- Im Garten des Bürgermeisters -
Chris hatte es eilig, Ben endlich vom Anruf zu berichten. Nachdem er den Gasthof umrundet und an den blühenden Heckenrosen seiner Mutter vorbei bis zur Straße gelangt war, knurrte sein leerer Magen jedoch erneut. Ihm fiel wieder die versäumte Wurst ein. Kurz überlegte er, noch einmal zurück in die Küche zu gehen. Doch er entschied sich dagegen und rannte los, der Biegung der Hauptstraße folgend. Er wollte zu Ben. Je eher er ihn erreichte, desto mehr Zeit blieb ihm, um seinen Bruder zu überzeugen.
Er passierte den Laden des Bäckers, der die Fensterläden geschlossen hatte und zu dieser Uhrzeit bereits im Bett lag. Dahinter zweigte die Stockgasse ab, in der Mick zusammen mit seiner halbtauben Oma lebte. Vermutlich strickte die alte Frau gerade wieder an einem Auftrag, mit dem sie ihre Rente aufbesserte. Chris besuchte seinen Freund nur selten daheim. Die Oma hörte nicht nur schlecht, sondern ihr Gehstock lag auch immer griffbereit. Man konnte sich dort niemals sicher sein, ob sie nicht hinter dem Türrahmen lauerte, ob die Jungen etwas - in ihren Augen - Verbotenes taten.
Einmal, Chris und Mick waren höchstens acht Jahre alt gewesen, hatten sie auf Micks Bett gesessen und sich leise unterhalten. Es war nichts außergewöhnliches gewesen, nur Dinge, über die sich Jungen in dem Alter eben unterhielten. Doch Chris hatte in seiner Erzählung das A-Wort benutzt. Ihm war es damals völlig normal und gerechtfertigt vorgekommen, auch wenn seine Mutter es nicht gerne aus seinem Mund hörte. Doch es war in ihrem Gespräch um Raul gegangen, einem gemeinen Jungen aus einem höheren Jahrgang, der mit Freude Jüngere und Schwächere auf dem Schulhof schikanierte. Und daheim am Abend, wenn Chris hinter dem Tresen in der Gaststube spielte, hörte er das gleiche Wort andauernd in den Gesprächen der Erwachsenen. Daher kam es ihm auch nicht verwerflich vor, es ab und an selbst zu nutzen.
Doch an diesem Tag auf Micks Bett hatte er es kaum ausgesprochen, ja die letzte Silbe war gerade seinen Lippen entwichen, da traf ihn bereits der hölzerne Gehstock der Oma am Hinterkopf. Verblüfft und schockiert den schmerzenden Kopf reibend musste er sich daraufhin eine Strafpredigt über die Nutzung von schlimmen Worten anhören. Dabei hätte er Stein und Bein geschworen, die Stricknadeln der alten Frau noch Sekunden vorher im Nebenzimmer klappern gehört zu haben.
Bei seinen vorherigen Besuchen hatte Chris sie stets nur in ihrem alten Sessel sitzend gesehen. Sie war ihm stets wie eine alte, graue Taube in ihrem Nest vorgekommen, emsig mit den Stricknadeln klappernd. Auf den Tischchen links und rechts lagen unzählige Wollknäuel in allen Farben des Regenbogens, auf der Pinnwand hinter ihr Listen mit Aufträgen. Denn wenn sie auch eine gemeine, alte Frau war, ihre Strickkünste waren weithin bekannt.
Chris rieb sich bei der Erinnerung über den Hinterkopf, auch wenn der Vorfall nun vier Jahre zurücklag. Es war immer besser, draußen auf Mick zu warten. Auf das Risiko einer neuen Beule konnte er verzichten.
Ein Dutzend Schritte weiter - auf der anderen Seite der Hauptstraße - stand der Krämerladen von Finns Eltern. Wenn man Finn suchte, schaute man am besten zunächst einmal durch das vergitterte, rückwärtige Lagerfenster. Der wissbegierige Junge konnte dort stundenlang zwischen den Wissens- und Fachmagazinen verbringen. Doch jetzt wollte Chris nicht zu Finn, sondern zu seinem Bruder. Außerdem stand gerade die Drehorgel unter dem Fenster, also war der gruselige Voodoomann im Laden. Niemand würde Chris jetzt dort hinein bekommen.
Doch sein Ziel war ja Ben. Er rannte eilig weiter. Es ging schließlich um seinen Seelenfrieden. Ach was, ihrer aller Glück. Es ging um die modernste Errungenschaft der Unterhaltungselektronik, die ihr Leben erst richtig lebenswert machen würde, die Spielkonsole.
Als er am Krummen Weg vorbeilief, warf er einen kurzen Blick auf das Geisterhaus an dessen unterem Ende. Sofort spürte er, wie sich die Härchen an seinen Armen aufrichteten. Das Haus war wirklich gruselig. Die tiefstehende Sonne beleuchtete lediglich noch den Dachfirst, der Rest lag bereits in Schatten gehüllt. In den flankierenden Trauerweiden im Garten hockten schwarze Punkte lauernd auf den toten Ästen. Vermutlich Krähen, dachte Chris und schüttelte sich.
Zwei Abzweigungen später begann der Hund des alten Hoffmann hinter dem Zaun zu bellen, als er daran vorbeilief. Chris zuckte erschrocken zurück. Der Fischer saß jetzt, wie jeden Abend, bei seinem Vater am Tresen. Er sperrte den riesigen, halbblinden Rottweiler namens Ruby während dieser Zeit in den Garten. Die Kinder wechselten normalerweise die Straßenseite und gingen nur langsam vorbei, um das bissige Tier nicht weiter zu reizen. Chris hoffte, dass der Hund jetzt nicht über den Zaun sprang und ihm hinterherlief.
Dann erreichte er das Haus des Bürgermeisters. Genauer gesagt, den ausladenden Vorgarten des Anwesens. Zwischen Rhododendronbüschen schlängelte sich ein steinerner Pfad den grasbewachsenen Hang hinauf zum doppelgeschossigen Fachwerkhaus. Ben kämpfte mittendrin schwitzend mit einem alten Handrasenmäher.
«Ben, Ben!», stürzte Chris auf ihn zu.
Der Ältere schaute auf. Sein angestrengtes Gesicht entspannte sich zu einem Lächeln. Ein Schweißtropfen rann ihm über die Augenbraue bis in die Wimpern. Er blinzelte ihn weg. «Oh Mann, du kommst gerade genau zum richtigen Zeitpunkt. Ich könnte wirklich etwas Hilfe gebrauchen.»
Chris fand, dies klang nach der idealen Gelegenheit, seinen Bruder milde und einer Konsole aufgeschlossener zu stimmen. Er nickte eilfertig. «Klar gerne. Was soll ich machen?»
Ben betrachtete ihr skeptisch von oben herab, verzichtete jedoch auf weitere Fragen und wies auf eine Harke.
Zwanzig Minuten später lag die Hälfte des gekürzten Rasens ordentlich geharkt auf einem Haufen, da hielt ihn Ben am Arm.
«Pause!»
Der große Junge zog sein Shirt aus, um sich damit den Schweiß aus dem Gesicht zu wischen. Chris ließ sein Arbeitsgerät sinken. Bewundernd und ein wenig neidisch betrachtete er Bens kräftige Arme, die breiten Schultern und den muskulösen Bauch. Er würde niemals so gut aussehen. Ben war bereits so groß wie ein Erwachsener, größer als einige der alten Fischer im Ort. Er seufzte. Das Leben war nicht fair.
Dankbar griff Chris nach der angebotenen Wasserflasche, nahm einen gierigen Schluck und spukte das warme Wasser angewidert aus. Ben lachte nur und goss sich einen Schwall über den Kopf.
«Wenn du es zu etwas bringen willst», meinte er, «dann darfst du im Leben nicht zimperlich sein. Bürgermeister Thomas ist wahrscheinlich der geizigste Mensch in dieser Gegend. Aber immerhin stellt er mir jedes mal eine Flasche Wasser bereit, wenn ich mich um seinen Vorgarten kümmere.» Er hüstelte. «Vermutlich könnte er mir von dem Geld, das er spart, weil er keinen professionellen Gärtner beschäftigt, hier einen ganzen Kühlschrank randvoll mit Limo hinstellen.»
«Aber du machst es trotzdem», sagte Chris.
«Klar, ich spare auf das Rennrad. Über die Hälfte habe ich schon zusammen. Wie gesagt, man darf halt nicht zimperlich sein.»
«Äh, was das angeht», Chris druckste herum, «Ma hat mich zu dir geschickt.»
Ben trank einen Schluck vom widerlich warmen Wasser, dann sah er seinen Bruder abwartend an.
Chris schluckte. Warum war das so schwer? Er hatte sich doch auf dem Weg einige Argumente bereitgelegt. Nun war sein Kopf jedoch leer, nicht ein einziges seiner tollen Worte wollte ihm mehr einfallen.
«Ich äh ... nun also ... was ich sagen will ...», stammelte er.
«Das muss ja wirklich etwas großes und wichtiges sein, wenn es so lange braucht, um aus dir herauszukommen», unterbrach Ben ihn freundlich.
Chris wurde rot. Dann nahm er sich ein Herz. «Da hat eben jemand für dich angerufen.» Er machte eine kurze, dramatische Pause. «Du hast beim Preisausschreiben gewonnen.»
Chris senkte den Blick, sah auf seine verkrampften Hände hinab, die miteinander zu ringen schienen. Es war raus. Er hatte es gesagt. Ab jetzt konnte er nur noch bergab gehen. Lediglich stand nun noch die Frage im Raum, wo die rasante Talfahrt enden würde. Auf der einen Seite wartete ein nagelneues, blitzendes Rennrad für seinen Bruder neben der Zielgeraden; auf der anderen Seite - dem schwereren und kurvenreichen Weg folgend - eine Konsole, von der sie letztlich alle etwas hatten. Nun war Fingerspitzengefühl gefragt.
«Aha?», machte Ben.
Verdammt, wie sollte Chris jetzt bloß weitermachen?
«Ich hoffe, ich habe keinen Kühlschrank gewonnen», spottete der große Junge, «Oder einen Gutschein für Damenunterwäsche.»
Er lachte über seine Worte. Chris jedoch war überhaupt nicht zum Lachen zumute. Niemals zuvor war es ihm so schwergefallen, seinen großen Bruder um etwas zu bitten.
«Ich wollte dich fragen...»
Nein, absolut nein. Total falsche Herangehensweise.
Zweiter Versuch. Klar und direkt, kein albernes Rumdrucksen.
Er gab sich einen Ruck: «Du kannst dir etwas aussuchen, haben sie gesagt.»
Ja, das was besser. So würde es klappen. «Und ich wollte dich fragen ob du vielleicht...»
Und da war er wieder, der kleine, schüchterne und verklemmte Junge. Zweite Klasse, vor allen Schülern stehend und einen Vortrag haltend. Nur dass er kein Wort hervorbrachte und ihn alle auslachten. Er konnte nichts dagegen tun.
Nun gut, es war diesmal nur sein Bruder. Das musste doch irgendwie zu schaffen sein.
«Die Konsole», begann Chris.
Ben unterbrach ihn barsch: «Nein!»
Sonst nichts, nur dieses eine Wort, und für Chris brach eine Welt zusammen.