- Als Chris die Hexe trifft -
Ben sah bereits zum dritten Mal auf seine Uhr. Wo blieb Chris nur wieder? Er hatte ihm versprochen, pünktlich um 12 Uhr hier zu sein. Nein, eigentlich wollten sie sogar um 12 Uhr losfahren. Sein kleiner Bruder wusste das. Warum ließ er sie nun hier warten? Es ging schließlich nicht nur um ihn. Die Leute warteten auf ihr Essen. Und sie würden Chris bestimmt nicht wohlgesonnener sein, wenn er es ihnen verspätet und kalt brachte. Manchmal war der Junge so verantwortungslos.
Die Uhr am Kirchturm über ihnen schlug bereits die volle Stunde. Ben zählte genervt mit. Beim neunten Schlag kam Chris keuchend um die Ecke gerannt. Kies knirschte unter seinen Schuhen. Er wirbelte eine Staubwolke auf, die der Wind jedoch sogleich mit sich nahm.
«Na endlich!», begrüßte Ben ihn unwirsch.
Pfarrer Thomas blickte aus dem geöffneten Fenster des weißen Lieferwagens. «Hallo! Ich freue mich, dass Du uns heute helfen willst, Christoph. Mit so fleißiger Unterstützung sind wir an diesem wunderschönen Tag bestimmt noch etwas schneller. Am besten wird sein, ihr beiden springt gleich rein und wir fahren direkt los. Benjamin kann Dir unterwegs alles erklären. Die hungrigen Schäfchen warten auf uns!» Fröhlich hupend warf er den Motor an und lenkte der tuckernden Wagen zur Straße.
Zunächst fuhren sie ins Landesinnere. Sie durchquerten die Nachbarorte Malden und Turngar, bis sie die Kirche in St.Buckenam erreichten. Im Vergleich zu ihrer kleinen, roten Backsteinkirche daheim war dieses Gebäude gewaltig. Pfarrer Thomas lenkte den Lieferwagen langsam um das riesige, weiße Gebäude herum, bis er vor einer hölzernen Seitentür am Anbau hielt. Sofort bemerkte Chris den durchdringenden Essensgeruch, der aus einem offenen Fenster drang. Er schnüffelte.
Ben lachte: «Ich hoffe, du hast gut gefrühstückt. Denn das wirst du die nächsten Stunde andauernd in der Nase haben.»
Die beiden Jungen folgten dem Pfarrer in die Gemeindeküche, wo bereits annähernd hundert Styroporverpackungen auf sie warteten. Sie verluden alles in ihren Wagen und machten sich wieder auf den Weg.
Chris lernte in der folgenden Stunde, dass ihm Arbeit selten Freude bereitete. Gemeinsam mit Ben brachte er die Styroporboxen zu den Adressen, die Thomas anhand seiner Liste anfuhr. Zunächst lief Chris nur hinter Ben her. Er sah ihm zu, wie dieser mit einer Mahlzeit zu einem Haus ging, klingelte, freundlich grüßte, die Box überreichte und eine «Gesegnete Mahlzeit» wünschte. Chris kam dies ziemlich albern vor, doch er behielt seine Meinung für sich. Immerhin waren sie im Auftrag der Kirche unterwegs, da gehörte so etwas vermutlich dazu.
Schon bald jedoch schickte Ben seinen Bruder auch alleine los, während er selbst bereits zu einem anderen Haus eilte. Chris tat alle so, wie es ihm sein großer Bruder gezeigt hatte. Die zumeist älteren Leute lächelten dankbar, wenn er ihnen das warme Essen übergab. Einige strichen ihm anschließend über sein Haar und murmelten freundliche Worte. Es war ein gutes Gefühl.
Sie fuhren die gleiche Strecke wie auf dem Hinweg, nur in die andere Richtung, wie unterwegs Chris bemerkte. Nachdem sie die Menschen in St.Buckenam und Turngar beliefert hatte, kamen sie auch nach Malden.
Hier geschah es zum ersten Mal, dass niemand auf Chris klingeln reagierte. Leicht verzweifelt drückte er erneut auf den Knopf am Seiteneingang des Hauses, wo ein schräges, verblichenes Schild den Namen Arnold trug. Den gleichen Namen hatte Chris zuvor vorne über der Ladentür des geschlossenen Blumen- & Kräuterladens gelesen. Doch es geschah noch immer nichts. Chris hörte die Türglocke selbst auf der Veranda laut und deutlich, daran konnte es demnach nicht liegen. Unsicher überlegte er, was er nun tun sollte. Ben hatte ihm eindringlich erklärt, er müsse jederzeit höflich bleiben, die Leute immer grüßen und stets beim Überreichen eine «Gesegnete Mahlzeit» wünschen. Aber wie sollte er nun verfahren, wo ihm offensichtlich niemand erwartete? Ihm das zu erklären hatte Ben augenscheinlich versäumt.
Zögerlich betätigte Chris die Klingel ein drittes Mal. Und nun hörte er neben dem Läuten endlich weitere Geräusche aus dem Inneren. Es klang, als fiele im oberen Stockwerk ein schwerer Gegenstand zu Boden. Etwas wurde auf den hölzernen Dielen verschoben, ein alter Schrank oder ein Bett womöglich. Dann schlug das Fenster über Chris krachend gegen die Wand.
«Verdammte Kinder!», keifte eine brüchige Stimme los. «Wenn ihr nicht augenblicklich verschwindet rufe ich die ...»
Chris war vor Schreck einige Schritte zurückgewichen. Über ihm blickte eine uralte Frau erbost auf ihn hinab. Ihre strähnigen, weißen Haare schwangen ungekämmt im Wind. Zorn funkelte in ihren schwarzen Augen. Als sie jedoch die Styroporbox in seinen Händen erkannte unterbrach sie sich. Ihr Blick wanderte zum geparkten Lieferwagen an der Straße.
Pfarrer Thomas blickte heiter aus dem Wagenfenster hinaus und hob grüßend eine Hand. Zur Antwort schnaubte die alte Frau lediglich.
«Stell das Essen da unten auf den Tisch», kommandierte sie Chris barsch zur Veranda, «und dann verschwinde wieder!»
Zögernd trat Chris einen Schritt vorwärts.
«Und beeil dich, wir sind noch nicht fertig», erklang Bens belustigte Stimme von der Straße.
Der große Junge stand lässig an den weißen Wagen gelehnt, die Hände in den Hosentaschen und sah Chris grinsend zu.
«Ich wünsche Ihnen eine Gesegnete Mahlzeit», verabschiedete sich Chris von der Frau am Fenster, wie man es ihm aufgetragen hatte.
«Stell es nächstes Mal direkt auf den Tisch!», erklang die Antwort, bevor sich das Fenster krachend wieder schloss.
«Wer war DAS denn?», wollte Chris von seinem Bruder wissen, als er das Auto erreichte.
«Du hattest die Ehre, die Hexe von Malden persönlich kennenzulernen», antwortete Ben, noch immer breit grinsend.
Chris erschauderte. Natürlich kannte er die Geschichten seiner Mitschüler aus diesem Ort. Die Hexe war angeblich eine uralte Kräuterfrau, so erzählte man sich jedenfalls an der Schule, die im Dunkeln auf die Jagd nach Kindern ging. Sie fing sie, sperrte sie ein und testete ihre selbstgebrauten Hexenmittel an ihnen aus. Wenn sie daran starben - und laut seinen Mitschülern verstarben alle Kinder, die die Hexe fing - wurden die toten Kinder anschließend im Gewächshaus vergraben. Darum wuchsen dort auch die schönsten Blumen. Leichen, so sagten die Kinder aus Malden, sei der beste Dünger. Finn und Mick würden große Augen machen, wenn er ihnen von diesem Erlebnis erzählte.
«Hexe, so ein Unfug!», brummte Pfarrer Thomas, «die alte Frau Arnold ist inzwischen 92. Sie kann kaum noch laufen und verbringt die meiste Zeit im Bett. Wegen ihrer Migräne sind die Gardinen ständig zugezogen. Laute Geräusche verursachen bei ihr starke Kopfschmerzen. Aber sie weigert sich, die Klingel abzustellen, nur der Herr weiß wieso. Und die Kinder im Ort haben natürlich nichts besseres zu tun, als immer wieder bei der armen Frau zu läuten.»
Ein peinliches Schweigen breitete sich im Wagen aus. Den zweiten Teil würde Chris seinen Freunden vielleicht besser nicht erzählen.
Die folgenden Lieferungen verliefen problemlos. Ben und Chris wechselten sich mit den Auslieferungen ab und sie kamen schnell voran. Zwischendurch plauderten sie über Belanglosigkeiten. Der Pfarrer erzählte von dem geplanten Gemeindeausflug und Ben konnte berichten, dass Ruby, der Hund von Hoffmann in der Nacht verschwunden war. Insgeheim freute sich Chris darüber. Er hofft, dem Hund damit nie wieder zu begegnen.
Inzwischen hatten sie Kliffwacht erreicht und nur noch zwei Styroporboxen im Wagen. Das Auto bog in den Krummen Weg und sie fuhren bis zum unteren Ende. Sie wendeten, bleiben dann vor dem Geisterhaus stehen.
«Du bist dran», sagte Ben zu seinem Bruder.
Chris zuckte zusammen. Er hatte sich beim Anblick des gruseligen Hauses möglichst klein gemacht und wäre am liebsten unter das Armaturenbrett geklettert.
«Ich? Hier?», piepte er zaghaft.
«Nathaniel Dubois», las der Pfarrer bestätigend von seiner Liste ab.
Chris sah seinen Bruder an: «Das hast du absichtlich gemacht.» Seine Stimme wirkte brüchig wie Kreide.
«Stimmt», erwiderte dieser und zwinkerte Chris zu.
«Aber der Voodoomann ist gar nicht zu Hause», versuchte er sich zu retten.
«Wer?», fragte Pfarrer Thomas dazwischen.
«Na Nathaniel, der Drehorgelspieler», erklärte Chris den beiden. «Wir haben ihn am Morgen gesehen. Er wollte zum Jahrmarkt nach Baren.»
«Ich hab ihn hier auf der Liste stehen», erwiderte der dicke Priester, «also bekommt er auch sein Essen geliefert.»
«Du kannst es ihm ja vor die Tür stellen», sagte Ben freundlich, «diesmal brauchst du auch nicht extra klingeln.»
Chris versuchte, seinen Bruder mit Blicken zu erdolchen, doch dieser öffnete lediglich die Wagentür und schob Chris sanft nach draußen.
Mit der warmen Styroporbox in den Händen ging Chris zögerlich ein, zwei Schritte auf das Geisterhaus zu. So nah war er dem riesigen, verfallenen Holzgebäude noch niemals zuvor gewesen. Er konnte den Geruch von moderndem Holz wahrnehmen, gepaart mit dem intensiven Geruch überreifer Brombeeren. Der ganze Holzzaun links und rechts entlang des Hauses war von den dornigen Ranken überwuchert, wurde vermutlich von ihnen gehalten, so verfallen wie er aussah. Die efeuüberwachsenen Zweige der zwei Trauerweiden jeweils seitlich des Hauses pfiffen und schwangen im auffrischenden Wind. Eine einzelne Krähe krächzte vom Dachfirst des Hauses herab. Sie betrachtete den Jungen argwöhnisch aus ihren schwarzen Augen Kurz musste Chris an Micks Schilderung vom Morgen denken. Hoffentlich war dies nicht der gleiche Vogel. Er sah sich um, ob er irgendwo eine Ratte sitzen sah, konnte jedoch nichts erkennen. Bis auf die Krähe schien hier nichts mehr zu leben.
Dann stand Chris zwischen die steinernen Torpfosten, die den Eingang zum Grundstück markierten. Zum ersten Mal erkannte Chris, das es sich bei den moosigen und überwachsenen Steinen um wirkliche Figuren handelte. Seltsam verdrehte Steinfiguren, mit Hörnern und Klauen, kleinen Stummelflügel und langen Reißzähnen. Entfernt erinnerten sie Chris an gotische Wasserspeier, wie er sie in seinem Schulbuch gesehen hatte. Hier jedoch, direkt vor seinen Augen wirkten sie ungleich schauriger, fast lebensecht und bedrohlich. Es waren steinerne Torwächter, auch wenn es hier schon lang kein Tor mehr zu bewachen gab.
Bewegten die beiden sich nicht, immer wenn er gerade nicht hinsah? Kratzte da etwa leise eine Klaue über den Stein? Womöglich fielen sie ihm in den Rücken, sobald er das Grundstück betrat, sie waren schließlich Wächter.
Nein, er konnte keinen Schritt weitergehen. Seine Füße schienen wie auf dem Boden festgeklebt. Er würde einfach hier stehen bleiben und ...
«CHRIS!» Ben stand direkt neben ihm und fuhr ihn an. «Was soll das? Warum stehst du hier nur rum?»
Erschrocken zuckte Chris zusammen und sah seinen Bruder verwirrt an. Wo kam der denn jetzt her?
Dieser nahm ihm kopfschüttelnd die Box aus der Hand, ging zügig die fünf Meter bis zum Haus und stellte das Essen auf der Veranda ab. Auf dem Rückweg stupste er Chris spielerisch gegen die Schulter. «Komm mit, Angsthase. Dann gehört dir halt der letzte Kunde für heute.»
Chris beeilte sich, seinem Bruder zu folgen.
Zurück im Auto blickte ihn der Pfarrer aufmunternd an: «Ein wenig bedrückend wirkt dieses Grundstück ja, dass muss ich zugeben. Aber in Gottes Augen sind wir alle seine Geschöpfe, auch der Bewohner dieses Hauses. Vergiss das niemals, Christoph. Wer mit Gott ist, braucht keine Furcht zu verspüren.» Er fuhr an, ohne auf eine Antwort der beiden Kinder zu warten.
«Also bekomme ich mein Fahrrad doch?», fragte Ben nach einem Augenblick an Chris gewandt.
«Nein, ich mache es!», knurrte Chris. «Du wirst schon sehen.»
Ben betrachtete ihn abschätzend. Sie fuhren nun auf der Hauptstraße in Richtung Küste. Als sie sich dem Gasthof näherten, bat Ben den Pfarrer, ihn rauszulassen. Sie hielten am Straßenrand und der große Junge stieg aus. Er verabschiedete sich freundlich vom Priester und sah seinen Bruder an: «Ich hab jetzt noch zu tun. Aber wenn du es wirklich ernst meinst, bin ich um Mitternacht am Geisterhaus und warte auf dein Zeichen.» Er blickte Chris abwartend in die Augen.
Dieser schluckte schwer, dann nickte er. «Geht klar, ich zieh das durch. Du wirst schon sehen.»
Ben nickte ebenfalls bekräftigend, schlug dann die Tür zu und ging.
Chris lieferte problemlos das letzte Mittagessen aus. Inzwischen waren es fast 13.30 Uhr. Der Priester ließ ihn ebenfalls an der Haustür aussteigen. Er danke ihm erneut für seine großartige Hilfe. Chris versicherte, dass er ab sofort öfter helfen würde. Er verabschiedete sich und trat in die Gaststube.