Die nächsten zwei Wochen hielt Ricky sich vom Rush-Inn fern. Nur zu gern hätte er wenigstens mal auf ein Bier bei Alex vorbeigesehen, aber die Sorge, dabei am Ende auf diesen Blödmann André zu treffen hielt ihn zurück. Obwohl das völlig irrational war, denn mit dem müsste er dort ja schließlich nicht reden. Etwas, was Ricky sich vorgenommen hatte, auch im Laden seiner Tante nicht zu tun. Um genau zu sein, hatte er sich dafür entschieden André, sollte der tatsächlich wieder hierher trauen, geflissentlich zu ignorieren.
Wobei Ricky ehrlicherweise hoffte, dass das nicht nötig sein würde und der Idiot sich bei den nächsten Terminen nicht mehr hier blicken lassen würde. Vielleicht stand der Kerl ja zumindest auf diese eine Tradition, dass der Bräutigam das Kleid vorher nicht sehen sollte. Von gewissen anderen – von wegen Treue und Liebe und dem ganzen Zeug – schien er ja nicht viel zu halten.
Schnaubend legte Ricky das Werkzeug beiseite und fuhr sich durch die dunkelblonden Haare. Sein funkelnder Blick wanderte zu dem Kleid hinüber, das auf einer der Kleiderpuppen weiter links stand. Maries Auftrag war noch lange nicht fertig, aber die Stoffteile waren weitestgehend zugeschnitten und von Annabell vernäht worden. Sie war gerade dabei am Tisch die Teile für eines der Brautjungfernkleider zu schneiden, als plötzlich die Glocke an der Eingangstür läutete und beide überrascht aufblickten.
„Haben wir heute Termine?“, fragte Annabell leise, scheinbar genauso unsicher, wie Ricky.
Er zuckte mit den Schultern. Seine Tante war unterwegs um beim Großhändler weitere Stoffbahnen zu besorgen und hatte nichts davon gesagt, dass jemand vorbeikommen würde. Laufkundschaft war zwar selten bei ihnen zu Gast, aber es gab immer wieder spontan entschlossene Kunden, die nur zu gern eines der Ausstellungsstücke günstig kaufen wollten.
„Ich geh schon“, bemerkte Ricky mit einem Lächeln und deutete auf den Schneidetisch. „Mach du ruhig weiter.“
Kaum hatte er den Verkaufsraum betreten, blieb er jedoch schon wie versteinert stehen.
‚Verdammt! Was macht die denn hier?‘
Das falsche Lächeln schob sich dennoch wie automatisch auf seine Lippen, als die junge Frau fröhlich und gut gelaunt auf ihn zu hüpfte. Irritiert stellte er fest, dass das wirklich der einzige Ausdruck war, der ihm zu dieser Bewegungsform einfiel.
„Rick! Ich freue mich ja so, dass Sie diesmal da sind“, rief sie auch schon überschwänglich.
Sofort zuckten Rickys Augen zur Tür in Maries Rücken. Dort war aber bisher niemand zu sehen, was ihn zu einem erleichterten Luftholen trieb. Wenigstens würde dieser blöde Kerl ihn nicht schon wieder ablenken.
„Marie“, begrüßte er sie deshalb freundlich und deutete auf einen der Sessel, in dem es sich die Kunden bequem machen konnten. „Was führt Sie denn hierher?“
Überrascht legte sie den Kopf schief. „Die Anprobe natürlich.“
Verwundert trat Rick sofort zum Terminkalender hinüber. Helena hatte gar nichts erwähnt, dass sie heute eine Anprobe hätten. Nach einem kurzen Blick stellte er fest, dass der Termin tatsächlich auch erst für den folgenden Tag eingetragen war. Lächelnd sah er zu Marie. Die war nun einmal hier und sie wegzuschicken wäre reichlich unhöflich – und zudem auch unnötig, da das Kleid grundsätzlich zur Anprobe bereit war. Selbst wenn noch ein paar Sachen fehlten, würden sie alles notwendige heute genauso wie morgen erledigen können.
„Stimmt etwas nicht?“, fragte sie auch schon mit besorgtem Blick nach.
„Nein. Natürlich nicht. Alles okay“, beeilte er sich zu versichern. „Ich sage nur kurz Bescheid. Es wird einen kleinen Moment dauern.“
Eilig drehte er sich herum und lief zurück ins Arbeitszimmer, wo Annabell neugierig aufsah, kaum dass er eingetreten war. „Und?“
Er deutete auf das Kleid. „Entweder Tante Helena hat den Termin falsch eingetragen oder die Kundin. Fräulein Clavier ist da für die Anprobe“, erklärte er rasch. „Ist es so weit fertig, dass sie es anziehen kann?“
Sofort legte Annabell Schere und Schneider in die dafür vorgesehene Kiste. „Zwei Minuten, dann sollte es so weit sein. Ich bringe es in die Umkleide. Du kannst sie einfach reinschicken, Richard.“
Er lächelte dankbar, trotzdem sie ihn mal weiterhin so nannte, und nickte. „Danke, Annabell.“
Erleichtert, dass trotz des unerwarteten Besuchs der Nachmittag gerettet zu sein schien, ging er zurück in den Verkaufsraum. Als die Glocke an der Eingangstür erneut läutete, rechnete Ricky schon damit, dass seine Tante gerade rechtzeitig zurückkam, um ihm bei dem Termindesaster beizustehen. Als seine Augen zur Tür zuckten, sackte ihm jedoch das Herz ein weiteres Mal schlagartig zu Boden.
‚Warum kann diese Frau eigentlich nicht alleine herkommen?!‘
Trotzdem rang er sich ein vermutlich reichlich gequält wirkendes Lächeln ab. André sagte nichts, kam aber auch nicht wirklich näher. Wahrscheinlich war es das Beste, was Rick erwarten konnte. Immerhin war sein eigener Abgang aus dem Rush-Inn bei ihrem letzten Aufeinandertreffen nicht gerade höflich gewesen.
Um der Peinlichkeit zu entgehen, führte er Marie rasch in Richtung des Umkleideraums, wo Annabell wie versprochen inzwischen das Kleid samt Kleiderpuppe aufgebaut hatte. Kaum fielen Maries Augen auf das noch sehr unfertige Werk, fing sie bereits an zu quietschen. Wenn die Begeisterung bei diesem mehr als dürftigen Zwischenstand schon so groß war, durfte Ricky für das fertige Kleid vermutlich mit einem Hörsturz rechnen.
Schmunzelnd ließ er die beiden Frauen allein und ging zurück in den Verkaufsbereich. André stand weiterhin neben dem Eingang herum, fast so als würde er sich nicht nähertrauen. Irgendwie sah das merkwürdig aus, denn der Kerl machte eigentlich nicht den Eindruck, dass er sonderlich schüchtern oder durch eine simple, wenn auch mehr als berechtigte, Abfuhr zu beeindrucken wäre.
Das anhaltende Schweigen war bedrückend. Immer länger schienen sich die Minuten zu ziehen, während Ricky krampfhaft versuchte, sich zu entscheiden, ob er etwas sagen sollte oder womöglich lieber in den Arbeitsraum ging, um mehr Abstand zwischen ihnen zu schaffen. Nach einer gefühlten Ewigkeit, war Rick kurz davor, doch zu André hinüber zu gehen, um dem wenigstens etwas zu Trinken anzubieten. Genau in dem Moment öffnete sich endlich die Tür zum Umkleideraum. Barfuß und von einem Ohr zum anderen grinsend hüpfte Marie förmlich auf ihn zu.
„Es ist so wunderbar!“, quietschte sie entzückt und lief, sich wie ein kleines Mädchen drehend, immer wieder den kurzen Gang in ihrem Verkaufsbereich auf und ab. Ein zufriedenes Lächeln legte sich auf Rickys Lippen, während er sie beobachtete. Dabei war das Kleid nicht einmal ansatzweise fertig. Ganz zu schweigen von den Zusatzarbeiten, die noch zu erledigen waren, wie das Anbringen der Applikationen und Perlen, die Marie sich gewünscht hatte.
„Es ist doch einfach bezaubernd, nicht wahr, André?“, rief sie begeistert, als sie schließlich vor einem großen Spiegel hielt und sich darin von allen Seiten betrachtete. „Mama und Papa werden es lieben. Das wird der schönste Tag in meinem Leben.“ Verträumt blickte sie sich selbst im Spiegel an. Vermutlich sah sie ihre Version vom fertigen Kleid, denn das, was dort tatsächlich zu sehen war, hatte mit ihrem Traum hoffentlich noch nicht allzu viel zu tun.
„Genau so soll es ja sein“, murmelte Ricky mit einem sanften Lächeln.
Das verging ihm jedoch schnell, als er einen vorsichtigen Blick zu Maries Begleiter wagte. Die Teilnahmslosigkeit, mit der dieser weiterhin im vorderen Teil des Ladens stand und jeden Blickkontakt mied, stach ihm förmlich ins Herz. Klar, das Kleid war nicht fertig und es definitiv nur einer recht blühenden Vorstellungskraft seiner Kundin zu verdanken, dass sie in dem halbwegs fertiggestellten Schnitt bereits ihr Traumkleid zu erkennen schien. Aber wenigstens seiner Zukünftigen zuliebe könnte er schon etwas mehr Interesse zeigen. Oder etwa nicht?
Mit einem zugegeben recht niedlichen Schmollmund, drehte Marie sich in genau dem Moment herum und starrte ihren Begleiter trotzig an. „Jetzt sag halt auch mal was, André!“
Der trat nun doch einen Schritt auf sie beide zu. Mit den Händen in den Hosentaschen zuckte er geradezu verlegen mit den Schultern und murmelte: „Es ist hübsch, Prinzessin.“
Mit in die Hüften gestemmten Fäusten stapfte Marie mit einem Mal auf André zu und baute sich direkt vor ihm auf. „Jetzt beiß dir bloß nicht die Zunge ab und steuer hier gefälligst auch endlich mal was bei“, fauchte sie trotzig und offensichtlich nun doch wütend zurück.
Ricky konnte sich ein Grinsen über das geradezu absurde Schauspiel nicht verkneifen.
„Was soll ich da denn sagen? Es ist ein Kleid. Und noch nicht mal fertig. Hübsch. Ja. Mir würde es sicherlich schlechter stehen als dir“, keifte André nun seinerseits sauer zurück.
„Manchmal bist du so ein Blödmann!“, zischte nun Marie.
Ricky musste sich derweil beherrschen, um nicht zu grinsen – jedenfalls nicht mehr, als ohnehin schon. Aber wie Marie mit ihrem mindestens einen Kopf kleineren, deutlich zierlicheren Körper vor André stand und den gerade in Grund und Boden starrte, war beinahe zu amüsant. Zumal sie dem Kerl endlich die Meinung sagte, anstatt diesem andauernden Desinteresse weiter schweigend zuzustimmen.
„Jetzt zeig halt mal deinen Modegeschmack und sag, wie du es findest!“, giftete sie ihn erneut auf. Vermutlich um der Forderung weiteren Nachdruck zu verleihen, trat sie einen Schritt zurück und drehte sich im Kreis, damit André das Kleid auch ja von allen Seiten sehen konnte.
Der seufzte und zuckte mit den Schultern. „Mein Gott, Marie, ich hab keine Ahnung von Mode. Und dir im Übrigen von Anfang an gesagt, dass es eine saudämliche Idee ist, mich anstatt irgendeine von deinen nervigen Freundinnen mitzunehmen.“
Ricky erstarrte. Irgendwie lief hier gerade gewaltig etwas schief. So amüsant es war, dass Marie dem Blödmann endlich die Meinung sagte, sollte das hier doch bitte nicht zu weit gehen. Hilfesuchend wanderten seine Augen in Richtung Umkleide, wo auch Annabell bereits mit zunehmend besorgtem Blick dem Schauspiel folgte. Irgendwas mussten sie unternehmen. Seine Kleider waren schließlich dazu da, eine Verbindung zwischen zwei Menschen zu feiern – und nicht dafür, sie im Streit auseinandergehen zu lassen.
„Entsch...“, setzte er bereits an, aber Marie war schneller.
„Ach, Mann! Du bist so doof. Wozu hab ich denn bitte einen schwulen großen Bruder, wenn der mir nicht mal bei meinem Brautkleid helfen kann?“, keifte sie in diesem Moment zurück.
„Wie bitte?“, rutschte es Ricky raus, bevor er sich bremsen konnte.
André ächzte und fuhr sich durch die Haare. Dann fauchte er deutlich angepisst zurück: „Boah, echt jetzt? Du kommst mir mit so einem dämlichen Klischee? Das Kleid sieht super aus – auch wenn es vermutlich nicht mal ansatzweise fertig ist. Es wird bestimmt ganz toll glänzen und verflucht viel Geld kosten. Genau, wie du es wolltest. Simon wird es hervorragend gefallen. Mama und Papa sowieso. Aber für die könntest Du im Kartoffelsack heiraten, es wäre egal. Es wird demnach alles perfekt sein.“
„Na also! Geht doch!“ Strahlend quietsche Marie und fiel André um den Hals. Nach einem kurzen Kuss auf die Wange hüpfte sie zufrieden zurück zum Spiegel.
Ricky stand weiter wie versteinert da und hatte keine Ahnung, was er sagen – oder auch nur denken – sollte. Stattdessen starrte er Marie hinterher, wie die mit einer zufrieden lächelnden Annabell in er Umkleide verschwand, um das Kleid wieder auszuziehen. Und hoffentlich gleich ein paar der Detailfragen der Applikationen zu klären, die er für die Anprobe notiert hatte.
„Tut mir leid“, murmelte es mit einem Mal neben Ricky und ließ diesen zusammenfahren.
„Was?“
„Wegen letztens“, nuschelte André, offenbar reichlich verlegen. Als Ricky zu ihm sah, wanderten die blaugrauen Augen vermutlich gerade durch den ganzen Laden, aber immer möglichst weit weg von ihm selbst. „Ich war wohl zu aufdringlich. Entschuldige.“
Verwirrt runzelte Ricky die Stirn, fand aber weiterhin keine Worte.
Wieder seufzte André leise und schaffte es schließlich, ihn tatsächlich anzusehen: „Ich bin wohl ebenso nicht frei von Klischees. Aber ... Na ja. Du arbeitest hier, die Art, wie du bei unserem ersten Besuch geschaut hast ... Und dann warst du auch noch im Rush-Inn. Ich dachte halt ... Tut mir leid.“
„Du ... bist ihr Bruder?“, platzte es doch endlich mit reichlich fiepsiger Stimme aus Ricky heraus.
„Ja klar. Was denn sonst?“ Einen Moment lang sah André ihn verständnislos an, dann dämmert es offenbar. „Oh! Ah! Echt jetzt?“
Der kurzzeitig angewiderte Ausdruck verwandelte sich schlagartig in ein lautes Lachen, das Rick durch Mark und Bein fuhr. So heiß glühend, wie sich sein Kopf daraufhin anfühlte, dürfte er gerade leuchten wie ein Signalmast. Woher hätte er denn bitte wissen sollen, dass der Kerl nicht Maries Verlobter war?
Darum bemüht, das Lachen zu unterlassen, streckte der Blödmann ihm schließlich die Hand entgegen: „Wie wäre es, wenn wir das noch mal probieren? Mein Name ist André und ich habe garantiert nicht vor, die Irre da hinten zu heiraten.“
Jetzt konnte sich Ricky ein eigenes Lächeln doch nicht mehr verkneifen. War ja schon irgendwie witzig – auf eine reichlich verquere und verflucht peinliche Art und Weise. Mit einem kurzen Lachen ergriff er die Hand und schüttelte sie.
„Rick. Immer noch. Und ... es tut mir auch leid. Wegen letztens.“
Nach einem kurzen Seitenblick in Richtung Umkleidebereich drehte André sich nun wieder ganz zu ihm herum. Das etwas schüchterne Lächeln schien erneut nicht so recht zu einem Mann wie ihm zu passen. Trotzdem konnte Rick sich nicht gegen das leichte Kribbeln in seinem Bauch wehren.
„Nachdem das jetzt geklärt ist“, meinte André vorsichtig. „Würde ich meine Einladung von neulich gern wiederholen.“
„Ein...ladung?“
„Essen, Kino ...“ Irgendwie klang die Aufzählung nicht vollständig. Und Ricky war mit einem Mal nicht sicher, ob es eine gute Idee war, sich auf den Bruder einer Kundin einzulassen. Andererseits hatte er sich schließlich schon ausgezeichnet mit André unterhalten, als er noch dachte, dass er unerreichbar wäre. Was sprach also dagegen? Es konnte zumindest ein schöner Abend werden.
‚Oder mehr ...‘
Die Tatsache, dass der Kerl ihn weiterhin hoffnungsvoll anlächelte, hatte ganz sicher nichts mit Rickys Antwort zu tun. Genauso wenig wie das zunehmende Kribbeln an seiner Lendenwirbelsäule, während er in die so verheißungsvoll hungrigen Augen blickte. Ganz sicher sah er sich nicht schon das so verflucht eng anliegende Poloshirt nach oben schieben. Und definitiv schlug sein Herz nicht schneller, weil das zunehmende Pulsieren in seinem Körper danach verlangte, dass André seine Aufzählung fortsetzte.
‚Na gut, vielleicht. So ein ganz kleines bisschen.‘
Es wäre schließlich ausgesprochen unfair, wenn er dem Mann nicht wenigstens eine Chance geben würde. Oder? Außerdem hatte er sich doch vorgenommen, diesmal deutlicher hinzusehen. Das ging ja nun wirklich nicht, wenn er jedem Date einfach absagte. Und es sagten ihm schließlich auch in letzter Zeit ständig irgendwelche Leute, dass er öfter ausgehen müsste, um wieder jemanden zu finden. Helena, Annabell, sogar Alex. Alle älter als er. Alle mit deutlich mehr Lebenserfahrung. Man soll doch auf die Weisheit des Alters hören. Oder nicht? Vermutlich würde Alexander ihm für den Spruch eine runterhauen, aber hey, der Mann war trotzdem bald dreißig ...
„Okay.“
„Super!“ André strahlte förmlich, was einen weiteren – gefühlten – Liter Blut in Ricky nach unten sacken ließ. „Worauf stehst du?“
Da hätte er jetzt ausgesprochen gern drauf geantwortet. Dummerweise wäre die Antwort wenig jugendfrei gewesen. Und das wiederum war angesichts der Tatsache, dass Annabell nur eine Tür entfernt war, vielleicht nicht ganz die passende Antwort. Ob André etwas davon ahnte oder sein Grinsen einfach so direkt ein paar Zentimeter breiter zu werden schien, konnte Rick nicht beurteilen. Es spielte aber auch keine sonderlich große Rolle. So oder so führte besagtes Grinsen recht schnell dazu, dass es trotz der nur achtzehn Grad Außentemperatur hier drinnen plötzlich verflucht heiß wurde.
„Welche Filme magst du?“, fragte André weiterhin grinsend nach, als Ricky sich weiterhin nicht zu einer Erwiderung durchgerungen hatte.
„Action?“
„Ist das eine Frage oder eine Antwort?“
„Ja?“
André grinste. Dann stand er in der nächsten Sekunde direkt vor ihm und lehnte sich herüber. Warmer Atem, der über seine Wange strich und noch mehr Feuer durch seine Adern schoss: „Es ist wirklich amüsant, wie du hier das Unschuldslamm spielst, Ricky. Aber ich hätte jetzt echt gern eine Antwort. Bevor ich mich dazu verleitet sehe, dich direkt mitzunehmen, um rauszufinden, was sich so alles hinter der hübschen Fassade versteckt.“
„Pizza und ab Donnerstag läuft ‚Guardians of the Galaxy 2‘ im Kino“, platzte es aus ihm raus, bevor er sich bremsen konnte. Erst als die Worte förmlich in seinem Schädel nachhallten, verzog Rick das Gesicht und schloss die Augen. Was Besseres als eine Comicverfilmung war ihm natürlich nicht in den Sinn gekommen. Schon sah er jede noch so kleine Chance schwinden.
André trat jedoch lediglich zufrieden grinsend zurück. „Am Donnerstagabend muss ich arbeiten. Freitag. Ich seh, dass ich Karten fürs Kino bekomme. Vorher oder hinterher essen?“
Rick überlegte einen Moment. Die sachliche Art gefiel ihm, auch wenn der Kommentar, dass André an einem Donnerstag, noch dazu abends, arbeiten musste, ihm zu denken gab. Vielleicht sollte er fragen, was der Mann von Beruf war. Aber im Augenblick hatte er weder die Hirnzellen dafür frei, noch wollte er es wirklich wissen.
„Vorher.“
„Dann achtzehn Uhr“, fuhr André weiterhin lächelnd fort. „Soll ich dich abholen oder gibst du mir deine Nummer, damit ich dir eine Adresse schicken kann?“
Diesmal musste Rick nicht überlegen. Sofort streckte er seine Hand aus und fand wenige Sekunden später ein entsperrtes Handy darin wieder. Seine Nummer war entsprechend schnell gespeichert. Als er André das Gerät zurückgab, zeigte sich auch auf seinen eigenen Lippen ein zufriedenes Lächeln.
„Du kannst mich trotzdem abholen.“ Dann deutete er mit dem Finger Richtung Decke. „Ich wohne da oben.“
André grinste und nickte, während er das Handy einsteckte. Nach einem weiteren kurzen Seitenblick, der einmal von Kopf bis Fuß über Ricky hinweg wanderte, trat er in Richtung Umkleide.
„Wie lange dauert das denn, Prinzesschen? Ich hab auch noch andere Sachen zu tun!“
Beinahe umgehend steckte Marie ihren Kopf heraus und musterte ihren Bruder mit finsterer Miene. „Du hast gesagt, du hast heute frei. Also weshalb bitte die Eile?“, keift sie ihn angriffslustig an.
„Andere Menschen haben auch ein Privatleben und ich noch ... Dinge ... zu erledigen. Los jetzt!“, maulte André seinerseits zurück.
Schlagartig fragte Ricky sich, wie er jemals hatte annehmen können, dass die beiden ein Paar wären. Allerdings musste er zugeben, dass sie diese Streiterei bei ihrem ersten Besuch nicht gezeigt hatten.
„Seit wann hast du ein irgendwie bedeutungsvolles Privatleben?“
„Seit gestern. Beweg dich, oder du kannst sehen, wie du nach Hause kommst.“
„Es ist Simons Auto!“, keifte Marie zurück.
Mit einem geradezu diabolischen Grinsen, das Ricky erschreckend sexy fand, zog André die Autoschlüssel aus der Hosentasche. „Und er hat mir die Schlüssel gegeben. Nicht grundlos, wie wir beide wissen.“
Maries Blick verfinsterte sich in einem Maße, dass es einem normal denkenden Menschen – insofern auch Ricky – Angst und Bange werden konnte. „Du bist der mieseste große Bruder der Welt.“
„Und du die undankbarste kleine Schwester. Also zieh dich endlich um, oder komm halt so raus. Kann ja nicht so lange dauern, ein Kleid auszuziehen.“
Maries Lippen waren nurmehr ein schmaler Strich, aber diesmal schwieg sie und verzog sich zurück in den Umkleideraum. Auch wenn Ricky André insgeheim zustimmte, dass dessen Schwester schon reichlich lange dort drinnen war. Allerdings hatte ihnen beiden das auch die Gelegenheit gegeben sich ... zu verabreden.
‚Oh, Mann!‘
Er hatte tatsächlich eine Verabredung mit diesem Unterwäschemodel. Und das auch noch einfach so. Quasi nebenbei erledigt. Ganz zu schweigen, von dem weiterhin anhaltenden leichten Kribbeln, das seinen Körper von oben bis unten zu fluten schien.
„Habt ihr ... eigentlich ein Problem miteinander?“, fragte Ricky dennoch vorsichtig nach.
„Problem?“ Verwundert sah André ihn an. „Nein. Wie kommst du da drauf?“
Für eine Sekunde wusste Rick schon wieder nicht, was er sagen sollte. Unsicher deutete er zum Umkleideraum. „Na ja. Der Ton, ist nicht gerade ...“
André schien einen Moment drüber nachzudenken, dann zeigte er grinsend die Schultern. „Entschuldige. Das ist nicht so, wie es klingt“, gab er etwas verlegen zu. „Nein, wir haben wirklich kein Problem miteinander. Das ist ... weiß auch nicht. Wir waren schon immer so.“
In dem Moment kam Marie endlich aus der Umkleide und hüpfte auf sie zu. „Vielen Dank, Rick!“, flötete sie zufrieden und wieder gut gelaunt.
„Du bezahlst den Mann“, murrte André und verdrehte die Augen.
„Na und? Du willst ihn garantiert vö...“
Bevor Marie dazu kam den Satz zu beenden, hatte ihr Bruder sie bereits am Arm gegriffen und zog sie hinter sich her in Richtung Ausgang. „War nett, Sie wiederzusehen Rick. Aber wir müssen jetzt los.“
„Hey!“, protestiert Marie, konnte sich gegen den eisernen Griff an ihrem Arm aber nicht wehren.
Ein paar Sekunden später saß sie in dem schicken Mercedes und André schlug die Beifahrertür zu. Er drehte sich noch einmal kurz Rick um, der den beiden Geschwistern bis zum Ladeneingang gefolgt war. Für einen Moment dachte er, André würde etwas sagen. Aber stattdessen wanderte nur dessen mehr als eindeutig interessierter Blick völlig unverhohlen über ihn hinweg.
‚Wie hast du jemals glauben können, dass der hetero ist und Marie heiraten will?!‘
Der Mann wollte ganz sicher nicht nur ins Kino und etwas Essen. Der wollte deutlich mehr. Sowas von. Aber Ricky ging es im Moment nicht viel anders. Warum zum Teufel war heute erst Montag?