- Wer braucht schon Koch oder Pasteur? -
Der langsam verebbende Lärm der Vögel hinter ihnen klang in den Ohren der Jungen wie Hohngelächter. Doch die Tiere schienen ihr Ziel erreicht zu haben. Keiner der drei verspürte noch Lust, wieder zurück in den Garten zu gehen. Chris hatte seine Taschenlampe beim Ausweichmanöver auf der Veranda verloren. Die Lampe schien dabei ausgegangen oder zerbrochen zu sein, denn er konnte keinen Lichtschimmer im Türrahmen hinter sich erkennen.
Unsicher blickten sich die Jungen im Haus um. Sie befanden sich in einem dunkel getäfelten, schmalen Korridor, der am anderen Ende nach links abzweigte. Finn und Mick leuchteten umher. An den Seiten zweigten mehrere Türen und offene Durchgänge ab. An der Abzweigung vor ihnen stand ein zierliches, hölzernes Tischen mit einer hübschen, altmodisch wirkenden Vase darauf. Eine einzelne, vertrocknete Sonnenblume darin hatte ihren traurigen Blick gen Boden gesenkt. Davon abgesehen wirkte hier alles jedoch viel weniger verfallen, als Chris es sich insgeheim ausgemalt hatte. Das Holz der Wände war zwar alt und rissig, der geflieste Boden hätte einen Besen vertragen können, jedoch hingen keine Spinnweben in den Ecken, noch lag irgendwo Unrat. Alles wirkte alt, aber bewohnt, lediglich ein wenig vernachlässigt. Vermutlich hatte es zu den Glanzzeiten dieser Villa einen ganzen Stab von Bediensteten gegeben, der mit Staubwedeln und Tüchern, mit Besen und Lappen für Ordnung gesorgt hatte. Nun lebte hier allerdings nur noch ein einsamer und verrückter alter Mann mit seinem bissigen Haustier. Ob der Affe wirklich ein Zombie war, würden sie hoffentlich bald erfahren. Irgendwo im Haus müsste es dann ja seltsame Geräte wie bei Frankenstein geben. Oder vielleicht ein geheimes Labor voller Regale mit Pulvern und Tinkturen. Womöglich fanden sie dort auch einen Seziertisch - oder eingelegte Tiere in Gläsern. Chris wusste nicht genau, was er zu finden hoffte. Er war sich jedoch sicher, dass sie es schon erkennen würden.
«Und was machen wir jetzt?», fragte Mick, als sie alle wieder zu Atem gekommen waren und er sein Licht neugierig umherwandern ließ. Der Junge stieß einen anerkennenden Pfiff aus. Über ihnen hing ein prachtvoller Kronleuchter an der stuckverzierten Decke. Der Strahl der Taschenlampe brach sich in Hunderten von blitzenden Kristallen und warf unzählige, funkelnde Lichtpunkte in allen Farben des Regenbogens durch den Korridor. Es wirkte auf die Jungen, als sei eine Armee glitzernder Feen ihrem Gefängnis entflohen und suchte nun eilig den Ausgang. Mick schwenkte den Strahl weiter, das wilde Funkeln erlosch. Fragend blickte er seine Freunde an.
«Wie spät ist es?», überlegte Finn laut. Er beantwortete seine Frage selbst, seine Digitaluhr leuchtete auf. «23.29h, wir haben also noch eine halbe Stunde Zeit, bis Chris auf dem Dachboden sein muss.»
«Zeit genug, Monster zu jagen», sagte Mick entschlossen.
«Ich würde mich gerne zunächst im Keller umsehen», sagte Finn. «Denn wenn - ich betone - wenn es hier so etwas wie ein geheimes Labor gibt, was ich nebenbei für unwahrscheinlich halte, dann dürfte es wohl im Keller zu verorten sein.»
«Oder wir finden dort Särge mit Vampiren», sagte Mick. Er zog ein angespitztes Stück Holz aus seinem Rucksack. «Dann räumen wir hier auf, genau wie Van Helsing.»
Abwartend blickte er in die Runde, doch keiner reagierte darauf.
Chris nickte entschlossen. «Dann lasst uns den Keller suchen.»
Die Jungen schritten vorsichtig den Korridor entlang. Die erste Tür, zu der sie kamen, war allerdings verschlossen. Mick blickte vielsagend auf Finns Rucksack und das Türschloss, doch der schmächtige Junge schüttelte den Kopf: «Das dauert zu lange, lasst uns hier erst mal weiter umsehen. Warum sollte Nathaniel den Keller verschließen?»
«Na, weil er dort die Monster einsperrt», lautete Micks Erklärung.
Auch Chris fand die Idee nicht zu abwegig. «Vielleicht keine Monster, aber seine schrecklichen Voodoo-Geheimnisse.»
«Ich bin trotzdem dafür, dass wir uns zuerst überall umsehen. Wenn wir dann keinen Zugang zum Keller gefunden haben, knacke ich dieses Schloss.»
Er ging weiter und leuchtete in den nächsten Durchgang zu ihrer Rechten. Die doppelflügeligen Schiebetüren standen weit offen. Hinter ihnen lag ein riesiger Salon. Die Wände waren mit Dutzenden von Gemälden geschmückt. Auf einigen waren Jagdszenen abgebildet, auf anderen Landschaften, Menschen oder altertümliche Häuser. Die Tapeten in diesem Raum schienen aus feinen, golddurchwirkten Fäden zu bestehen, die in fantastischen Schnörkeln und absonderlichen Mustern über die Wand rankten. Finn rieb sich wieder gedankenverloren an der Nase, als seine Taschenlampe über Regale voller alter, staubiger Bücher glitt. Mit eiligen Schritten trat er vor.
Mick dagegen betrachtete den gemauerten Kamin an einer Wand, der mit seinen rußgeschwärzten Kacheln bewies, dass er oft genutzt wurde. Ein leichter Rauchgeruch bewies, dass dies auch nicht lange her sein konnte. Mehrere Sitzgelegenheiten, von Stühlen über Sesseln, Sitzkissen, einem Diwan und stoffbespannten Hockern bis hin zu zerbrechlich wirkenden Couchgebilden aus verschnörkeltem Holz und abgewetzten Stoffen standen überall im riesigen Raum verteilt. Dazwischen befanden sich hölzerne Tischchen, mit aufgeschlagenen Büchern und Kerzenhaltern beladen, von alten Wachskrusten bedeckt. Chris stolperte über den Kopf eines Löwenfells, als er seinen Freunden staunend in den Raum folgte.
«Das ist der Wahnsinn», quietschte Finn erregt von den Bücherregalen herüber. «Hier stehen Erstausgaben von wissenschaftlichen Werken der mindestens letzten 500 Jahre. Da hinten sehe ich Galvani, den Entdecker des Stroms. Und dort stehen Bücher von Cavendish und Scheele, direkt neben Robert Brown und Charles Darwin.» Finns Stimme überschlug sich fast vor Aufregung, als er weitersprach: «Robert Koch und Louis Pasteur, Vesalius und Pascal. Das ist sowas von krass. Es gibt hier Werke in Französisch, in Englisch und Deutsch. Einige sind in italienischer Sprache verfasst und das da hinten müssen Hebräisch und Sanskrit sein. Ich dreh noch durch!»
Finn fummelte jetzt ununterbrochen an seiner Brille und wippte wild auf den Zehen. «Habt ihr eigentlich eine Ahnung, was dies alles hier wert ist? Das sind größtenteils unschätzbare Erstausgaben der bedeutendsten Werke der modernen Menschheit. Sammler würden dafür vermutlich Millionen zahlen.»
«Alles nur Buchstaben auf Papier», murmelte Mick.
Doch Finn hörte gar nicht hin. «Ich weiß nicht wer Nataniel wirklich ist, aber wenn er all dies hier gelesen hat, dann muss er unglaublich gebildet sein.»
Er sah sich ehrfürchtig im Salon um: «Und auch reich.»
Chris dachte nüchterner und pragmatischer. Er war zwar ebenfalls über die Bibliothek überrascht, konnte Finns Begeisterung jedoch nicht teilen. Er fand dies alles eher erschreckend. Denn es bedeutete, dass Nathaniel nicht lediglich ein verrückter, alter Spinner war. Dieser altmodisch, aber luxuriös eingerichtete Raum deutete auf Seiten und Abgründe an dem Bewohner der Villa hin, die niemand hier auch nur erahnte.
Er musste Finn stoppen, bevor er sich in seinem wissenschaftlichen Höhenflug verlor: «Aber darüber, wie man Affen zu Zombies macht, steht nichts in diesen Büchern, oder?»
«Unmöglich wäre es nicht», antwortete dieser, «aber ich halte es für sehr unwahrscheinlich. Diese Werke sind überall auf der Welt bekannt. Wenn sich darin Wissen über Voodoorituale oder die Erweckung von Toten verbergen würde, dann wüssten auch andere davon.»
Chris nickte entschlossen: «Dann gehen wir jetzt weiter. Wir haben ein anderes Ziel. Lasst uns weiter nach dem Keller suchen.»
«Endlich ein vernünftiger Vorschlag.» Mick griff den sich sträubenden Finn am Trageriemen des Rucksacks. Gemeinsam betraten sie wieder den Korridor.