- Die Krähe und die Ratte, die Riesenspinne und ein Wollpullover -
Das Laserschwert im Anschlag stand Mick auf den rauchenden Überresten des Wolkenkratzers. Ringsum ragten verbogene Stahlstreben und rissige Betonplatten in den blutroten Himmel. Grünes Spinnenblut tropfte von seiner ehemals glänzenden, nun stumpfen Panzerrüstung. Die Kadaver der besiegten Monster stapelten sich zu Tausenden um ihn herum. Vor ihm stand die letzte des Abschaums, die Schwarmkönigin der arachniden Invasoren. Riesig wie ein Schulbus ragte das Ungeheuer drohend vor ihm auf. Mick ließ seinen Schlachtruf erklingen, als der Boden unter ihm zu beben begann. Nach sicherem Stand suchend blickte er dem riesigen Geschöpf furchtlos in seine acht kopfgroßen Augen. Zwischen den schleimtriefenden Kauwerkzeugen schob sich eine kleine pinke Zunge hervor: «Anständige Jungen liegen nicht den halben Morgen im Bett!»
Mick schrak hoch. Vor dem Bett stand seine Oma und schlug mit ihrem Gehstock immer wieder gegen den Bettpfosten.
«Bist du jetzt endlich wach?», verlangte sie barsch zu wissen.
Er beeilte sich, zu nicken. Dann schob er seine Taschenlampe verstohlen unter das Kopfkissen.
«Das ist gut, denn du musst Frau Jakobs gleich ihren Pullover bringen.»
«Wa-Was?» Mick riss entsetzt die Augen auf.
«Und zwar möglichst sofort! Sie wartet bereits darauf. Eigentlich hätte er schon gestern fertig sein sollen. Also Hopp Hopp. Zieh dich an.» Damit wandte sie sich um und verließ das Zimmer. Er wartete, bis sie sich nebenan ächzend in ihren Sessel fallen ließ, dann stand er auf. Schnell versteckte er das Comicheft unter der Matratze.
«Dein Frühstück bekommst du, wenn du wieder zurück bist», erklärte sie ihm sachlich über das Klappern der Stricknadeln hinweg. Was sie wohl sagen würde, wenn sie wüsste, dass er die halbe Nacht mit der Taschenlampe und dem Comic unter der Bettdecke verbracht hatte? Er dachte besser nicht darüber nach. Und dann weckte sie ihn mitten im erträumten Finale. Es waren Ferien, verdammt. Das war doch die Zeit zum Faulenzen und Ausschlafen. Immerhin erschien heute Folge 204. Mick wartete bereits sehnsüchtig auf das Ende, bei dem Trubek die außerirdischen Riesenspinnen vom Mars besiegte. Aber au dem Schlaf gerissen zu werden war nicht fair.
Überhaupt, was wollten die Leute eigentlich im Sommer mit einem Strickpullover? War dies wirklich so dringend, dass er sogar ohne Frühstück losmusste? Er bezweifelte es. Aber seine Oma war unerbittlich. Widerworte duldete sie nicht.
Tatsächlich sollte es ihn jedoch freuen, so besserte er mit diesen Botengängen sein Taschengeld auf. Zusätzlich war heute Dienstag. Und dienstags kam immer eine neue Folge der Horror-Storys raus. Er würde auf dem Rückweg beim Krämerladen vorbeigehen. Genau, das würde er. Eine Belohnung musste sein. Sowohl fürs Wecken wie auch für die Rennerei in den Ferien. Dann würde er auch endlich erfahren, wie der Kampf gegen die Marsspinnen endete. Oh, wie er diese Comics liebte. Abends unter der Bettdecke waren sie sogar doppelt so gruselig.
«Und vergiss diesmal nicht, eine Quittung auszustellen», dröhnte die energische Stimme seiner Oma durch die kleine Wohnung.
«Jaahaaa.» Er verdrehte die Augen.
«Und roll jetzt nicht mit den Augen, junger Mann. Irgendwann bleiben sie dir...»
Er riss die Tür auf, flüchtete in den Hausflur und schloss sie krachend wieder hinter sich. Er konnte einfach nicht widerstehen. Wenn er mit seiner Heimkehr bis zum Abend wartete, hatte sie es vielleicht wieder vergessen und bestrafte ihn nicht dafür.
Die Morgensonne schien auf seine roten Haare, als er sich auf den Weg machte, die Tasche mit dem dämlichen Strickpullover schwungvoll in die Luft schleudernd. Er ließ sie einige wilde Loopings drehen und fing sie wieder auf. Jetzt bloß keine Eile. Schließlich waren Ferien.
Frau Jakobs schien dies ebenso zu sehen, als er an ihrem Häuschen ankam. Da niemand auf sein Klingeln reagierte, warf Mick ein Blick in den rückwärtigen Garten. Seine Vermutung erwies sich als richtig. Die Hausherrin lag entspannt in ihrer Hängematte im Schatten zweier Bäume, neben sich ein Tischchen stehend.
«Hallo?», versuchte Mick es zaghaft, «Ich habe hier Ihren bestellten Pullover.»
Doch die Frau zeigte keinerlei Reaktion. Zögernd trat Mick einen Schritt näher. Jetzt konnte er sie genauer erkennen. Die ältere Dame hatte die Augen geschlossen, ihre Hände entspannt auf dem Bauch verschränkt und sie schnarchte leise. Er wollte sich gerade laut räuspern und sie erneut ansprechen, als sein Blick auf das gedeckte Tischchen und das frische Croissant darauf fiel. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen. Bisher kein Frühstück, dachte er. Und hier lag es vor ihm, zartduftend, die Kruste bestimmt noch kross. Möglicherweise würde es niemandem auffallen, wenn es fehlte. Und wenn doch, dann könnte er noch immer sagen, ein Vogel hätte es gestohlen, vor seinen Augen. Eine fette Taube, genau! Er lobte sich für den Einfall. Er durfte sich nur nicht erwischen lassen, so einfach war das. Im Grunde war es ja so etwas wie ein zusätzliches Trinkgeld.
Mick umrundete vorsichtig den Baum und näherte sich dem Tischchen, als er in dessen Schatten eine Bewegung bemerkte. Verblüfft hielt er inne. Dort hockte eine fette, schwarze Ratte. Nicht einer dieser grauen Schemen , die er manchmal an den Mülltonnen sah und die raschelnd verschwanden, sobald er fest mit dem Fuß aufstampfte. Nein, dieses Tier war schwarz. Kohlrabenschwarz. Auch im restlichen Verhalten unterschied es sich von seinen sonstigen Artgenossen. Frei von Scheu, ja ohne auf ihn zu reagieren, hockte es dort frech zwischen Tisch und Baum. Und als wenn dies nicht schon seltsam genug gewesen wäre, saß einträchtig daneben eine Krähe, von der gleichen, lichtverschlingenden Farbe.
Dem Jungen lief bei dem Anblick der zwei Tiere ein Kälteschauer über den Rücken. Die Beiden schienen ihn jedoch nicht bemerkt zu haben. Sie waren anderweitig beschäftigt. Ja, es kam ihm so vor, als ob sie in ein leises Gespräch vertieft seien. Mick glaubte sogar, ein leises Flüstern zu vernehmen. Das war wirklich unheimlich. Gruseliger noch, als seine Comics unter der Bettdecke. Und beide Tiere starrten auf die schlafende Frau Jakobs.
Von ihr kam das Flüstern, erkannte der Junge jetzt. Die Frau hatte aufgehört zu schnarchen und bewegte die Lippen. Zwischen leisen, jammernden Lauten und qualvollem Stöhnen keuchte sie immer wieder kaum hörbar: «Nein, bitte nein».
Das Croissant hatte Mick inzwischen völlig vergessen. Ihm wurde bei dem erschreckenden Schauspiel ganz schwindelig. Als seine Knie zu versagen drohten, tat er einen Schritt zur Seite. Dabei musste er an das Tischchen gestoßen sein, denn es fiel klappernd ins Gras. Nun endlich bemerkte ihn auch die Tiere. Ihre Köpfe zuckten herum. Die strafenden Blicke aus zwei glänzend schwarzen Augenpaaren trafen den Jungen. Er fühlte sich an, als bohrten sich Lanzen aus Eis in seinen Kopf. Ein quälender Schmerz durchflutete ihn, brandete durch seinen Körper. Fesseln legten sich um seine Arme und und Beine, schnürten ihm die Luft ab. Jegliche Wärme wurde aus seinem Körper gezogen, Wärme und Lebenskraft. Dann, nach Sekundenbruchteilen, nach Äonen von Jahren war es vorbei. Unter zischenden, schnarrenden und fauchenden Lauten verschwanden die Tiere hinter einem Baum.
Ein Aufschrei ließ den Jungen zusammenfahren. Die Frau hatte sich aufgerichtet und blickte sich mit glasigen Augen um.
«Äh, was? Wer bist Du?», entfuhr es ihr, als sie Mick erblickte. Noch vom Erlebten gefangen war er nicht in der Lage, nur einen Laut hervorzubringen. Jetzt war er kein furchtloser Trubek mehr, nur ein verängstigter Junge. Er besaß auch kein Laserschwert, nur eine Stofftasche mit einem Wollpullover. Und selbst diese glitt ihm aus der Hand. Wortlos drehte er sich um und floh.