-Der Affe und die Bücher-
Chris zog noch eine schwungvolle Linie unter seinem Namen, dann gab er den Stift an Mick weiter. «Jetzt du!»
Der rothaarige Junge grinste schelmisch und schwang den Stift wie ein Schwert durch die Luft.
«Aber mal mir da keine Comicfigur drauf», ermahnte ihn Finn. «Mit solchem Blödsinn am Bein möchte ich nicht rumlaufen müssen.»
«Als ob ich Comics zeichnen könnte», antwortete Mick in gespielten Ernst. Er kniete sich neben der Steinbank nieder, auf der Finn sein Gipsbein abgelegt hatte.
«Wo ist eigentlich dein Bruder in der letzten Nacht gewesen?», Finn schob die Brille hoch und sah Chris fragend an. «Nicht, das er eine große Hilfe gewesen wäre, aber wo war er? Am Haus jedenfalls nicht, wie er versprochen hatte.»
«Die gleiche Frage habe ich ihm heute morgen auch gestellt, als er bei Sonnenaufgang heimlich in unser Zimmer geschlichen kam.»
«Und? Was hat er gesagt?»
Chris blickte seinen Freund frustriert an. «Er hat mich verschwörerisch angezwinkert und gemeint, er würde mich nicht verraten, wenn ich ihn nicht verrate.»
«So ein Blödmann!», empörte sich Mick.
«Genau!», brummte Chris. «Die Konsole kann ich jedenfalls vergessen. Aber das war mir in der Nacht schon klar. Eigentlich wollte ich Ben ja von unserem Abenteuer und den Krähen und Nathaniel erzählen, aber bei seinem Grinsen ist mir die Lust vergangenen.» Er zögerte kurz, dann schob er leise hinterher: «Ich bin mir ziemlich sicher, er war mit Nelly unterwegs.»
Finn und Mick grinsten. Chris jedoch fühlte bei dieser Erklärung ein Stechen in der Brust. Nicht nur, dass Ben ihn völlig vergessen zu haben schien, er war stattdessen mit Nelly zusammen gewesen. Chris war sich nicht sicher, was ihn von beidem mehr zusetzte.
Die Turmuhr im Ort begann zu schlagen. Um sich abzulenken, zählte Chris in Gedanken die Schläge mit. Beim vierten Schlag begann Finn plötzlich zu schimpfen. Chris sah auf und musste unwillkürlich lachen. Quer über Finns Gipsbein stand in fetten, schwarzen Lettern: «Capt. Trubek saved the World!» Eingerahmt wurde dies noch von einer stümperhaft gezeichneten Taschenlampe mit Pistolengriff.
«Mann, damit kann ich doch nicht mehr vor die Tür. Das ist sowas von peinlich.» Schmollend sah er Mick an.
Mick jedoch grinste zufrieden. Fauchend riss Finn ihm den Stift aus der Hand. «Das werde ich dir nie vergessen, Blödmann!»
Mick grinste noch immer. «Glück gehabt, Brillo. Ich schlage keine Gipsträger.»
Chris und Finn blickten ihn streng an.
«War nur Spaß», wiegelte Mick ab und wurde rot.
Als die Turmuhr zum zwölften Mal schlug, stand Chris auf. «So langsam sollte es spät genug sein.» Er deutete auf den Leuchtturm. «Ich will endlich wissen, was es wirklich mit all den Andeutungen von letzter Nacht auf sich hat und warum wir unseren Eltern nichts sagen dürfen.»
Mick half Finn auf die Beine und reichte ihm die Krücken. Langsam bewegten sie sich die alte Küstenstraße entlang zum Leuchtturm.
Hoch über den dreien öffnete sich ein rundes Fenster. Ein Schwall braunes Putzwasser schwappte in hohem Bogen über die Köpfe der Jungen. Der Wind trieb die zerstiebende Brühe davon. Sie sahen das erschrockener Gesicht von Samuel herabblicken.
«Oh, verdammt! Ist es schon so spät?» Das Fenster schlug wieder zu.
Im Inneren erklang das «Tong-Tong» von Schritten auf der Treppe, bis Samuel ihnen verlegen die stählerne Tür zum Leuchtturm öffnete.
«Hallo ihr Lieben. ´Hab wohl irgendwie beim putzen die Zeit vergessen. Ihr müsst wissen, hier kommen sonst selten Gäste vorbei. Jedenfalls, schön das ihr da seid.» Er machte eine einladende Geste.
Schweigend betraten die Jungen den Turm. Hinter der Tür erwartete sie ein dunkler, schmuddliger Raum. Zwischen alten Truhen, Kisten und morschen Schränken lehnte Samuels rostiges Fahrrad an der Treppe nach oben. Die stählernen Wände waren von innen so sehr mit Salz-, Kalk-, und Rostspuren überzogen, dass sie fast wie uralte Höhlenwände wirkten. Dreckige Grabwerkzeuge lagen zwischen alten, stinkenden Fischreusen und leeren Säcken.
«Oben sieht es besser aus», entschuldige sich Samuel, als er die umherschweifenden Blicke bemerkte. «Ich hoffe, niemand von euch leidet unter Höhenangst.» Er stieg klappernd die Stufen hinauf.
«Das ist ja noch schlimmer als die Treppen daheim», stöhnte Finn, als er sich mit einer Hand am Geländer und der anderen an Micks Schulter die steile Treppe hinaufzog.
Das Geräusch ihrer Füße auf den Gittertreppen ließ Chris noch einmal an die Flucht aus dem Einkaufszentrum denken. Dort waren Ben und er ebenfalls über solche Stufen hinabgestiegen. War das wirklich erst drei Tage her? Irgendwie hatte damit alles begonnen. Anfangs das Beben, dann die unheimliche Begegnung mit dem Voodoomann und seinem nervigen Affen auf dem Parkplatz. Seltsam, es kam ihn alles viel weiter entfernt vor.
Über ihnen erklang schrilles Kreischen.
Chris stockte und legte den Kopf in den Nacken. Der Affe? War das etwa ein Affe?
«Ist ja gut, wir kommen ja schon», antwortete die ruhige Stimme von Samuel. Er drehte sich zu den Jungen um: «Ich glaube, da oben vermisst euch jemand.»
Die steilen Treppenstufen wurden von einer kleinen Plattform unterbrochen. Auf dem Gitter sprang dort ein gerupfter Herr Fröhlich keckernd Auf und Ab. Beim Anblick der Kinder zog er die Oberlippe hoch und zeigte fauchend die Zähne.
«Na, na», tadelte ihn Samuel. Er zog einen Hundekeks aus der Tasche. «Das sind doch unsere Gäste. Sei gefälligst etwas netter! Und ich vermute, wir werden sie in Zukunft noch öfter hier sehen. Also gewöhne dich schon mal daran.»
Er reichte den Hundekeks an Finn weiter.
Zögerlich hielt ihn dieser dem Affen hin. Mit einer schnellen Bewegung griff der Affe zu und verschwand kreischend durch eine angelehnte Tür.
Samuel sah ihm nach: «Er kam letzte Nacht zu mir, klammerte sich zitternd an mein Bein, der Arme. Keine Ahnung, wie er den Diener entkommen ist.»
Da war sie wieder, die Andeutung auf diese seltsamen Diener.
Finn sah Samuel fragend an, doch er winkte ab. «Kommt rein. Dann können wir entspannt reden.»
Aus dem Türspalt lugte ein Affenkopf, sah sie ungeduldig an und verschwand wieder.
«Mir scheint, auch er möchte, dass ihr hereinkommt. Ich glaube fast, ihr könntet noch gute Freunde werden.» Der alte Leuchtturmwärter folgte Herrn Fröhlich und winkte ihnen, ebenfalls zu kommen.
Zögernd betraten die Jungen den Raum und bleiben staunend stehen. Durch mehrere runde Fenster fiel warmes Sonnenlicht auf riesige Bücherregale, die fast die kompletten Wände des runden Raumes bedeckten. Bunte Orientteppiche verbargen den Boden und in einer Ecke erkannten die Jungen eine Kochnische. Rechts von ihnen war ein kleiner Schreibtisch zwischen zwei Regale gequetscht worden. Davor befand sich eine ziemlich gemütlich wirkende Ledercouch, ein Tischchen, daneben ein hochlehniger Lesesessel mit einer Fußbank. An der gegenüberliegenden Wand tickte eine alte Standuhr vor sich hin.
«Woooow!», entfuhr es Finn beim Anblick der deckenhohen, gefüllten Regale.
Auch Chris war von dieser Bibliothek beeindruckt. Tausende uralte Lederbände standen zwischen zerfallenden Kladden, Schriftrollen und Stapeln von Notizzetteln auf den Regalbrettern. Vermutlich handgezeichnete, verblichene Landkarten von Küstenlinien hingen an den Wänden.
«Wooohooow!!», machte Finn ein zweites Mal. Er ignorierte Samuel einladende Geste in Richtung Couch und humpelte eilig zu einem Regal.
«Was ist das alles?», wollte Finn von Samuel wissen, ohne den Blick von den Büchern abzuwenden.
Der alte Mann sah ihn abwägend an, bevor er langsam antwortete: «Das sind die von mir gehüteten, uralte und geheime Aufzeichnungen des Ordens.»
«Das alles? So viel?» Finns Stimme überschlug sich fast.
«Ja, das alles. Und ich befürchte, vieles davon ist nicht mehr in guten Zustand. Ich bin alt und habe doch viel zu tun. Ich könnte hier ein wenig Hilfe gebrauchen.» Er sah noch immer zu Finn: «Wie wäre es? Die meiste Arbeit hier kann man sitzend erledigen.»
Finn wandte sich langsam zu dem alten Mann um und starrte ihn sprachlos an. Dann drehte er sich im Kreis und rieb sich dabei hektisch über die Nase.
Chris sprang für ihn ein: «Ich denke, Finn haben Sie gerade überzeugt. Wir anderen hätten trotzdem jetzt gerne einige Antworten. Was ist mit den Krähen? Waren das gestern echte Zombies? Was soll das Gerede von irgendwelchen Dienern? Und warum behaupten sie, Nathaniel wäre Jahrhunderte alt gewesen? Und von welchem Orden reden sie da?»
Samuel wies erneut auf die Couch. «Setzt euch doch. Wollt ihr einen Tee? Ich brauche jetzt einen starken Tee.»
Damit verschwand er in der kleinen Küche und begann zu hantieren. Mick zog den staunenden Finn zur Couch.
Kurze Zeit später kam Samuel mit einem Tablet zurück. Jeder der Jungen bekam eine Tasse gereicht. Er warf dem herumspringenden Affen noch einen Keks zu, bevor er sich selbst in den Sessel fallen ließ. Er blickte sie lange an, bis die Jungen sich unbehaglich zu fühlen begannen. Vorsichtig nippte Samuel an seinem Tee, räusperte sich dann und fing langsam an zu erzählen.