Die Tage bis Freitag vergingen quälend langsam. Acht Stunden täglich hockte Ricky in seinem Arbeitszimmer und nähte an einem der bestellten Kleider oder half seiner Tante bei Kundenterminen. Obwohl der April inzwischen fast vorbei war, kamen jetzt auf einmal die heiratswilligen Damen aus allen Löchern gekrochen und wollten unbedingt bis zum Sommer noch ein Kleid haben. Aber auch wenn es Rick natürlich lieber gewesen wäre, die Frauen würden zur Abwechslung mal über den Winter kommen und ihm ein halbes Jahr für die Arbeit zeitlassen, konnte er sie durchaus verstehen. Immerhin wusste im Dezember niemand so Recht, welche Körpermaße er im Juli schließlich haben würde.
Im Grunde war also alles wie immer. Zumindest so lange er im Laden war und sich mit Seide, Spitze und Perlen ablenken konnte. Dummerweise kam irgendwann der Feierabend. Und Rickys Tante schien es sich zum Ziel gesetzt zu haben, dafür zu sorgen, dass er nicht mehr als acht Stunden auf Arbeit verbrachte. Woher die plötzliche Achtsamkeit kam, konnte Rick nicht sagen. Und fragen wollte er auch nicht, denn vermutlich hatte seine Mutter und deren anhaltende Anrufe bei Helena, einen nicht geringen Anteil daran.
Aber es fing an zu nerven.
Vor allem, da das bedeutete, dass Ricky folglich jeden Nachmittag und Abend zu Hause saß und die Wände anstarrte. Wahlweise den Fernseher. Oder die Decke. Mitunter auch den Fußboden. Viel mehr Auswahl gab es ja leider nicht. Und das war ziemlich blöd, denn das hieß, er war mit seiner inneren Unruhe und den Bildern, die diese in ihm heraufbeschwor allein. Seufzend sank Ricky auf dem Sofa in sich zusammen. Noch gut dreißig Minuten bis André endlich hier auftauchen würde.
In dem Moment piepte das Handy und zauberte ihm damit ein Lächeln auf die Lippen. Hastig zog er das Gerät aus seiner Hosentasche, um die neue Nachricht zu prüfen. So ganz allein war Rick glücklicherweise dann doch nicht mit seinen Gedanken gewesen dieser Tage.
『Heute Abend steht?』, leuchtete es verheißungsvoll auf dem Display.
『Bisher steht hier nichts』, schrieb Rick mit einem dreckigen Grinsen im Gesicht zurück. 『Bei dir etwa?』
『Reiz mich nicht schon wieder, Rick. Sonst fällt mindestens dein Film doch noch aus.』
Das Grinsen in seinem Gesicht wurde breiter. Dass dieser Mann unheimlich leicht zu reizen war, hatte er das letzte Mal gestern Abend feststellen dürfen. Da hatten sie dank der Tatsache, dass André hatte arbeiten müssen, auch nur Nachrichten schicken können. Außerdem hatte Ricky bereits bei ihrem Telefonat am Mittwochabend gemerkt, dass es zudem ausgesprochen simpel war, mit dem Kerl zu spielen. Etwas, was den, abgesehen von der äußerlichen Attraktivität, nur umso interessanter machte.
『Hast du Karten bekommen?』, fragte Ricky jedoch nach, anstatt auf die Herausforderung einzugehen. Schließlich wollte er sich das eine oder andere für später aufheben.
Es dauerte einen Augenblick, dann kam endlich die Antwort: 『Du willst dich gar nicht wirklich mit mir treffen, sondern nur in diesen Film, oder? :(』
Ricky lachte laut und tippte: 『Na klar. Was dachtest du denn?』
『Das sag ich dir lieber persönlich.』
In dem Moment klingelte es an der Tür. Etwas irritiert stand Ricky auf und ließ das Handy zurück in die Hosentasche gleiten. Post kam um die Uhrzeit ganz sicher nicht mehr und seine Tante würde ihn auch nicht stören. Zumindest nicht nachdem sie ihn mit relativ harschem Ton früher am Nachmittag aus dem Laden gejagt hätte.
„Es ist Freitag, Junge. Geh endlich mal aus oder sowas! Mein, Gott. Ich hab mehr Sozialleben als du, Richard.“
Selbst jetzt musste er grinsen, als ihre Worte ihm wieder in den Sinn kamen. Wenn Helena wüsste, dass er durchaus ein Leben außerhalb der Arbeit führte, das auch noch für heute Abend zumindest hoffentlich recht erfolgreich enden sollte, würde sie vermutlich vom Glauben abfallen. Aber der Gedanke erinnerte ihn ebenso daran, dass er allmählich mal anfangen musste, ehrlich zu seiner Familie zu sein. Den Anruf bei seiner Mutter schob er ja zum Beispiel auch immer noch vor sich her. Etwas, das Helena so gar nicht passte.
Aber der Gedanke trieb Rick ein weiteres Lächeln in sein Gesicht, denn immerhin hielt seine Tante ihm – wenn auch eher unwillig – bei seiner Mutter den Rücken frei. Gut gelaunt zog er deshalb die Tür auf und erstarrte.
„Also ich dachte ja, dass du mich zumindest interessant genug findet, um mit mir auszugehen. Und ich dich womöglich – wenn auch vielleicht nicht heute – davon überzeugen kann, nicht nur ins Kino mit mir zu gehen.“
Rickys Lächeln wurde zu einem Grinsen, als er sich gegen den Türstock lehnte – André aber eiskalt vor der Tür stehen ließ. „Ach ja? Und wohin könnte das sein.“
„Ins Bett.“ Oha. Das war ja mal direkt – und brachte Ricky postwendend zum Lachen. „Hey, das ist nicht witzig!“, grummelte André vorgeschoben beleidigt. Und dass es nur gespielt war, zeigte sich mehr als deutlich an dem breiten Grinsen, das auch ihm auf den Lippen lag.
„Ich schlaf normalerweise nur in meinem eigenen Bett.“ Dieser André fing an, ihm viel zu gut zu gefallen. Dabei kannte er ihn nicht mal. Ricky wusste genau, dass es ein Spiel mit dem Feuer war, das er hier betrieb. Aber abgesehen davon, dass André eben verflucht attraktiv war, zeigte dieser Schlagabtausch hier wieder, dass sie zumindest in der Hinsicht auch absolut auf der gleichen Wellenlänge zu schwimmen schienen.
„Ist mir völlig egal, welches Bett es ist, Hauptsache da wird nicht nur geschlafen.“
Ricky lachte. „Ganz schön von dir überzeugt.“
„Zu Recht.“
Sein Grinsen wurde breiter, denn allmählich schien André trotz der selbstbewussten Worte unruhig zu werden. Vermutlich, weil er hier weiterhin im Treppenhaus vor der Wohnungstür stand und es noch nicht einmal bis in den Flur – geschweige denn ein Bett geschafft hatte. Aber da würden sie vor dem Essen garantiert nicht landen. Für alles Weitere würde Rick im Augenblick keine Garantien mehr abgeben wollen. So sehr er sich eine stabile und anhaltende Beziehung letzte Woche noch gewünscht hatte. Umso deutlicher wurde seit Montag der Wunsch, diesen Kerl da drüben endlich ‚hautnah‘ kennenzulernen. Egal ob mit Beziehung oder nicht.
„So taff bist du aber nicht“, gab Rick mit einem Kopfschütteln und einem weiteren leisen Lachen zurück.
André grinste und zuckte mit den Schultern. „Aber du stehst drauf und irgendwie muss ich ja versuchen, Eindruck zu schinden.“
Wieder schmunzelte Ricky. Allerdings hütete er sich davor, André darauf hinzuweisen, dass der nun wirklich keinen weiteren Eindruck hinterlassen musste. Den hatte er schon mehr als deutlich gemacht. Also trat er schlichtweg beiseite, um seinen Gast wenigstens kurz hereinzulassen. Bis sie aufbrechen mussten, war immerhin noch etwas Zeit.
„Kann ich dir was anbieten?“, fragte Ricky der Höflichkeit halber, nachdem er die Tür geschlossen hatte.
„Ja, aber dann kommen wir heute Abend hier nicht mehr weg“, schoss André seinerseits sofort zurück und grinste schon wieder.
Rick schüttelte weiterhin lächelnd den Kopf. „Du kannst das echt gut. Trotzdem hast du mich bisher noch nicht so weit.“
„Aber ich wette, ich hab Chancen.“
Schweigend zuckte Ricky mit den Schultern. Einer guten Wette ging er normalerweise ja nie aus dem Weg. Die hier würde er aber haushoch verlieren. Und wenn er sich auf ein Glücksspiel einließ, dann gab es nur einen Weg da durch – nämlich alles auf Sieg zu setzen.
Um André das aber nicht direkt unter die Nase zu reiben – weil es auch einfach zu verführerisch war, diesen zappeln zu lassen – antwortete er mit einem weiteren Schulterzucken und einem Lächeln.
„Wir werden sehen.“
Damit wandte Ricky sich ab, um sich seine Schuhe und eine Jacke zu holen. Im Augenblick waren die Temperaturen draußen zwar okay, aber wie üblich für Ende April würde es in der Nacht vermutlich deutlich kälter werden.
Das kaum hörbar gemurmelte „Da gibt es so einiges, was ich gern sehen würde“, entging ihm trotzdem nicht. Brachte ihn dafür erneut zum Lächeln – allerdings nicht zum Antworten. Denn es gefiel Ricky viel besser, diesen Mann weiterhin etwas zappeln zu lassen. Und dass ausgerechnet jemand der sich ausgesprochen gut auf diversen Covern machen würde, sich derartig heftig für ihn zu interessieren schien, war zugegeben auch recht schmeichelhaft.
Also schnappte er sich seine Schlüssel und drängte André aus der Tür in Richtung Treppe. Kaum dort angelangt, zuckte Rickys Blick für einen Moment zu dem Nacken, der vor ihm die Stufen nach unten wanderte. Dass André trotz seines Aussehens offenbar kein Model war, hatte er inzwischen herausgefunden. Wohlgemerkt nicht, indem er den gefragt hatte. Das wäre schließlich zu einfach. Und irgendwie auch zu peinlich. Also hatte er sich stattdessen noch Montag Abend vier oder fünf Stunden lang, geradezu verzweifelt durchs Internet und diverse Portale gewühlt. Weil das ja so viel weniger blamabel war. Vor allem stellte es sich als überhaupt nicht hilfreich heraus.
Dieser Mann war online quasi unsichtbar. Denn bei dem Namen André Clavier spuckte die Suchmaschine rein gar nichts aus. Also lief er hier hinter einem Kerl her, der zu gut aussah, um keine auffällige Vergangenheit zu haben, und zu nett war, als dass Rick ihn danach fragen würde. Denn am Ende konnte das schließlich nur das eine oder andere Detail hervorbringen, das besser im Dunkeln geblieben wäre. Hastig schob er den Gedanken beiseite. Heute Abend wollte er sich amüsieren und wo die Nacht hinführen würde, das konnten sie später sehen.
Kaum, dass sie draußen waren, tat André einen Schritt beiseite, um auf ihn zu warten. Ricky hingegen sog erst einmal mit einem tiefen Atemzug die kühler werdende Abendluft ein, um endlich zur Ruhe zu kommen. Die Aufregung in ihm ließ sich so dennoch kaum im Zaum halten. Woher sie auf einmal kam, konnte er selbst nicht sagen. War ja nicht so, als wäre das sein erstes Date. Trotzdem war es eben ihre erste Verabredung. Und von denen hatte er in letzter Zeit nicht sonderlich viele gehabt. Abgesehen von Tim.
Wie automatisch zuckte Rickys Blick zur Bäckerei auf der anderen Straßenseite und er erstarrte. Natürlich stand ausgerechnet der Junge dort. Und der Dackelblick fuhr Rick unerwartet in den Magen. Verdammt! Dabei hatte er Tim in den letzten zwei Jahren doch oft genug gesagt, dass das zwischen ihnen nichts werden konnte. Und ganz sicher war André nicht der erste Mann, mit dem der Junge ihn sah. Trotzdem fühlte es sich diesmal anders an. Und zwar ziemlich beschissen.
Es war ein Fehler gewesen mit Tim auszugehen. Und ein noch viel größerer diese verdammte Wette anzunehmen. Aber jetzt war es zu spät. Und so rang Rick sich lediglich ein kurzes Lächeln samt Nicken ab. Irgendwie würde er das schon wieder geradebiegen können. Es war das Beste – für sie beide. Tim musste endlich einsehen, dass er jemandem in seinem eigenen Alter brauchte. Einen Jungen, mit dem er seine Erfahrungen sammeln konnte.
„Können wir los?“, fragte André leise.
Schnell nickte Ricky: „Wo lang?“
Lächelnd deutete sein Begleiter über die eigene Schulter hinweg. „Ich dachte, wir nehmen den Bus.“
Grinsend setzte Rick sich in Bewegung und drängte die Gedanken an Tim möglichst weit in seinen Hinterkopf zurück. Vielleicht sollte er doch noch mal mit ihm reden. Irgendwie klarstellen, dass er es nur gut gemeint hatte. Und schließlich war diese vermaledeite Wette Tims eigener Vorschlag gewesen. Er seufzte leise und schüttelte kaum merklich den Kopf. Wie auch immer er die Sache mit dem Jungen angehen wollte, es würde mindestens bis morgen warten müssen. Denn für heute hatte er andere Pläne. Und die würde er sich ganz sicher nicht von trüben Gedanken kaputtmachen lassen.
„Richtig. Der Mercedes gehört dir ja gar nicht“, antwortete er schließlich verspätet mit einem Grinsen auf die Bemerkung, dass sie offenbar die öffentlichen Verkehrsmittel heute nutzen würden.
Nun war es an André leise zu lachen, während sie langsam die Straße entlang schlenderten. „Nein, der gehört, wie du mitbekommen hast meinem zukünftigen Schwager. Aber unter der Woche fährt er mit seinem Dienstwagen und da braucht er ihn nicht.“
„Und Marie fährt ihn nicht, weil ...?“
„Simon Angst hat, dass sie ihn um den nächsten Baum wickelt.“
Ricky lachte. „Bist du eigentlich zu allen so fies wie zu deiner Schwester?“
Als André sich zu ihm herüberbeugte, strich warmer Atem über Rickys Hals und ein wohliges Kribbeln begann sich, seinen Rücken entlang auszubreiten. „Zu attraktiven Männern kann ich jedenfalls ausgesprochen nett sein.“
„Und ich falle in diese Kategorie?“
„Oh ja ...“
Die Art und Weise, wie André die Worte raunte, ließ einen weiteren Schauer über Ricky wandern. Genau das Kribbeln, dieses permanente Vibrieren, das seinen ganzen Körper zu erfassen schien. Er liebte das Gefühl. Kein Verliebtsein, aber auch keine reine Geilheit. Irgendetwas dazwischen, was alle Sinne in ihm ansprach – jeden auf seine ganz eigene Weise. Definitiv würde er diesen Abend genießen, denn das war es, was er fühlen wollte, wenn er mit einem Mann ausging. Nicht die Unsicherheit, nicht den Zweifel und schon gar nicht die Sorge, was er einem viel zu jungen Herzen womöglich gerade antat. Dafür diese stille, leise Hoffnung, dass da mehr als nur das Kribbeln kommen würde.
Eine Chance, dass es diesmal eben doch der Richtige war.
↬ ✂ ↫
Schon während der Fahrt zum Restaurant kamen sie schnell ins Gespräch über Gott und die Welt. Also nicht im buchstäblichen Sinne, denn das wäre nun wirklich kein Thema für diesen Abend gewesen. Trotzdem fanden sich irgendwie immer wieder interessante Gesprächsthemen. Nicht zuletzt aus Rickys Filmwahl heraus schien sich ein Ansatzpunkt nach dem anderen zu ergeben. Denn, wie Rick zufrieden feststellen durfte, war André durchaus für Actionfilme zu haben und den Comicverfilmungen, die Ricky selbst so mochte ebenfalls nicht abgeneigt. Obwohl ihre Meinungen zu diversen Superhelden dann doch recht weit auseinanderzuklaffen schien.
„Es kann ja nicht jeder perfekt sein“, stichelte Ricky, als André gerade während ihres Essens erwähnte, dass er Spiderman schon immer etwas hatte abgewinnen können.
„Ah. Also bist du perfekt?“, schoss es sofort aus André zurück. Dieses jungenhafte Grinsen, das er dabei zeigte, hatte Ricky schon den ganzen Abend immer wieder genießen können.
Er lachte und schüttelte leicht den Kopf. Zur Ablenkung nippte er kurz an seinem Wein, bevor er antwortete: „Vermutlich nicht.“
„Und was genau ist nicht perfekt an dir?“, fragte André, weiterhin schmunzelnd.
Einen Augenblick lang überlegte Ricky. So genau hatte er da noch nie drüber nachgedacht. Wer war schon fehlerfrei? Also sah man mal davon ab, dass der Mann, der ihm hier gegenüber saß, zumindest das in seinen eigenen Augen perfekte Aussehen vorweisen konnte. Etwas zu hastig nahm Rick einen weiteren Schluck, um die aufsteigende Verlegenheit zu überspielen.
Wenn er von seinen Beziehungen der letzten fünf Jahre und dem Grund für deren Ende ausging, dann gab es da offenbar einen bestimmten Makel an ihm. Aber den würde er André sicherlich nicht auf die Nase binden. Schon gar nicht, wo der Abend bisher so gut verlaufen war.
„Musst du selbst herausfinden“, gab er deshalb mit einem kurzen Grinsen zurück.
Andrés Antwort kam prompt und ließ mit ihr das Kribbeln in Ricks Bauch wieder anschwellen: „Glaub nicht, das da so einfach etwas zu finden ist.“
„Wir haben alle unsere Fehler.“
Das Lächeln hielt an, während André ihn für einen Moment schlicht anstrahlte. „Ein Freund meinte mal zu mir, dass unsere größten Schwächen für andere als größte Stärke erscheinen können.“
Verwirrt runzelte Ricky die Stirn. „Wie das?“
André zuckte mit den Schultern und lächelte etwas verhalten. „Manchmal sehen wir in uns wohl einen Makel, den niemand sonst erkennen kann.“
Für einen Moment konnte Ricky ihn nur anstarren. Doch je länger er schwieg, desto unangenehmer fühlte sich die Stille an. Zu ernst, zu drückend. Einfach nicht passend dazu, wie gut der Abend bisher gelaufen war. Also drängte er den Gedanken zurück und schaffte es, ein weiteres Lächeln hervorzubringen – ehrlich und tatsächlich nicht erzwungen: „Dann bin ich mal auf deinen ‚Makel‘ gespannt.“
Denn in der Hinsicht hatte er an diesem Abend nicht wirklich etwas bei André erkennen können. Zumindest bisher schien er geradezu die Ausgeburt an Perfektion zu sein – jedenfalls was Rickys Männergeschmack anging. Äußerlich sowieso, aber auch ansonsten machte er einen glattweg netten und zunehmend verführerischen Eindruck.
Ein hinterhältiges Grinsen schlich sich auf Rickys Lippen, als er erneut am Wein nippte und über das Glas hinweg André schelmisch angrinste. „Also abgesehen davon, dass du auf Spiderman stehst.“
„Nicht so sehr, wie auf dich“, schoss André sofort zurück.
Schon konnte Ricky spüren, wie sich seine Wangen erneut erhitzten. Leider ließ sich das nicht auf den Wein schieben, denn von einem Glas war er ganz sicher nicht betrunken.
„Charmant“, murmelte Ricky. Leider war selbiges Glas inzwischen ohnehin leer, so dass er sich nicht einmal mehr daran festhalten und Andrés eindringlichem Blick ausweichen konnte. Jedenfalls nicht unauffällig. Die einzige Ablenkung, die ihm einfiel, war aber der geplante weitere Verlauf des Abends, also lehnte er sich zurück und sah seine Verabredung forschend an: „In welches Kino geht es denn?“
„Ist gleich um die Ecke. Aber wir sollten vermutlich trotzdem langsam mal los. Die Karten müssen rechtzeitig abgeholt werden, damit sie nicht verfallen.“
„Schließlich wollen wir den Film ja nicht verpassen.“
André grinste, während er den Kellner heranwinkte, um zu bezahlen. „Natürlich nicht.“
Da musste auch Ricky grinsen, verkniff sich aber eine Antwort. Schließlich hatte seine Verabredung bereits die ganze Zeit über mehrmals angemerkt, dass er sowohl Film als auch Essen sofort in den Wind schießen würde, falls Ricky sich spontan zu einer anderen Abendunterhaltung entscheiden würde. Und je länger dieses kleine, leider nur verbale Spiel zwischen ihnen lief, desto deutlicher rief in Ricky die Stimme, die sich Andrés Meinung anschließen wollte.
Einzig die Tatsache, dass er sich hier ganz sicher keine Blöße geben und als derartig notgeil dastehen würde, hielt ihn davon ab, André nachzugeben. Den Film konnten sie schließlich auch ein anderes Mal sehen.
Ricky stockte – glücklicherweise nicht buchstäblich, denn inzwischen waren sie auf dem Weg ins Kino. Verstohlen schielte er zu seinem Begleiter hinüber. Hatte er eben ernsthaft darüber nachgedacht den Film sausen zu lassen, um mit diesem Kerl direkt ins Bett zu steigen? Mehr noch, er hatte sogar erwogen, stattdessen ein anderes Mal mit André ins Kino zu gehen.
Ein Kloß begann sich in Rickys Hals zu bilden und allmählich wie ein Stein nach unten in seinen Magen sank. Woher der so plötzlich kam, konnte er auch nicht sagen. Vielleicht daher, dass es eine Sache gab, das Ricky bisher wohlweislich als Gesprächsthema vermieden hatte. Und je länger er genau das hinauszögerte, desto größer wurden seine Befürchtungen dahingehend.
Hastig drängte er den Gedanken zurück. Stattdessen begann er, sich mantraähnlich vorzubeten, dass es ein schöner Abend werden sollte. Genießen und dann weitersehen. Vor allem nicht zu viel drüber nachdenken. Denn sonst würde sein Verstand übernehmen und der hatte in letzter Zeit ziemlich dämliche Ideen. Wie die Verabredung mit Tim. Oder die Wette, auf die er sich mit dem eingelassen hatte.
„Ist irgendwas?“, fragte André mit einem Mal. Die Besorgnis, die dabei in seiner Stimme mitschwang, ließ Ricky förmlich zusammenzucken.
„Nein, gar nichts“, versicherte er hastig. „Ich bin nur schon echt gespannt auf den Film. Wie fandest du den ersten Teil?“ André schien für einen Moment zu erröten und wandte sich dann ab. „Was ist los?“
Etwas beschämt zuckte Rickys Begleiter mit den Schultern. „Okay, ich will ehrlich sein. Ich kannte ihn nicht.“ Irgendetwas klang merkwürdig an dem Satz, aber Ricky konnte nicht sofort den Finger darauf legen. „Deshalb hab ich ihn mir ausgeliehen und heute Morgen geschaut.“
Diesmal stockte Ricky nicht nur im übertragenen Sinne, sondern blieb tatsächlich stehen. „Du hast ihn dir extra noch angesehen?“
„Na ja, es ist der zweite Teil. Ist meistens ziemlich blöd, wenn man den Anfang nicht kennt bei sowas“, gab André mehr als offensichtlich verlegen zu.
Schlagartig begann Rickys Herz härter gegen seinen Brustkorb zu hämmern. Dabei konnte er selbst nicht einmal sagen, warum. Okay, es war ihm durchaus bewusst, dass es daran lag, dass dieser Kerl sich tatsächlich die Mühe gemacht hatte einen ganzen verdammten Film zu schauen. Einen Streifen, der ihn die letzten Jahre null interessiert hatte, nur damit er den heutigen Abend wenigstens einigermaßen genießen konnte.
Scheiße! Es war erschreckend, wie viel Mühe sich André mit ihm zu geben schien. So etwas machte doch keiner, wenn er nicht mehr als nur sexuelles Interesse an einem hatte. Darüber sollte er sich freuen, versuchte Ricky sich einzureden. Tatsache war aber, dass es den Stein in einem Magen noch schwerer werden ließ. Weil er diese beschissene Frage nicht herausbrachte, aus Angst, wie die Antwort lauten würde.
„Was ist los?“, fragte André verwirrt und mit einer Spur Besorgnis in der Stimme. In der nächsten Sekunde kam er dann aufgrund Rickys anhaltendem Schweigen auch noch zu den völlig falschen Schlüssen. „Hey, es tut mir leid“, platzte es aus André heraus. Nervös fuhr er sich durch die braunen Haare. „Denk jetzt bitte nicht, dass ich irgend so ein Irrer bin, der ... keine Ahnung. Ich wollte nur nicht wie der letzte Vollidiot dastehen, falls ein Gespräch über den Film aufkommt.“
„Du ... gibst dir so verdammt viel Mühe. Dabei kennen wir uns doch nicht mal“, murmelte Ricky, nun seinerseits mindestens ebenso verlegen, wie André aussah.
Der zuckte mit den Schultern. „Was soll ich sagen? In eurem Laden bist du mir nur optisch aufgefallen, aber unser Gespräch im Rush-Inn ... Na ja, ich fand dich echt nett. Und ... Ich wollte den Abend hier nicht versauen. Das ... habe ich jetzt aber wohl doch geschafft. Oder?“
Wieder fuhr André sich durch die Haare und Ricky musste grinsen, als die plötzlich wild vom Kopf abstanden und den Mann damit nicht nur etwas jünger, sondern auch ein Stück ... weniger perfekt aussehen ließen.
„Wieso sehen wir uns nicht erstmal den Film an und ich antworte dir danach?“, gab Rick deshalb grinsend zurück.
Erleichtert und zufrieden nickte André und deutete dann ein Stück die Straße runter. „Nach dir.“
Doch Ricky lief nicht los, grinste stattdessen schelmisch. Schon konnte er die Verwirrung in den graublauen Augen aufsteigen sehen. Da schossen mit einem Mal seine Hände vor und er packte André am Kragen seiner Jacke. Bevor der dazu kam sich zu wehren oder überhaupt irgendwie zu reagieren, legten sich Rickys Lippen auch schon auf die seinen.
Es war ein eher ungelenker und wenig glamouröser erster Kuss. Definitiv nicht die Kategorie, an die man sich noch Jahre später erinnern würde, weil sie einem das Hirn weggefegt hätte. Das änderte sich allerdings rasch, als André seine Überraschung überwand und nun seinerseits Rickys Kopf geradezu sanft zwischen seine Hände nahm. Und so war es tatsächlich der zweite Kuss, der direkt auf den ersten folgte, welcher kurz darauf die Synapsen in Ricks Hirn durchbrennen lies.