- Ein Engel an der Kellertür -
Keuchend stolperte Chris durch die Hintertür in die Küche. Seine Mutter hob eine Augenbraue und blickte auf seine Schuhe. Seine verdreckten Turnschuhe. Wortlos streifte er sie von den Füßen, stieg in seine Filzpantoffeln. Wenn es etwas gab, das seiner Mutter die Laune verdarb, dann waren es dreckige Schuhe in ihrer Küche. Mit einem zufriedenen Kopfnicken wies sie auf den Durchgang zum Schankraum: «Dein Vater braucht Hilfe bei den Fässern. Schau mal nach ihm, Schatz.»
Chris stöhnte auf. Wenn es hier eine Arbeit gab, die er von Herzen verabscheute, dann das Anschließen neuer Fässer an die Zapfanlage, im hintersten Winkel des Kellers. Und genau so kam es dann auch.
Das aus Bruchstein errichtete Gasthof war neben dem Leuchtturm das älteste Gebäude im Ort. Zwar hatten sein Vater und sein Bruder die Fassade vergangenes Jahr erneuert, doch der Keller war noch immer das gleiche Natursteingewölbe, wie bei Bau vor über 150 Jahren. An der niedrigen, feuchten Decke dort brannte jede Lampe in kürzester Zeit durch. Irgendwann hatten sie es aufgegeben, immer neue Leuchtmittel in die rostige Fassung zu drehen. Batterien waren letztendlich billiger.
So nahm Chris die Taschenlampe vom Haken, bevor er die schwere Kellertür aufzog. Das alte Holz ächzte und knarrte protestierend. Gerade so, als ob es ebenso wie der Junge dachte und die Dunkelheit lieber im Keller ruhen lassen wollte. Die rostigen Türangeln antworteten dem Holz mit schrillen Schreien.
Schon auf der Steintreppe musste Chris nach der dritten Stufe den Kopf einziehen. Er schwenkte den Strahl der Taschenlampe durch die Schwärze unter sich. Er hoffte, damit das lauernde Böse wie mit einem Laserstrahl zu zerschneiden. Fast glaubte er zu spüren, wie sich unaussprechliche Dinge ein wenig tiefer in die Schatten zurückzogen. Chris zwang die aufkeimende Angst nieder und schritt weiter Stufe für Stufe langsam hinab in die muffige Kühle.
Auch unten konnte er nur gebückt weitergehen, so niedrig hing die Decke über ihm. Krachend schloss sich die Tür. Er fuhr zusammen. Das tatsie irgendwann immer. Auch wenn er versuchte, sie zu verkeilen. Es schien, sie wolle den schönen Sommertag oben nicht weiter mit der lauernden Finsternis hier unten behelligen. Chris stützte sich schwer atmend an eine Wand und zuckte sofort wieder zurück. Die Kalkablagerungen an den feuchten Kellerwänden wirkten für ihn immer wie eingemauerte Überreste lang Verstorbener, die nun langsam zurück in die Freiheit quollen.
Chris schüttelte sich. Seine Angst noch zusätzlich mit solchen morbiden Gedanken zu füttern würde sie nicht schwinden lassen. Im Gegenteil, er durfte nicht daran denken, musste die hungrigen Spinnen in den Ecken ignorieren und ihren wehenden Netzen ausweichen. Sonst krabbelten sie womöglich ...
Schluss damit! Und die tanzenden Schatten der Kisten und Stühle, der Stehlampe und all den anderen Dinge waren genau das, nur harmlose Schatten. Das gluckernde Geräusch hinten in der Ecke? Bestimmt Wasser, das aus der Spüle über ihm durch ein Rohr in die Kanalisation floss.
Tapfer kämpfte Chris die Ängste nieder. Dort hinten lagerten die dämlichen Bierfässer. Er senkte den Kopf noch weiter und trat geduckt durch den letzten Durchgang.
Als er noch klein war, wurden die Fässer noch oben reingerollt und dort die Zapfhähnen hineingeschlagen. Doch ausgerechnet hier musste sein Vater ausnahmsweise dem Fortschritt folgen. Nun musste lediglich jemand - am besten ein Kind, wegen der geringeren Größe - in den schrecklichen Keller steigen, um dort die Anschlüsse der Zapfanlage zu wechseln.
Chris fluchte, als etwas knackend unter seinem Pantoffel zerbarst. Es hatte sich ein wenig wie eine Weintraube oder eine Kirsche angefühlt - oder vielleicht ein fetter, schwarzer Käfer? Wie diese Tiere aus Ägypten, die Fleisch fraßen? Finn wüsste bestimmt, wie sie hießen.
Die grässlichen Details konnte Chris sich immer sehr gut merken, aber der angenehm klingende Name wollte ihm gerade einfach nicht einfallen. Egal, so lange sie ihn in Ruhe ließen.
Die Taschenlampe zwischen die Zähnen geklemmt, prüfte er die Fässer auf ihren Inhalt und wechselte die leeren Behälter mit fliegenden Händen aus. Immerhin dies gelang ihm - dank jahrelanger Übung - erfreulich schnell.
Gerade drehte er sich um und wollte zum Ausgang eilen, da raschelte es im Dunkel neben seinem Kopf.
Vor Schreck glitt im die Lampe aus den Fingern. Chris erstarrte. Lähmende Angst durchflutete seinen Körper, ließ seinen Magen krampfend zu Stein werden und die Haare zu Berge stehen.
Was war da?
Der einzige Gedanke, der noch Platz in seinem Kopf fand. Nur am Rande registrierte er, dass die Taschenlampe den Sturz unbeschadet überstanden zu haben schien. Ihr Strahl fiel auf einen staubigen, halb verhüllten Spiegel, wurde von diesem zur Kellerdecke reflektiert. Chris drehte sich langsam zum Geräusch. Neben ihm hockte eine riesige, graue Ratte. Das Tier kauerte auf einem der alten Tische, die sein Vater hier zu Dutzenden lagerte. Die Ratte hielt den Blick aus den winzigen, schwarzen Knopfaugen unverwandt auf den Jungen gerichtet. So nah war das Tier, dass er es mit ausgestrecktem Arm hätte berühren können. Und die Ratte schien keinerlei Angst zu verspüren. Ganz im Gegenteil. Ihr forschender Blick bohrte sich in ihn. Er grub und kratzte in seinem Kopf, drang bis in seine Eingeweide und seine Seele.
Oben im Gasthof klingelte das Telefon.
Chris stand erstarrt. Er konnte den Blick nicht von dem Tier abwenden. Er fühlte keine Angst mehr, trieb nur in einer kühlen Schwerelosigkeit.
Dann fand die Ratte, wonach sie in ihm gesucht hatte. Sie zog und zerrte. Und Chris schien es, als ob sie ihm seine Kraft und den Mut, die Hoffnung und seinen Lebenswille aus dem Körper sog. Gleichzeitig füllte sie die Leere mit etwas neuem, dunklen. So wie sie ihm alles Gute, alles Schöne entzog, gab sie ihm im Austausch dafür Finsternis und trübsinnige Leere zurück. Ihm wurden bleischwer ums Herz.
Fern über ihm, in einem anderen Leben klingelte das Telefon erneut.
Am liebsten wäre Chris nun zu Boden gesunken, hätte sich zusammengerollt und sein unvermeidliches Ende erwartet. Doch die gnadenlosen Augen des Tieres hielten ihn weiter gebannt. Er konnte keinen Finger rühren. Der Hunger des kleinen Tieres schien unersättlich.
«Chiiiiiiiihis?», erscholl fern über ihm ein Ruf.
Chris konnte nicht mehr atmen. Langsam wurde ihm schwarz vor Augen.
Die Kellertür wurde knarrend geöffnet. Ein breiter Lichtstrahl schnitt durch den Keller. Unter enttäuschtem Quicken verschwand die Ratte in eine dunkle Ecke.
Chris sog tief die muffige Kellerluft ein. Er war wieder frei, konnte sich wieder bewegen. Der unsichtbaren Fesseln beraubt fiel er auf die Knie, musste sich mit den Händen auf dem Boden abstützen.
Im Türrahmen oben erschien der Schattenriss eines wunderschönen Engels. Chris Herz setzte einen Schlag aus, raste dann doppelt so schnell weiter. Nellys zögerliche Stimme erklang: «Chris, alles klar?»
Er konnte nicht antworten. Alles drehte sich in seinem Kopf.
Was war da eben geschehen? Was hatte dieses Tier mit ihm getan? Oder war es nur eine dieser Panikattacken gewesen? Eher nicht, denn diese fühlten sich anders an.
Mit einem Mal spürte er eine Hand an seiner Schulter. Angenehme Wärme ging von ihr aus, strahlte von der Schulter in seinen Arm und in die Brust. Er genoss die Berührung. Doch Nelly wich mit einem erschreckten Keuchen wieder zurück. «Kalt!»
Sie hatte die Taschenlampe ergriffen und kniete neben ihm.
«Alles okay bei dir?», wollte sie besorgt wissen und leuchtete ihn bei den Worten an. «Du bist weiß wie ein Gespenst», sie schauderte, «und genauso kalt.»
Chris tat einen weiteren Atemzug. Dann sah er sie an. Mit kratziger Stimme flüsterte er: «Keine Ahnung.»
Der nächste Atemzug.
«Ich will hier weg.»
Mit Nellys Unterstützung schaffte er es, sich aufzurichten. Als sie die letzte Treppenstufe hinter sich ließen, fühlte Chris sich schon besser. Das Licht hier oben tat so unglaublich gut. Es erfüllte ihn mit neuem Mut und gab die verlorene Kraft zurück. Es wusch die Finsternis aus seiner Seele.