- Als Chris Hoffnung erneut entflammt -
Chris schüttelte abwehrend den Kopf, als Nelly sich erneut nach seinem Befinden erkundigte.
«Ich schätze, es geht schon wieder.» Er wurde sich ihrer stützenden Hand bewusst und trat verlegen beiseite. «Vermutlich nur ein kleiner Schwächeanfall.» Mit einem schiefen Grinsen fügte er hinzu: «Ich sollte mir wohl etwas zu essen suchen.»
«Das trifft sich gut», Nelly deutete in Richtung der Küche, «Deine Mutter bat mich, nach dir zu sehen. Sie will dich mit einer Wurst bestechen, um deinen Bruder zu holen.»
Chris verdrehte die Augen. So schnell wurde er vom Handlanger des Vaters zum Laufburschen der Mutter. Auch ein Grund, warum er nach Möglichkeit jede freie Minute draußen in Freiheit verbrachte.
«Also wenn du nicht willst, ich mache das gerne.» Ihre Augen leuchteten bei dem Gedanken.
«Und ich soll dafür vermutlich meinem Vater hinter der Theke helfen?», brummte Chris.
Nelly nickte hoffnungsvoll. Doch das Leuchten erlosch wieder, als Chris verneinte.
«Danke, ich verzichte. Da nehme ich lieber die Wurst und etwas frische Luft.»
Er wandte sich Richtung Küche. Nelly sah ihm enttäuscht nach.
«Wo warst du denn?», begrüßte ihn seine Mutter fröhlich und strubbelte ihm die Haare.
Er murmelte nur ein einsilbiges «Keller» zur Antwort.
«So lange?» Doch sie wartete keine Antwort ab, sprach aufgeregt weiter: «Stell dir vor, da war eben ein Anruf. Dein Bruder Ben hat beim Preisausschreiben gewonnen!» Sie sah ihren Jüngsten erwartungsvoll an.
«Toll», murmelte dieser nur, und ballte eine Faust in der Tasche.
«Na ein bisschen könntest du dich schon für ihn freuen», sie stupst Chris an. «Missgunst ist eine Todsünde.»
«Ach komm schon, nicht wieder diese ...», begann er, bevor sein Blick auf die riesige Räucherwurst fiel, die seine Mutter grinsend aus ihrer Schürze zog. Seine Augen wurden groß.
«Und Völlerei auch», neckte ihn seine Mutter weiter. «Aber dafür läufst du jetzt zu Ben und erzählst ihm von dem Anruf.»
Doch Chris hatte nur Augen für die Wurst. Sein Magen schmerzte. Es kam ihm vor, als ob er seit Tagen nichts mehr gegessen hätte. Sein Mund füllte sich mit Speichel. Er war kurz davor, ihr das Essen einfach aus der Hand zu reißen und sich in den Mund zu stopfen. Wurst. Essen!
«Er soll zurückrufen», durchbrach seine Mutter die kreisenden Gedanken.
«Äh, was?» Chris schluckte schwer und bemühte sich, seiner Mutter ins Gesicht zu blicken.
«Die freundliche Frau am Telefon hat gesagt, Ben solle sie zurückrufen. Er kann sogar zwischen mehreren Preisen auswählen.» Sie strich Chris wieder über das Haar. «Du wirkst durcheinander. Ist euch draußen etwas passiert?» Ihr Ton wurde tadelnd: «Ich hab euch doch gesagt, ihr sollt euch von diesem Nathaniel fern halten.»
«Nein Ma, alles ist gut,» wiegelte er ab und blickte sie neugierig an. In ihm keimte eine schwache Hoffnung. Womöglich war die Spielkonsole ja doch noch nicht verloren.
«Hat die Frau am Telefon auch gesagt, was für Preise das sind?»
«Lass mich überlegen», begann sie umständlich, «also sie sprach von zwei Einkaufsgutscheinen und einem Fernseher.»
Bei diesen Worten steckte die Wurst wieder in ihre Schürze, wie Chris mit Entsetzen bemerkte. Dann rieb sie die Hände gedankenverloren an dem Stück Stoff und zog die Stirn kraus.
Chris Hoffnung begann wieder zu schwinden.
«Und ein Fahrrad war auch dabei», erhellte sich ihre Miene. «Ein Fahrrad und noch eine von diesen Spielekondosen.»
«Konsolen!», korrigierte Chris sie aufgeregt.
Also war doch noch nicht alles verloren. Jetzt musste er Ben nur klarmachen, dass sie diese Konsole viel dringender benötigten, als dieses blöde Fahrrad. Er würde sich auf dem Weg zu ihm etwas überlegen. Ein Argument, gegen das sein Bruder nicht ankam.
Schließlich war Ben fast 16, er durfte in zwei Jahren bereits Autofahren. Und mit der Konsole konnten sie im Endeffekt alle spielen. Damit wäre Ben wahrscheinlich noch etwas beliebter im Ort, wenn das überhaupt noch möglich war. Ja, so würde er es anfangen.
Aufgeregt kickte er die Schlappen in die Ecke.
«Hey!», wollte seine Mutter losschimpfen.
«Ich sag´s ihm», unterbrach Chris sie. Er hatte die Turnschuhe bereits wieder angezogen und riss die Hintertür auf. Die Wurst hatte er vergessen.