Teil 1 - Wetten, dass?
Kapitel 1 - Eine unüberlegte Zusage
„Es ist ein wirklich schöner Tag, findest Du nicht, Richard?“
Für einen Moment zuckte er zusammen und hätte sich dabei fast mit der Nadel gestochen. Er konnte es überhaupt nicht leiden, bei diesen filigranen Arbeiten gestört zu werden. Viel wichtiger aber war, dass er es noch deutlich weniger mochte, wenn man ihn ‚Richard‘ nannte. Sah er aus wie ein alter Mann, oder was?!
„Ähm, ja“, antwortete irgendwann, ohne dabei aufzusehen. „Wirklich schön.“
Für eine Sekunde überlegte er, ob er die ältere Dame, die ihn angesprochen hatte, wieder einmal darum bitten sollte, dass sie ihn nicht so nannte, aber er verzichtete. Egal, wie oft er sie bisher gebeten hatte, ihn wie alle anderen auch ‚Rick‘ zu nennen, Annabell tat es einfach nicht. War ihr zu ‚englisch‘, wie sie meinte.
Kaum war der Gedanke verraucht, kehrte Rickys Konzentration auf die eigentliche Arbeit zurück. Beinahe mechanisch und dennoch mit absoluter Präzision huschten seine Hände über den cremefarben leuchtenden Stoff. Wenn Annabell mehr zum Wetter zu sagen hatte, bekam er es für die nächsten dreißig Minuten jedenfalls nicht mit.
Nachdem die letzte Paillette angebracht, lehnte Ricky sich zufrieden zurück und betrachtete das Motiv, das die kleinen Plättchen bildeten. Mit geradezu verträumten Blick stand er auf und trat zu der bisher unbekleideten Ausstellungspuppe hinüber, die er gestern Abend bereits neben seinem Arbeitsplatz platziert hatte. Fein säuberlich streifte er das Kleid kurz darauf über die Puppe und strich es glatt. Zufrieden trat er einen Schritt zurück und nickte.
Auch wenn es im Augenblick kaum zu erkennen war, wusste Ricky genau, dass im Stroboskoplicht Licht der geplanten Abendveranstaltung die Blumen und Ranken glitzern würden wie Sterne. Genau wie seine Kunden es sich gewünscht hatte. Für einen Moment schielte er zu den beiden anderen Puppen, die deutlich weniger prunkvolle Kleider in einem etwas bläulicherem Ton trugen. Die drei harmonierten wunderbar zusammen, genau wie er es geplant hatte.
Ein Lächeln huschte über Rickys Lippen, als er zu einer Plastikschachtel mit Perlen griff. Er war schließlich noch nicht ganz fertig. Ein paar Details fehlten. Und so ging er, vor der Puppe mit ihrem Kleid in die Knie, und begann die kleinen hellblauen Perlen an den richtigen Stellen zu verknoten. Jede der winzigen Kugeln wurde einzeln befestigt, was einen entsprechenden Arbeitsaufwand für das ohnehin schon aufwendige Kleid bedeutete.
„Du gibst dir wirklich viel Mühe mit den Aufträgen“, unterbrach Annabell ihn mit einer gewissen Bewunderung in der Stimme erneut. Aus dem Augenwinkel bemerkte er sofort ihren prüfenden und gleichzeitig auch etwas neidischen Blick, mit dem sie seine Fingerfertigkeit beim Anknüpfen der Perlen beobachtete.
Rickys Lächeln wurde breiter: „Natürlich. Immerhin fahren einige unserer Kundinnen mehrere Hundert Kilometer weit. Nur für diese Kleider.“
„Es ist selbst nach zwei Jahren etwas ungewohnt, dass ein Mann in einem Geschäft wie dem unseren arbeitet. Und das auch noch mit dieser Hingabe“, fuhr sie fort und trat um das Kleid herum, damit sie es von der anderen Seite begutachten konnte.
Ricky unterbrach seine Arbeit und sah zu ihr auf. Für einen Moment versuchte er, ihren Gesichtsausdruck zu lesen. Aber wie immer gelang es ihm überhaupt nicht, die alte Schabracke zu deuten. Also wand er sich innerlich brodelnd ab. Weil Ricky sich, wie so oft, nicht sicher war, ob sie ihn belächelte oder bewunderte. Ganz abgesehen davon, dass er schon wieder in derartig unangemessenen Worten von jemanden dachten. Dabei wollte er doch nicht mehr so impulsiv und ... vorlaut sein. Aber dummerweise schaffte seine Kollegin es quasi seit seinem ersten Tag hier, ihn ohne ersichtlichen Grund in Rage zu versetzen.
Vielleicht lag es aber auch einfach nur daran, dass er sich unter ihren Augen manchmal so fühlte, als wäre sie seine Mutter, deren Vorstellung er versuchte zu genügen. Womöglich war das auch gar nicht so verwunderlich. Immerhin war Annabell mindestens so alt wie seine eigene Mutter. Anders konnte Ricky sich nicht erklären, warum ihm diese manchmal so prüfend klingenden Worte derartig reizten. Denn jedes Mal schwang darin die Möglichkeit mit, dass dieses Urteil negativ ausfallen könnte.
„Guten Morgen!“, erschallte plötzlich die helle, klare und vor allem unheimlich gut gelaunte Stimme einer weiteren Frau.
Sofort drehten Ricky und Annabell sich um und erwiderten freundlich den Gruß.
„Oh. Mein. Gott!“, flötete sie kaum, dass sie einen Blick auf die drei Kleider geworfen hatte. „Du bist in der Tat ein Magier, mein Kleiner.“
Geradezu zögerlich trat sie auf ihn und sein Werk zu. Ihr schmalen Finger glitten federzart über den Stoff, während sie weiter bewundernd jedes Detail aufzunehmen versuchte. Ricky schwieg und wartete, bis sie ihre Musterung beendet hatte.
Kaum war es so weit, beugte sie sich zu ihm hinunter und wuschelte Ricky wie einem kleinen Kind durch die struppigen dunkelblonden Haare: „Ich bin wirklich ein Glückspilz, dass ich einen so talentierten Jungen, wie dich in der Familie habe.“
„Danke, Tante Helena“, antwortete er brav, während er sich das Grinsen verkniff.
Mit fünfundzwanzig sah er sich eigentlich nicht mehr wirklich als ‚Jungen‘, aber seine Tante konnte offensichtlich nicht von ihrem Bild aus den Kindheitstagen lassen. Wahrscheinlich würde er auch noch in weiteren zwanzig Jahren ‚ihr Junge‘ sein.
„Ich glaube, die beiden Brautjungfernkleider sind recht gut geworden. Aber das hier“, dabei deutete Ricky auf das Kleid, das er noch in Arbeit hatte, „Das hier wird natürlich das schönste von allen.“
Er strahlte förmlich, als er sein Werk erneut zufrieden betrachtete. Vor Rickys inneren Auge war es nicht dieses Kleid, was er sah, sondern die fertige Vision dessen, was er versuchte hier zu erschaffen. Und wenn er von bisherigen Jahren seiner Arbeit hier ausging, dann würde er hoffentlich wie immer erfolgreich darin sein.
Was ihm dabei das Herz aufblühen und das Lächeln auf seinen Lippen erstrahlen ließ, war nicht die Vorstellung, dass er das hier geschaffen hatte. Es war vielmehr das Wissen, dass die Frau, die dieses Kleid für den schönsten Tag ihres Lebens kaufte, sich wahnsinnig darüber freuen würde, dass er diese Arbeit und Mühe investiert hatte. Dabei war es vermutlich ihr egal, dass sie Ricky dafür bezahlte. Genauso wie es ihn nicht interessierte, wenn er um seine Vision zu erschaffen vier, fünf Stunden länger brauchte, als er veranschlagt – oder berechnet – hatte.
„Das ist es in der Tat. Du bist so ein verdammt guter Junge, Ricky“, hauchte seine Tante mit belegter Stimme und streichelte ihm erneut über die Haare. „Aber du musst auch mal Pause machen“, ermahnte sie ihn dann deutlich strenger, während sie ihm einen Klaps auf den Hinterkopf gab.
Verlegen senkte er den Blick, ohne etwas zu erwidern. Wohlwissend, dass keine Antwort in diesem Fall ebenfalls eine war.
„Ich weiß, wie weit du gestern Abend warst. Wann hast du heute Morgen angefangen?“, fuhr sie fort, während sie seinen Kopf hob und die vermutlich deutlichen Augenringe kritisch musterte.
„Gegen vier“, murmelte er verlegen. „Ich konnte nicht abschalten, so lange sie nicht fertig sind.“
Etwas unfertig im Laden zu lassen, raubte Ricky regelmäßig den Schlaf. Helena hatte ihn deshalb schon oft gescholten und gemeint, er solle es dann doch lieber gar nicht mehr abends anfangen, wenn er wusste, er würde nicht fertig werden. Aber das konnte Ricky auch wieder nicht, dazu machte ihm die Arbeit viel zu viel Spaß.
„Mach jetzt trotzdem erst einmal Pause, Junge. Hier. Komm!“, rief sie ihm zu und drückte ihm 10 Euro in die Hand. „Lauf rüber zum Bäcker und hol uns ein paar Baguettes zum Frühstück!“
Damit schubste sie ihn bereits in Richtung Tür. Er konnte gerade noch die Schale mit den Perlen auf einem der Tische abstellen, bevor sie ihn aus dem Arbeitszimmer in den Verkaufsraum drängte. Wohlwissend, dass er nicht mit ihr zu argumentieren brauchte, sparte Ricky sich den Widerspruch und drehte sich mit einem leisen Seufzen zu den beiden Damen um.
„Was wollt ihr denn für welche?“, fragte er resignierend. Warum musste eigentlich immer er zum Bäcker laufen? Die Frage hatte er sich allerdings selbst schnell beantwortet. Vermutlich nahm Helena an, dass er außer zum Einkaufen und in seine kleine Wohnung oberhalb des Ladens nie aus eben diesem herauskam. Was definitiv nicht der Fall war – würde er ihr aber garantiert nicht auf die Nase binden.
„Salami.“
„Käse.“
Ricky verdrehte die Augen und nickte. War ja klar. Warum fragte er überhaupt? Die beiden aßen doch eh immer dasselbe. Mit einem weiteren Seufzen – diesmal betont lautstark – verließ er den Laden seiner Tante.
Die Sonne schien hell herunter und erst jetzt fiel ihm – nach einem Blick auf sein Handy – auf, dass es bereits zehn Uhr war. Andererseits kam Rickys Tante selten eher in den Laden, also sollte ihn das vermutlich nicht sonderlich verwundern. Immerhin kamen ihre Kunden auch nie früher. Und tatsächliche Öffnungszeiten hatten sie ja sowieso nicht.
Dass er mal wieder als Laufbursche herhalten musste, wurmte Ricky trotzdem. Die beiden allmählich angegrauten Damen hätten die Bewegung sicherlich nötiger gehabt als er. Versonnen strich er sich über den kaum herausgewölbten Bauch. Für eine Sekunde hielt er Luft an. Nein, dick war er wirklich nicht, aber wenn er weiterhin fast täglich zum Bäcker geschickt wurde, wäre das nicht mehr lange so.
Im Augenblick ließ es sich allerdings nicht ändern, also ergab Ricky sich dem Schicksal und lenkte die Schritte ein Stück den Fußweg entlang. Ein kurzer Blick nach links und rechts, dann hastete er über die Straße zum Bäcker auf der anderen Seite hinüber. Kaum hatte er das Geschäft betreten, wehte ihm auch schon der Duft von frisch gebackenen Brötchen entgegen, wie man ihn nur noch in kleinen Bäckereien fand.
„Ah, hallo Rick!“, rief ihm ein gut gelaunter junger Mann zu, kaum dass der ihn entdeckt hatte.
„Grüß Dich, Tim“, gab er mit einem eigenen Lächeln zurück.
„Macht ihr Frühstückspause?“, fuhr der Kleine fort und legte bereits das Papier auf den Tisch vor sich, in das er in Kürze Rickys Einkauf einpacken würde. Dieser nickte lediglich knapp. „Dasselbe wie immer?“
„Ja ...“, murmelte er und sah mit einem geradezu sehnsüchtigen Blick zur Kuchenauslage. So ein Stück von dem Quarkkuchen würde ihm jetzt sicherlich gut schmecken. Seufzend zwang Ricky sich, den Blick abzuwenden, um sich nicht mehr als nötig zu quälen.
„Willst du ein Stück?“, fragte Tim jedoch mit einem breiten Grinsen im Gesicht.
Er überlegte einen Moment, schüttelte dann allerdings mit betretenem Ausdruck den Kopf. „Lieber nicht“, murmelte Ricky und klopfte sich leicht auf sein kaum sichtbares Bäuchlein. „Ich will nicht noch dicker werden.“
„Dick?! Du?!“, rief Tim erstaunt. „Wo bist du denn dick?“ Dann grinste er Ricky breit an und zwinkerte ihm betont auffällig zu. „Also ich geh auch mit dir aus, wenn du zehn Kilo drauflegst.“
Ricky konnte fühlen, wie sich seine Wangen erhitzten. Garantiert leuchtete gerade in dem schönsten Rot, was man sich vorstellen konnte. Dabei hatte er sich oft genug geschworen, dass er sich in der Öffentlichkeit nicht mehr von irgendwelchen blöden Sprüchen derartig verunsichern lassen würde. Erst recht nicht von so einem Kleinen, wie dem da drüben, der ganze sieben Jahre jünger war, als er selbst. Zumal das im privaten Rahmen eigentlich gar nicht in seiner Art lag.
„Was meinst du?“, fuhr Tim unbeirrt fort. „Ein Drink heute Abend?“
Ricky seufzte. Er kannte Tim jetzt seit zwei Jahren. Damals war der noch zur Schule gegangen, bevor er hier im Laden seiner Eltern die Ausbildung begonnen hatte. Seitdem hing ihm der Kleine am Hosenbein. Tatsächlich hatte Tim mehrmals Stein und Bein geschworen, dass er unsterblich in Ricky verliebt wäre. Natürlich hatte er selbst dem keine echte Beachtung geschenkt und den Kleinen schon gar nicht ermutigt. Geändert hatte sich dennoch nichts.
„Gib dir einen Ruck, Rick!“, versuchte es Tim weiter, während er die Sandwiches einpackte. Sein Grinsen war so breit, dass es eine echte Versuchung darstellte.
Tim war definitiv attraktiv, das konnte man nun wirklich nicht leugnen. Genauso wenig wie die Tatsache, dass der ‚Kleine‘ optisch nicht klein, dafür durchaus Rickys Typ war. Ein netter Kerl obendrein. Einfach, freundlich, immer gut gelaunt. Und offensichtlich seit zwei Jahren total in Ricky verschossen. Das traf zugegeben auf nicht sonderlich viele Leute zu. Die Tatsache, dass er inzwischen eine ganze Weile wieder Single war, sprach für sich selbst. Tim war bodenständig. Kein studierter Lackaffe, wie die Männer, die sich sonst für ihn interessierten. Vielleicht war es tatsächlich einen Versuch wert.
„Hast du immer noch nicht aufgegeben?“, gab Ricky stattdessen zögerlich zurück, ohne die Einladung anzunehmen.
Tim reichte ihm die Tüte mit dem Einkauf, während er selbst den Zehner von Helena herauskramte.
Schlagartig wurde Tims Stimme ernst und das Lächeln verschwand: „Bei hübschen Männern geb ich sicherlich nicht einfach auf. Vor allem, wenn ich ganz genau weiß, dass ich zumindest theoretische Chancen habe.“ Einen Augenblick lang schwiegen sie sich an, dann zählte Tim das Wechselgeld ab.
Ricky grummelte etwas von „Allerdings nicht praktisch“, und streckte die Hand aus. Aber anstatt einfach die Geldstücke hineinfallen zu lassen, ergriff Tim sie. Er lehnte sich vor und als sich die spitzbübisch funkelnden grünen Augen förmlich in Ricky bohrten, kam auch das Grinsen auf Tims Lippen zurück.
„Komm schon, Rick. Ein Drink. Mehr nicht.“
Er seufzte. Der Kleine war echt nett, aber eben auch gerade einmal achtzehn. Vor allem war Ricky sich nicht sicher, wie viel ... Erfahrung der Junge in den letzten zwei Jahren mit Männern gesammelt hatte. Vermutlich gar keine. Herrgott, der Kleine war doch fast noch ein Kind. Aber er selbst war seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr ausgegangen. Da er heute das Kleid für seine Kundin fertig bekommen würde, wäre es eine gute Gelegenheit, wenigstens den Kopf freizubekommen.
„Bitte!“, hakte Tim erneut nach, vermutlich weil er Rickys Entschlossenheit bereits schwinden sah. Er seufzte tief und rieb sich über die müden Augen. Es wäre garantiert eine deutlich bessere Idee, wenn er heute zur Abwechslung einmal früher ins Bett gehen und morgen auch tatsächlich ausschlafen würde.
„Okay“, hörte er sich dennoch antworten. Schon jubelte Tim – ohne jede Zurückhaltung oder Rücksicht darauf, dass seine Eltern irgendwo hinten in der Backstube sein dürften. „Aber nur ein Drink, Tim!“
„Klar!“, beeilte der sich zu versichern. „Mehr erwarte ich gar nicht! Heute Abend?“
Ricky nickte. „Okay. Ein Drink im Rush-Inn“, bestätigte er erneut.
„Wo treffen wir uns?“
Geradezu entrüstet sah er Tim an. „Du wohnst hier im Haus, ich gegenüber, auf der anderen Straßenseite. Was glaubst du denn?“
„Oh. Natürlich!“, gab der Junge verlegen zurück. Schon begann Ricky die Zusage zu bereuen. Aber irgendwie war es niedlich, wie Tim derartig verzweifelt versuchte, wie ein gestandener Mann zu wirken – obwohl er sehr eindeutig in vielen Belangen noch ein Kind war. Was wiederum düstere Vorboten für den anstehenden Abend vorausschickte. Es war eine saudämliche Idee, auf die Einladung einzugehen.
Denn Tim konnte noch so nett sein, er blieb eben doch nur ein ‚Junge‘. Und leider stand Ricky nun einmal auf Männer – und zwar eher in seinem eigenen Alter. Ganz sicher nicht ernsthaft deutlich jünger und schon dreimal nicht gerade einmal volljährig. Definitiv sollten sie einen gewissen Grad an Erfahrung mitbringen. Dennoch zwang Ricky sich ein Lächeln ab, denn nun hatte er bereits zugesagt. Vielleicht würde der Abend ja trotzdem nett werden. Und ansonsten ergab sich womöglich eine Gelegenheit, Tim endgültig klar zu machen, dass das zwischen ihnen nie etwas werden würde.
Win-Win-Situation nannte man das wohl.
Also trabte Ricky in Richtung Tür. So richtig glauben konnte er dem Jungen seine Versicherung, dass es ‚nur ein Drink‘ sei nicht. Wenn der Kleine angeblich seit zwei Jahren in ihn verknallt war, würde er sich garantiert deutlich mehr erhoffen. Womöglich nicht unbedingt für heute, aber langfristig bestimmt. Und ‚langfristig‘ war etwas, über das Ricky im Moment nicht einmal nachdenken wollte. Jedenfalls nicht, wenn es Tim betraf.
„Bis heute Abend“, murmelte er und verließ schließlich den Laden sowie einen glücklich strahlenden Bäckerlehrling. Zeit um nicht nur zu seiner Tante, sondern auch an die Arbeit zurückzukehren. Wenn er heute Abend ausgehen wollte, dann musste das Kleid vorher fertig sein. Denn dass er aus dem Laden ging, bevor der letzte Schliff daran erledigt war, stand gelinde gesagt überhaupt nicht zur Debatte.
Also machte Ricky sich quasi sofort wieder an die Arbeit, während Helena und Annabell sich dem Frühstück widmeten. Natürlich schimpfte seine Tante zunächst, weil er sich zum einen nicht selbst etwas mitgebracht hatte und zum anderen auch schon wieder zurück ins Arbeitszimmer schlurfte. Allerdings war Ricky das in diesem Moment ziemlich egal.
Wenn er das Kleid bis zum Mittag fertig hatte – und die Chancen dafür standen gut – konnte er sich noch einmal für ein paar Stunden hinlegen, bevor er mit Tim in Richtung Rush-Inn aufbrach. Der Gedanke daran, dass er dem Jungen nachgegeben hatte, bohrte ihm unangenehm in den Magen. Je näher der Mittag rückte, desto unsicherer wurde er, ob er nicht einen fatalen Fehler gemacht hatte. Aber jetzt war es zu spät.
Deshalb zwang Ricky sich, den Gedanken beiseitezuschieben und sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Auch wenn es simpel erschien, waren sehr exakte Bewegungen notwendig. Andernfalls wäre die Perle an der falschen Stelle, oder würde nicht richtig sitzen. Zwar fiel das vermutlich am Ende niemandem außer ihm selbst auf – aber das reichte schließlich. Nichts hasste Ricky mehr, als wenn eines seiner Meisterwerke nicht perfekt war.
Der Gedanke, dass es anders sein könnte, schnitt ihm unangenehm in den Magen. Wenn seine Arbeit nicht perfekt war, war er es auch nicht. Ein Gefühl, das Ricky so überhaupt nicht leiden konnte.
Das Kleid hier würde jedoch definitiv in die Kategorie ‚perfekt‘ fallen. Die Kundin – besser gesagt ihr zukünftiger Ehemann – war wohlhabend und entsprechend ausgefallen ihre Ansprüche gewesen. Allerdings war Ricky das nur recht, denn je ungewöhnlicher die Wünsche, desto interessanter die Arbeit. Und nicht zuletzt war der Gewinn und somit sein Gehalt, dadurch ebenfalls höher.
„Ach, mein Junge“, hörte er einige Zeit später Helena erneut hinter sich. „Es ist wirklich wunderschön geworden.“
„Finde ich auch“, wisperte Ricky leise und strahlte sein Kunstwerk an.
In seiner Vorstellung sah er bereits die Kundin, wie sie in dem Kleid vor dem Altar stand und den schönsten Moment ihres Lebens erlebte. Jedenfalls hoffte sie darauf, so wie alle ihre Kundinnen. Sonst würden sie sicherlich auch nicht so viel Geld für ein handgefertigtes und maßgeschneidertes Kleid ausgeben. Noch dazu eines, das sie nur einmal in ihrem Leben tragen würden.
„Sie wird eine wunderhübsche Braut sein“, meinte Helena, als hätte sie Rickys Gedanken erraten. Aber vielleicht waren es nur einfach die Gleichen. Immerhin betrieb seine Tante dieses Brautmodengeschäft bereits seit über dreißig Jahren.
„Manchmal wünschte ich, ich könnte sie sehen“, murmelte er versonnen.
„Was meinst du, Ricky?“
Erschrocken zuckte der zusammen. Hatte er das eben laut ausgesprochen?! Beschämt senkte er den Blick. „Ich dachte nur gerade, dass ich inzwischen unzählige Kleider entworfen und genäht habe ... Aber ich war noch nie bei einer Hochzeitsfeier.“
Helena lachte und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Dann such dir endlich mal eine Frau und geh zu deiner eigenen Hochzeit.“
Mit einem verlegenen Lachen schüttelte er den Kopf. „Wohl eher nicht“, murmelte Ricky kaum hörbar. Verstohlen warf er einen Blick zu seiner Tante, die schien es aber entweder nicht gehört zu haben oder sie ignorierte die Bemerkung. Wahrscheinlich besser so. Betreten senkte er den Kopf.
Dieses dämliche Versteckspiel war albern. Er war ein Mann, der als Designer und Schneider in einem Brautmodengeschäft arbeitete. Im Grunde genommen schrie die Beschreibung doch schon, dass er schwul war. Trotzdem schien niemand in Rickys Familie das so zu sehen. Jedenfalls wenn man danach ging, dass ihn alle nasenlang jemand darauf hinwies, dass er mit fünfundzwanzig doch allmählich mal eine feste Freundin vorweisen können sollte.
Eigentlich war Ricky sonst nicht gerade zurückhaltend, damit seine Präferenzen deutlich darzustellen. Seine Familie stellte da allerdings offenkundig eine Ausnahme dar. Weder seinen Eltern noch Helena hatte er bisher offen reinen Wein eingeschenkt, was das anging. Wenn Ricky genauer darüber nachdachte, musste er aber zugeben, dass er stets angenommen hatte, es würde irgendwann so offensichtlich sein, dass ihm diese Peinlichkeit im Grunde erspart bliebe.
Vor allem seine Mutter schien jeder Andeutung zum Trotz jedoch vollkommen resistent gegenüber dem Gedanken zu sein, dass ihr Junge eben keine Frau, sondern irgendwann einen Mann nach Hause bringen würde. Also schwieg er weiter – aus Angst davor, dass sie es nicht sehen wollte, weil sie den Gedanken nicht ertragen und ihn dann ablehnen würde.
„Es ist fertig“, entschied Helena plötzlich und sah Ricky fest in die Augen. „Geh schon. Nimm dir den Rest des Tages frei und schlaf ein bisschen, mein Junge.“
Er nickte stumm und packte die Arbeitsgeräte wieder ein. Auf keinen Fall würde er gehen, ohne dass das Arbeitszimmer ordentlich aufgeräumt war.
„Ach und Richard?“ Er zuckte zusammen, denn es gab nur einen Grund, warum Helena, diesen Namen benutzte. „Du hattest mir versprochen, dich endlich mal wieder bei deiner Mutter zu melden. Ich habe allmählich die Nase voll davon, dass meine Schwester alle drei Tage bei mir anruft, um zu fragen, ob du noch lebst und wie es um ihre Aussichten auf Enkel bestellt ist.“
Betreten ließ er den Kopf hängen. „Ja, Tante Helena.“