustig auf den krausen Brusthaaren, die aus dem halb geöffneten, geblümten Hemd quollen. Die Gestalt selbst bewegte sich abgehackt und wechselte immer wieder von einem Bein aufs andere. Die Vogelfedern, welche die Kopfbedeckung zierten, wippten dabei keck auf und ab. Vor der Gestalt hockte ein kleines Äffchen auf der Drehorgel, halb versteckt zwischen Heiligenstatuen und qualmenden Räucherstäbchen. Das Tier war an das Instrument gekettet. Es trug einen verschlissenen Frack und beobachtete die Umgebung mit weit aufgerissenen Augen. Immer wieder warf es seinem Besitzer scheue Blicke zu.
Dies war Nathaniel, der Voodoomann. Er wohnte im gleichen Ort wie die Jungen. Wobei «wohnen» hier vermutlich der falsche Ausdruck war. «Hausen» beschrieb es da schon besser. Nathaniel und sein Affe Herr Fröhlich lebten am Ende des Krummen Weges, in einer halbverfallenen Villa. Jeder im Ort nannte das Gebäude nur das Geisterhaus. Und niemand näherte sich diesem Platz freiwillig. Hinter einem Holzzaun, der nur von Brombeerranken gehalten wurde, - eingerahmt von zwei durch Kletterpflanzen erwürgten Trauerweiden - stand der hölzerne Albtraum aller Kinder der Umgebung. Das Grundstück selbst war wild wie ein Urwald, mit Büschen und Unkraut bewachsen. Die Fenster des Hauses mittendrin waren im Erdgeschoss mit Brettern vernagelt. In der Etage darüber pfiff der Küstenwind oft durch die leeren Fensterhöhlen ein grausiges Lied. Die dunklen Öffnungen erinnerten Chris jedes Mal an die Augenhöhlen eines Totenschädels, und das Geräusch des Windes an den stürmischen Herbsttagen erschien ihm wie eine grässliche Totenklage. Nein, diesem Ort näherte sich niemand freiwillig.
Nur Ben brüstete sich gerne damit, selbst einmal dort gewesen zu sein. Seinen Worten nach dürfte es sich um eine dieser blödsinnigen Mutproben gehandelt haben, die Jungen einander manchmal abverlangten. Besonders als Chris noch kleiner war, fand Ben es lustig, ihm vor dem Schlafengehen einige prekäre Details über das Geisterhaus zu berichten. Er erzählte ihm von den Fledermäusen, die dort unter dem Dach hausten und vielleicht, ja nur vielleicht sogar Blut tranken. Er schilderte Kerkerzellen, die er im Keller der Villa gesehen haben wollte und in denen etwas lag, das vielleicht hätten Knochen sein können. Es gäbe womöglich Bilder im Haus, deren Gesichter auf den Gemälden neugierige Besucher mit ihrem Blick verfolgten, wenn man an ihnen vorbei ging. Und die Treppe ins Obergeschoss knarrte Worte in fast menschlicher Sprache, wenn man sie betrat. Böse, bedrohliche Worte. Womöglich war es sogar ein Fluch, der sich erfüllte, wenn man alle Stufen der Reihe nach passiert hatte.
Und er erzählte Chris vom geheimen Friedhof. Hinter der Villa lag angeblich ein verwilderter Platz voller Grabsteine, wo der alte Voodoomann alle Kinder vergrub, die sein Haus betreten hatten und darin gestorben waren. Was natürlich absoluter Blödsinn war, das wusste Chris inzwischen. Wenn auch nur ein einziges Kind dort gestorben wäre, dann hätten die Bewohner des Ortes das Haus vermutlich längst abbrannt und den Bewohner samt seinem Affen vertrieben. Da war sich Chris sicher. Doch so lange nichts Schlimmes geschah, ignorierten alle im Ort das Haus, mieden den Bewohner und hofften, die Villa würde eines Tages einfach von alleine zusammenbrechen. Und womöglich hofften manche sogar, es würde dabei auch den Voodoomann und seinen grässlichen Affen unter sich begraben.
Überhaupt, jeder im Dorf nannte den alten Nathaniel nur den Voodoomann. Und seinen Familiennamen kannte vermutlich überhaupt niemand mehr. Auch wusste keiner, wie alt er war. Wenn Chris seinem Großvater glaubte, dann hatte Nathaniel schon vor 80 Jahren als alter Mann dort im Haus gelebt. Das war natürlich albern, niemand lebte so lange. Aber merkwürdig war es schon. Doch über solche Dinge sprach man hier nicht. Die Menschen waren froh, wenn sie nicht an den alten Mann mit seiner Drehorgel denken mussten - und Nathaniel war dankbar, wenn man ihn in Ruhe ließ.
Doch heute stand er hier, direkt am Rande des Chaos und der Massenhysterie. Und doch schien ihn eine unheimliche Ruhe zu umgeben. Es wirkte, als befände sich der Voodoomann genau im Zentrum eines Wirbelsturms. Oder womöglich war er auch selbst der Wirbelsturm, überlegte Chris kurz.
Auch wenn er rastlos tanzte und sprang, seinem Instrument immer neue pfeifende und röhrende Laute entlockte, so verströmte er doch bei allem eine Aura der entspannten Gelassenheit. Als ob dieser Anblick nicht schon merkwürdig genug war, so standen sogar einige Leute um ihn geschart und lauschten seiner Musik.
Zwischen den Erwachsenen erkannte Chris zwei Mädchen. Herausgeputzt in ihren besten Sonntagskleidchen hielt eines eine Tüte Popcorn, die andere einen Hotdog in den Händen. Von dem Geschehen am Eingang völlig unberührt wiegten sich die Zuschauer in der Melodie des Liedes und lächelten über die Kapriolen des Äffchens, das gemeinsam mit Nathaniel Luftsprünge vollführte und auf der Drehorgel Purzelbäume schlug.
Zwei Herren waren so vom Schauspiel angetan, das sie einige Münzen aus ihren Taschen zogen und vor dem Duo auf den Boden warfen. Keckernd sprang das Äffchen herunter und sammelte sie auf. Nach und nach beförderte es das Geld in eine Schale. Bei jeder klingen Münze sprang der alte Mann mit beiden Beinen in die Luft und schlug die Schuhsohlen klatschend zusammen. Anschließend schwenkte er jedes Mal seinen uralten Zylinder dankend in Richtung der beiden Herren. Seine langen, schwarzen Haare wehten dabei wild im Wind. Die Mädchen klatschten begeistert. Eine versuchte, das Äffchen mit hingeworfenem Popcorn zu ködern, was das Tier allerdings gänzlich ignorierte. Enttäuscht wandten sich die beiden Mädchen ab.
Auch Chris und Ben blickten sich wieder zum Einkaufszentrum um. Der Drehorgelspieler hatte sie völlig in seinen Bann gezogen. Nun schien sich die Aufregung an den Eingangstüren hinter ihnen zu legen. Der Geräuschpegel dort war merklich gesunken, die Menschen kamen scheinbar langsam zur Besinnung. Mehrere Sicherheitsleute hatten helfend eingegriffen und aus dem wilden Haufen vier Reihen geformt, die nun gesittet durch die Türen ins Freie gelangten. Es konnte nicht mehr lange dauern, dann würden ihre Eltern und Nelly auftauchen. Die Jungen wollten sich auf den Weg zum Auto machen, als sie ein schriller Schrei aufschreckte.
Der Affe war einem der Mädchen auf die Schulter gesprungen und hatte sich dort etwas geschnappt. Das Kind schrie entsetzt auf, doch der Affe lief bereits mit seiner Beute - dem Hotdog-Würstchen - zurück zur Drehorgel. Im Sonnenlicht blitzte der Ohrring des Affen kurz auf, dann versteckte er sich kauend hinter der Drehorgel.
Das Mädchen kreischte ununterbrochen, hielt sich eine Hand an die Wange. Als die besorgten Eltern ihre Hand zu Seite zogen, bemerkte Chris einen blutigen Kratzer, der vom Affen stammen könnte. Die empörten Eltern des Kindes wandten sich zum tanzenden und hüpfenden Nathaniel. Dieser grinste sie jedoch nur mit gelben Zähnen an und lüftete seinen Hut erneut in einer spöttischen Verbeugung.
Ben hatte von alledem nichts mitbekommen, sondern ihre Eltern entdeckt und zog an Chris Arm. Dieser war dagegen vom Geschehen an der Drehorgel gebannt. Das Äffchen fraß die letzten Reste des Würstchens, dann leckte es sich einige Blutstropfen von seinen winzigen Fingern. Diese mussten von dem Mädchen stammen, dachte Chris angeekelt und gleichzeitig fasziniert. Die zornigen Eltern des Mädchens drangen weiter auf den Voodoomann ein. Nathaniel dagegen ließ sich nicht von seinem Spiel abbringen. Er grinste bloß noch breiter und drehte schneller an seiner Kurbel. Die Musik aus der Drehorgel wurde aufpeitschend und hektisch, sein Tanz unbändiger und wilder. Der Affe sprang schrill kreischend auf der Drehorgel umher.
Verwirrt hielten die Eltern inne. So etwas hatten sie niemals zuvor erlebt. Der Voodoomann erinnerte entfernt an die wild auflodernden Flammen eines riesigen Osterfeuers; an einen Vogel, der wild mit den Flügeln schlug. Die entfesselte Musik brachte die Herzen der Zuschauer zum Rasen.
Dann fiel der Affe um.
Er rollte langsam auf die Seite, glitt über die Kante des Instruments und landete auf den Asphalt.
Nathaniel erstarrte, blickte entsetzt auf. Die Drehorgel verstummte.
Und Chris Herz setzte in der plötzlichen Stille einige Schläge aus, bevor es dröhnend weiter schlug.
Bestürzt wichen die Zuschauer zurück. Der Voodoomann stieß einen Klagelaut aus und stürzte zu seinem Affen. Vorsichtig nahm er das leblose Bündel hoch. Unter jammernden Lauten wiegte er es im Arm und streichelte dabei über den kleinen Kopf des Tieres. Doch es regte sich nicht mehr.
Ben zog noch immer am Arm seines Bruders, versuchte, ihn zu den Eltern zu schleifen.
«Ben, hast du das gesehen?», wollte der sich sträubende Chris von seinem Bruder wissen, als er über den Parkplatz geschliffen wurde.
«Ja, der blöde Affe ist endlich tot. Er hat mich auch schon mehrere Male gebissen. Was glaubst du denn, warum er an einer Kette hängt?», erwiderte dieser nur.
Dann zog er ihn weiter.
Wenige Minuten später saßen alle wieder im Auto vereint. Bleich, die Haare etwas verstrubbelt, die Mutter hatte einen Riss im Ärmel ihrer Bluse, fuhren sie nach Hause.
«Ich sag euch, dieser ganze moderne Kram im Einkaufszentrum ist totaler Blödsinn», durchbrach die Stimme des Vaters die bleierne Stille. Chris erinnert sich an die wunderbare Konsole und widersprach ihm im Stillen. Dann dachte er wieder an den Voodoomann und den Affen und ihn erfüllte eine bisher unbekannte Angst. Was war da eben eigentlich geschehen?