- Was man nicht aus Comics lernt -
«Was ist das?» Ruckartig hielt Chris an, als seine Taschenlampe auf ein glühendes Augenpaar unter einem Busch traf. Finn, mit dem schweren Rucksack beladen, prallte mit einem deutlichen «Uff» von hinten gegen ihn. Die beiden Jungen gerieten auf dem abwärts führenden Krummen Weg ins Straucheln. Glücklicherweise bildete Mick den Abschluss der Reihe und griff blitzartig zu. Er bekam Finns Rucksack am Tragegriff zu packen. Alle drei standen keuchend vor den Rhododendronbüschen, die den Vorgarten von Doktor Anderson säumten.
«Hey», maulte Finn, «das war sowas von unnötig.» Er funkelte Chris vorwurfsvoll an, zog ein Taschentuch hervor und hielt es sich an die blutende Nase.
Mick schwenkte derweil seine Lampe suchend umher, konnte jedoch nichts erkennen. Irgendwo neben ihnen raschelte es im Laub.
«Das sind nur nachtaktive Tiere, Mäuse, Ratten oder Igel», bemerkte Finn. «Und sie sind nachtaktiv, weil sie klein und ängstlich sind.»
«Also genau wie unser Chris», ergänzte Mick.
«Hinter ihrer Netzhaut liegt eine reflektierende Schicht, das Tapetum lucidum. Dieses wirft eintreffendes Licht dann ...»
«Ach komm», stöhnte Chris, «es reicht.»
«... ein zweites Mal auf die Netzhaut», beendete Finn seine hervorsprudelnde Erklärung.
«Können wir endlich weiter?» Chris klang nun leicht gereizt. Ihm hatte dieser Zwischenfall gezeigt, wie dünn seine Nerven wirklich waren. Hoffentlich hielt der Abend nicht noch mehr solcher Peinlichkeiten bereit. Immerhin war Nelly nicht dabei. Wenn sie auch miterlebt hätte, wie er vor einer Maus zurückgeschreckt war, dann wäre er wirklich vor Scham im Boden versunken. Er schritt zügig voran.
«Da unten ist das Geisterhaus», sagte Mick ein paar Meter weiter. Er ließ den Strahl seiner Taschenlampe quer über die Straße bis zur hölzernen Fassade des Geisterhauses gleiten. Im scharfen Licht der Lampe erkannte man deutlich die abblätternde, rissige Farbe. Chris dagegen betrachtete argwöhnisch die beiden steinernen Torpfosten und die überwachsenen Figuren darauf. Zögernd hielt er vor ihnen an.
«Das sind ja wirklich echte Gargoyles!», rief Mick begeistert.
«Ich hoffe, sie bleiben dort auch wirklich echt friedlich sitzen.» Chris dachte an seine erste Begegnung mit ihnen am Mittag zurück, als ihm die Fantasie durchgegangen war und ihn die Steinfiguren hatten erstarren lassen.
Finn reckte den Arm und klopfte prüfend gegen eine von ihnen. «Meiner Einschätzung nach reiner Granit. Also kein Grund zur Sorge.»
«Sehe ich auch so», sagte Mick. «Der Gargoyle ist nämlich eigentlich bei Marvel ein sowjetischer Wissenschaftler, der zusammen mit Hulk...»
«Oh nein», stöhnten Chris und Finn im Chor.
«Was ist denn jetzt schon wieder?», wollte Mick wissen. «Finn plappert doch auch dauernd so´n wissenschaftliches Zeugs, das kein Mensch versteht. Reflexirgendwas-Netzhautgedingse an Tapeten und der ganze andere Kram, so wie eben. Ich kenn mich halt mit Comics aus. Was ist falsch daran?»
Finn schnaubte abfällig. Als er seinen Mund für eine passende Antwort öffnete, fuhr Chris schnell dazwischen: «Ist ja gut, lasst uns nicht streiten.»
Insgeheim war er den Freunden sogar für diese kleine Auflockerung dankbar, denn seine Angst war jetzt verflogen. Er schritt entschlossen zwischen den Torpfosten hindurch auf den schmalen Weg aus zerbrochenen, schiefen Marmorplatten. Links und rechts ragten die Dornenranken hoch über ihren Köpfen auf. Sie bildeten eine schmale Gasse, die weiter bis zur Veranda und der Eingangstür führte. Waren die Ranken am Mittag auch schon so hoch gewesen? Chris konnte sich nicht daran erinnern. Es roch hier jetzt unangenehm nach den faulenden Beeren. Vor ihm auf den Steinplatten lagen sie gleich zu Dutzenden. Oder besser, was davon noch übrig war. Zermatscht und zertreten quoll der dunkle Saft über die Steine. Er wirkte im Licht der Taschenlampe wie dunkles Blut, das aus den steinernen Ritzen unter Chris Schuhen quoll. Schaudernd richtete der Junge seine Lampe wieder höher und ging schneller. Der Weg zur Veranda hatte am Mittag auch nicht so lang ausgesehen, wie er ihm nun erschien. Finn und Mick folgten ihm eilig. Eine plötzliche Windböe fegte über die Hecke. Sie ließ weitere, stinkende Beeren auf sie regnen. Heulend und pfeifend glitt der Wind durch die Bäume, um das alte Haus herum. Er ließ das morsche Gebälk knarren, die Dachziegel über ihnen klappern. Das Geisterhaus stöhnte und knurrte, wie ein alter Hund es manchmal im Schlaf tut. Die drei Jungen warteten mit angehaltenem Atem, bis sich die ächzenden Geräusche wieder legten. Das Herz schlug wild in Chris Brust, doch er schluckte die Angst tapfer hinunter und ging weiter.
Kurz vor der hölzernen Veranda endeten die Hecken. Zu ihrer Linken ragte ein wilder Haselbusch in die Höhe, er versperrte die weitere Sicht. Doch rechts führte ein schmaler Pfad dicht am Haus entlang, verlor sich dann allerdings in der Dunkelheit hinter Gras und Gestrüpp. Chris leuchtete in diese Richtung, konnte jedoch außer Schatten und Büschen nichts Ungewöhnliches erkennen. Er betrat die hölzerne Veranda und richtete seinen Strahl auf die schwere, große Eingangstür aus dunklem Holz. Das Licht brach sich in funkelnden Farben an Dutzenden kleinen Glasscheiben, bis der Strahl auf einem altertümlichen Türgriff zur Ruhe kam. Chris trat näher, griff zögernd danach und drehte ihn versuchsweise. Es krachte und knirschte in der Tür. Er rüttelte, jedoch vergeblich. Die Tür regte sich nicht. Natürlich war sie abgeschlossen.
«So ein Mist!»
Seine Freunde traten neugierig näher. Alle drei begutachteten das uralte Schloss.
Finn grinste: «Das ist doch bestimmt über 50 Jahre alt. Da hätte er die Tür auch direkt offen stehen lassen können.»
Er wuchtete seinen Rucksack vom Rücken und grub darin herum, bis er triumphierend eine Rolle Draht hochhielt.
«Damit sollte es ein Kinderspiel sein, diese alte Tür zu öffnen.» Er sah zu Mick: «So was lernt man nicht in deinen Comics, oder?»
Damit kniete er sich auf die knarrende Veranda.
Er sah seine Freunde scharf an: «Passt ihr beiden bloß auf, dass keiner kommt. Kinder werden zwar nicht für Einbruch bestraft, aber ich bekomme garantiert Stubenarrest und Leseverbot bis ich volljährig bin.»
Finn begann mit dem Draht im Schloss zu werkeln. Bis auf das leise Kratzen von dem Metall und ihren gedämpften Atemzügen war es mit einem Mal sehr still. Der Wind hatte sich wieder gelegt, es schien fast so, als lausche das Haus argwöhnisch dem Treiben der Kinder.
«Habt ihr das Schild hier gesehen?», flüsterte Mick nach einiger Zeit in die Stille. Seine Taschenlampe schwenkte zur Seite und beleuchtete den angelaufenen Messingtürklopfer. In feinen, geschwungenen Lettern war ein Name in das Metall graviert.
«FAMILLE DUBOIS», las Mick stockend vor.
«Das ist Nathaniels Nachnahme», erklärte Chris.
Niemand erwiderte etwas und die unangenehme Stille breitete sich erneut aus.
«Ich habs!», verkündete Finn nach einer gefühlten Ewigkeit erleichtert. Chris zuckte zusammen. Mit einem hörbaren «Klack» schnappte der Riegel im Schloss zurück. Finn richtete sich ächzend auf. Nach einer eleganten Verbeugung trat er einen Schritt zur Seite und wies auf die Tür. «War doch ein Kinderspiel.»
Mick ging an ihm vorbei. Energisch langte er nach dem Türgriff und drehte daran. Wieder krachte und knirschte es. Diesmal jedoch bewegte sich das schwere Holz, als der kräftige Junge seine Schulter dagegen stemmte.
«Helft mir mal, das klemmt irgendwo.»
Chris und Finn traten neben ihn und schoben ebenfalls. Doch mehr als einen Spalt ließ sich die Tür nicht öffnen. Mick warf sich mit Schwung dagegen. Irgendwie musste sie doch zu öffnen sein. Der Voodoomann war schließlich auch nicht stärker als die drei zusammen.
Sie hörten deutlich, wie innen eine Kette klirrend gegen das Holz schlug.
«Wartet mal.» Finn hielt Mick zurück, leuchtete dann durch den schmalen Spalt. Gequält stöhnte er auf.
«Was ist denn? Was siehst du?», wollte Chris wissen.
Finn wies auf die Tür: «Die ist zusätzlich von innen mit einer stabilen Kette gesichert. Hier kommen wir nicht rein.»
«Und jetzt?» Mick blickte seine Freunde keuchend an. «Gehen wir wieder nach Hause? War´s das schon?»
«Quatsch!» Finn schüttelte energisch den Kopf. «Diese Tür ist von innen verschlossen worden und Nathaniel ist nicht da. Irgendwie muss er aber raus gekommen sein. Also gibt es noch einen anderen Weg.»
Er leuchtete auf den schmalen Pfad, der an der Fassade entlang führte. «Vermutlich gibt es dort einen Hintereingang. Den hätten wir sowieso besser direkt suchen sollen.»
«Warum das?» Chris half seinem Freund, den riesigen Rucksack wieder auf den Rücken zu wuchten.
«Na, weil statistisch die Hintereingänge viel schlechter gesichert sind als die Vordertüren.»
«Und so was steht auch in deinen Zeitschriften?» Mick nahm die Sporttasche wieder auf und trat neben die anderen beiden.
«Klar, im Polizeimagazin», grinste Finn.
Chris schritt entschlossen von der Veranda herunter und betrat den Weg seitlich durchs Unterholz. Die anderen folgten ihm schweigend.
Dann würden sie eben die Hintertür suchen. Das sollte doch nicht so schwer sein. Irgendwie musste der Voodoomann ja auch wieder in sein Haus hinein gelangen.