Als er die kleine Kapelle betrat, hatte Ricky das Gefühl, als würden seine Augen zu glänzen beginnen. Dabei war das Gebäude kaum geschmückt. Trotzdem wirkte es wie aus einem Märchen. Kein Wunder, dass Marie sich für diese Location entschieden hatte. Es passte einfach alles zu ihr und diesen mädchenhaften Vorstellungen, die sie für ihr Kleid gehabt hatte.
„Es ist perfekt“, flüsterte er leise.
„Was meinst du?“, fragte André, während er ihn mit sich weiter nach vorn zog, zu den wenigen Sitzplätzen, die das Gebäude seinen Gästen bot.
„Das Kleid“, wisperte Ricky aufgeregt mit einem breiten Grinsen zurück. „Es wird perfekt hierher passen.“
André lächelte. „Ich bin sicher, es würde überall gut aussehen.“
„Nein!“, widersprach Ricky schnell und schüttelte heftig den Kopf. „Das Sonnenlicht fällt durch die Buntglasfenster genau auf die Stelle vor dem Altar“, erklärte er aufgeregt und deutete nach vorn, wo ein kaum wahrnehmbares Farbspiel auf dem verblichenen roten Teppich zu sehen war.
„Und?“, fragte André offensichtlich irritiert.
„Die Verzierungen werden das Licht reflektieren. Es wird ...“
„In allen Farben leuchten“, ergänzte André grinsend. „Genau, wie sie es wollte.“
Ricky grinste und nickte heftig. In seiner Vorstellung konnte er es bereits vor sich sehen. Dass er tatsächlich die Chance erhalten würde, es live zu erleben, ließ sein Herz sofort schneller schlagen. Ricky hatte sich schon lange gewünscht, eines seiner Kleider bei einer Hochzeit sehen zu können. Aber das hier schien die absolute Perfektion zu sein, was das betraf.
„Dann lass uns hoffen, dass keine Wolken aufziehen“, gab André feixend zurück.
Ricky zog einen Schmollmund und knuffte seinen Begleiter in die Seite. „Sei nicht so fies zu deiner Schwester.“
Da wurde Andrés Grinsen noch breiter und er beugte sich zu ihm hinüber, bis er Ricky ins Ohr flüstern konnte: „Es ist nicht Marie, zu der ich fies sein will.“
Schon konnte er die Hitze in seine Wange steigen fühlen. Dabei wusste Ricky genau, dass André Witze machte. Denn wirklich gemein konnte der vermutlich gar nicht sein. Jedenfalls hatte er auf bisher nicht diesen Eindruck erweckt. Trotzdem warf Ricky seinem Begleiter einen misstrauischen Blick zu, bevor er ihn ein weiteres Mal in die Seite zwickte.
„Ich besorg mir noch ein eigenes Zimmer“, murmelte Ricky verhalten, weil ihm keine bessere Erwiderung einfiel.
„Alles ausgebucht“, raunte André und ließ damit schon wieder die Hitze in Rickys Wangen aufsteigen.
„Oh mein Gott!“, rief es da mit einem Mal hinter ihnen.
Überrascht fuhr Ricky herum und sah sich einer breit grinsenden Frau gegenüber, die Andrés Mutter sein musste. Zumindest hatte sie das gleiche freundliche Lachen, dieselben blaugrauen Augen, und die Nase hatte André definitiv ebenso aus einem identischen Genpool erhalten.
„Sie sind bestimmt der Designer von Maries Kleid. Ich war eben bei ihr. Es ist ja so was von einem Traum. Also wenn ich noch mal jung wäre. Und heiraten wollte. Ich würde ja sterben für so ein Kleid. Wobei ...“
„Jetzt hol doch mal Luft, Lissy!“, grummelte es genervt von der Seite. Als Ricky den Blick dorthin wandte, trat ein freundlich lächelnder Mann Ende fünfzig neben sie. „Pierre Clavier. Meine Frau Elisabeth. Wir sind offensichtlich die Eltern der Braut.“
„Ri...chard Hansen“, antwortete er, etwas überfahren von dem Auftritt der Brauteltern. Dass die damit auch noch die Eltern von eben dem Mann waren, den Ricky eigentlich als Verabredung hierher begleitete, machte die Sache nicht unbedingt besser.
„Oh, Sie haben ja so ein wundervolles Talent, Herr Hansen“, flötete Andrés Mutter unbeirrt weiter. „Das Kleid ist ein Traum. Ganz ehrlich.“
„Lissy ...“, stöhnte ihr Ehemann erneut. „Jetzt lass den armen Mann in Ruhe.“
„Was? Wieso? Es ist ja wohl selbstverständlich, dass ich ihm meinen ...“
Weiter kam sie nicht, denn schon schob Andrés Vater sie am Arm den Gang entlang in Richtung des Altars. Ganz offensichtlich hatte er entschieden, dass er hier mit guten Worten nichts erreichen würde.
Wie erstarrt stand Ricky da und wusste nicht so recht, was er sagen oder tun sollte. Als sich mit einem Mal, eine kräftige Hand auf seine Schulter, legte, zuckte er entsprechend überrascht zusammen.
„Sie ist nicht ganz so unheimlich, wie es wirkt“, flüsterte André ihm ins Ohr.
Vermutlich sollte es beruhigend wirken, tatsächlich war sich Ricky nicht sicher, was er im Augenblick fühlen müsste. Verängstigt war er eher nicht. Im Gegenteil. Die offene und freundliche Art von Andrés Mutter hatte ihn zwar etwas überfahren, aber letztendlich zeigte sie recht deutlich, woher seine Begleitung den Charme geerbt hatte.
„André! Lass Herrn Hansen in Ruhe“, rief es in diesem Moment lautstark quer durch die kleine Kapelle.
„Ja, Mama“, gab dieser maulend zurück und zog den Arm von Rickys Schulter. Jedoch nicht ohne sich erneut zu ihm hinüber zu beugen und zu flüstern. „Zumindest vorerst.“
In diesem Moment betraten weitere Leute die kleine Kapelle und sahen sich neugierig um. „Ah, André. Da bist du ja. Und Sie dürften wohl der junge Mann sein, von dem Marie ununterbrochen schwärmt.“
„Ich ... also ...“, stammelte Ricky irritiert und blickte hilfesuchend zu seinem Begleiter.
„Simon Nierheim. Der zukünftige Ehemann“, stellte sich stattdessen der Neuankömmling vor und reichte Ricky breit grinsend die Hand. Er erstarrte erst recht und wusste für einen Moment überhaupt nicht mehr, was er sagen sollte. „Ach ja. Ich glaube, du hast meine Eltern auch noch nicht getroffen, oder André?“
„Nein. Freut mich sehr, Sie kennenzulernen“, antwortete dieser schnell und reichte dem etwas älteren Ehepaar, das gut gelaunt hinter Simon auf sie zutrat die Hand.
„Ach bitte nicht so förmlich“, winkte Herr Nierheim lachend ab. „Irgendwie sind wir in ein paar Minuten dann ja wohl eine Familie. Auf mein Junge. Es wird ernst.“
Glücklicherweise schien niemand eine Antwort von Ricky zu erwarten, denn der stand wie angewurzelt da und wusste nicht so richtig, ob er nicht doch lieber davonlaufen wollte.
„Nierheim?“, fragte er heißer in Andrés Richtung. „Wie in die Familie von Nierheim?“
„Ja“, antwortete der lapidar. „Simon ist ein echt netter Kerl. Überhaupt nicht abgehoben oder so. Du wirst ihn mögen, wenn du ihn erst einmal näher kennst.“
„Näher kennen?“, quietschte Ricky gequält. „Den von Nierheims gehört die halbe Innenstadt. Sie sind vermutlich die vermögendste Familie im ganzen Umland!“
André grinste. „Ja, und das Tolle ist, dass Simon deshalb nicht einmal über Geld nachdenken musste, als er Marie freie Hand für diese Hochzeit gab. Ansonsten wäre sie nämlich vielleicht nie in deinem Laden aufgeschlagen.“
Rickys Atem stockte erneut. Dann hätte er André womöglich niemals kennengelernt. Ein beunruhigender Gedanke. Die warme Hand, die sich kurz darauf an Rickys unteren Rücke legte, um ihn zu ihren Plätzen zu führen, half jedoch, da nicht weiter drüber nachzudenken – wenigstens vorerst nicht. Wenn das zwischen ihnen wirklich funktionierte, dann würde Ricky sich irgendwann bei Simon und Marie dafür bedanken müssen. Aber vorerst war der Gedanke daran, dass Andrés Schwester dabei war, in seinem Kleid, in eine der wohlhabendsten Familien der Stadt einzuheiraten, gelinde gesagt beängstigend.
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Die Trauung war ein Traum. Nicht nur für Marie, die von einem Ohr zum anderen strahlte, sondern mindestens ebenso für Ricky. Er saß mit André zusammen in der zweiten Reihe und konnte sich gar nicht sattsehen an dem dezenten Funkeln und Glitzern, das das Kleid bei jeder noch so kleinen Bewegung erstrahlen ließ.
Genau wie Ricky vorhergesagt hatte, führte das durch die Buntglasfenster gefärbte Sonnenlicht dazu, dass kleine Funken und Regenbogen über das ansonsten dezent cremeweiße Kleid hinweg. Ein feenhaftes Glitzern, wie er es nicht besser hätte hinbekommen, wenn ihm er den Veranstaltungsort für die Trauung vorher bekannt gewesen wäre.
Kaum war das Ja-Wort gegeben und der Kuss ausgetauscht, beugte sich André zu Ricky hinüber und flüsterte ihm leise ins Ohr: „Du hast sie zu einer Feenprinzessin gemacht. Das wird sie dir nie vergessen.“
Verlegen krampfte Ricky die Hände vor seinem Bauch in den Stoff der Weste. Dass es ausgerechnet das Kleid von Marie war, das er live bei einer Hochzeit hatte erleben dürfen, erschien mit einem Mal wie Schicksal. Als ob sie tatsächlich nicht nur in seinen Laden gekommen war, um ihren schönsten Tag ein Stück traumhafter zu gestalten, sondern damit ebenso Rickys eigenes Leben. Denn vermutlich hätte André ihn im Rush-Inn eher nicht angesprochen, wenn sie sich nicht vorher schon in Helenas Laden begegnet wären.
Der Gedanke versetzte Ricky für eine Sekunde einen Stich in den Magen, bevor er es schaffte, ihn beiseitezuschieben. Es war egal, warum André ihn angesprochen hatte. Genauso wie es im Moment keine Rolle mehr spielte, dass Ricky ihm ohne die Wette mit Alex am Ende vielleicht doch diese zweite Chance verwehrt hätte.
„Nur die Zukunft zählt“, flüsterte Ricky leise und lächelte in Richtung des glücklich strahlenden Brautpaars.
In dem Moment entdeckte Marie ihn. Sie raffte ihr Kleid ein Stück hoch und kam zügigen Schrittes zu ihm hinüber. Gerade streckte Ricky ihr die Hand entgegen, um ihr zu gratulieren, da fiel sie ihm bereits um den Hals und drückte einen Kuss auf seine Wange.
„Das ist das beste Kleid überhaupt. Ich kann gar nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin. Haben Sie gesehen, wie es funkelt? Lauter kleine Regenbogen. Es ist unglaublich. Sie sind ein wahrer ...“
„Marie, Kindchen“, tönte hinter ihr die Stimme ihres Vaters und ließ sie stocken. „Beruhige dich.“
„Beruhigen?“, fuhr Andrés Mutter dazwischen. „Ach du bist so ein Klotz, Pierre. Geh beiseite!“ Damit schob sie ihn weg und baute sich stattdessen neben ihrer Tochter auf. „Ein Zauberer sind Sie. Das ist es, was Marie sagen wollte. Oder, mein Schatz?“
„Absolut, Mama! Und ich freu mich so, dass Sie da sind. Meine Freundinnen werden platzen vor Neid, wenn ich ihnen davon erzähle“, quietschte sie unbeeindruckt des Einwurfs ihres Vaters weiter.
„Marie“, unterbrach sie diesmal der frisch gebackene Ehemann.
Sofort verstummte sie und drehte sich stattdessen herum. Ihre Augen funkelten jedoch weiter – als wollten sie sich mit dem Kleid, das sie trug, einen Wettkampf liefern. Ricky konnte nicht anders, als zu grinsen – auch wenn ihm die Aufmerksamkeit zunehmend unangenehm wurde.
„Entschuldigen Sie. Marie ist, glaube ich, noch etwas überwältigt“, fuhr Simon fort.
„Ah. Kein Problem.“, antwortete Ricky leicht verunsichert von der plötzlichen Aufmerksamkeit und schielte nervös zu André, der jedoch nur zufrieden lächelte.
„Wie wäre es, wenn wir das Geplauder auf später verschieben und jetzt erst einmal rausgehen und das mit den Fotos erledigen“, schlug in diesem Moment der Brautvater vor.
Begeistert stimmte Marie sofort zu und hing keine zwei Sekunden später am Arm ihres Bräutigams, um diesen den Gang entlang in Richtung Ausgang zu zerren. Andrés Mutter folgte prompt – zusammen mit Simons Eltern, die gerade gut gelaunt darüber diskutierten, welchen Teil der Ansprache des Standesbeamten sie besonders toll fanden.
„Du kannst dich schon mal darauf vorbereiten, dass dich das den Rest des Tages begleiten wird“, meinte André mit einem Lachen.
Kurz darauf konnte Ricky, ein weiteres Mal die warme Hand an seinem unteren Rücken spüren, die ihm seine Ruhe zurückgab.
„Na los, André. Du weißt, dass man deine Mutter nicht warten lässt, wenn es um Fotos geht“, murrte der Brautvater und gab einen theatralischen Seufzer ab.
„Ich ... geh so lange schon mal zum Hotel zurück“, flüsterte Ricky André zu.
Offenbar aber nicht leise genug, denn prompt drehte sich Pierre Clavier mit hochgezogenen Augenbrauen herum. „Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass Sie um diese Bilder herumkommen?“
„Was? Aber ich ...“
Das laute Lachen, das daraufhin die kleine Kapelle erschütterte, ließ Ricky zusammenfahren. Mehr noch die große, schwere Hand von Andrés Vater, die kurz darauf durch seine dunkelblonden Haare fuhr und die mühsam in Form gebrachten Locken dadurch prompt aus ihrer Ordnung brachte.
„Sie sind witzig, junger Mann. Aber Sie werden schon noch lernen, dass man Lissy nicht widerspricht.“ Damit drehte Pierre sich, weiterhin lachend, herum und stapfte mit den Händen in den Hosentaschen den übrigen Gästen hinterher. „Zum Hotel zurückgehen. Würde ich auch gern. Der war gut.“
„Ich ...“, stammelte Ricky inzwischen reichlich überfahren von der so selbstverständlichen Art, mit der Andrés Eltern mit ihm umgingen.
„Er hat recht“, gab André grinsend zu und schob Ricky mit der Hand in seinem unteren Rücken nun ebenfalls in Richtung Ausgang. „Marie wird dich sicherlich auch nicht so einfach entkommen lassen.“
„Aber das sind doch Familienfo...“
Verzweifelt brach Ricky ab. Im Grunde wusste er nicht einmal, was er sagen wollte. Trotzdem wurde ihm das Ganze allmählich zu viel. So schön es war, dass er von Andrés Familie nicht nur als irgendein Gast, sondern sogar als ein willkommener behandelt wurde, es fühlte sich zunehmend merkwürdig an. Und irgendwie auch nicht richtig.
„Das ist einfach Mamas Art und Marie hat sie offenbar geerbt“, versuchte André ihn leise zu beruhigen. „Sie sammeln Menschen um sich wie ... das Licht Motten anzieht. Und wenn man erst einmal in ihren Fokus geraten ist, kommt man da nicht mehr raus.“
„Das sollte ein Familienfoto sein“, wisperte Ricky, nicht überzeugt zurück.
„Und für heute gehörst du da dazu.“
Beinahe umgehend konnte Ricky spüren, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg. Der Gedanke war verführerisch – aber ebenso illusorisch. Und egal, wie gern Ricky sich dieser Traumvorstellung an einem Tag wie heute hingeben wollte, sie war auch mindestens so gefährlich. Denn nach zwei Wochen waren sie einfach viel zu weit von dem Punkt entfernt, an dem er realistisch darüber nachdenken sollte irgendwo dazugehören zu wollen.
Trotzdem ließ Ricky sich gehorsam vorwärtsschieben. Draußen war ein reges Herumgewusel im Gange, als der Fotograf und Andrés Mutter gleichzeitig versuchten eine Ordnung in das Bild der wenigen vorhandenen Gäste der eigentlichen Trauung zu bringen. Da die Kapelle so klein war, hatten sich Simon und Marie auf ihre Eltern und Geschwister sowie deren Partner beschränkt. Wieder einmal wurde Ricky dabei bewusst, dass er in dieser Gruppe in mehrerlei Hinsicht herausstach.
Auch wenn er sich gern irgendwann in der Zukunft wirklich als Andrés Partner betrachten wollte, so konnte er sich heute wohl kaum so nennen. Zumal es schließlich Rickys eigener Wunsch gewesen war, dass sie das für die Hochzeit offiziell anders nannten. Heut war er lediglich als Bekannter und Schneider von Maries Kleid hier. Dass André ein Zimmer für sie beide besorgt hatte, war hoffentlich niemandem aufgefallen.
Marie stand derweil weiterhin strahlend vor Glück neben ihrem frisch gebackenen Ehemann und kümmerte sich scheinbar keinen Deut darum, was für ein Gewusel ihre Mutter veranstaltete. Die versuchte die Gäste in einer nur ihr logisch erscheinende Ordnung zu bringen. Als das nach zehn Minuten nicht gelungen war, mischte sich nun auch die Mutter des Bräutigams ein. Gemeinsam beratschlagten die beiden Damen kurz, danach lief es mit einem Mal überraschend schnell.
Anweisungen wurden erteilt und mehr oder weniger flott umgesetzt. Und tatsächlich dauerte es nur weitere zehn Minuten und endlich standen alle da, wo Elisabeth und Simons Mutter Frederike es für richtig erachteten. In der Mitte das Brautpaar. Links und rechts die Brauteltern, die Geschwister und ihre Partner teilweise hinter ihren Eltern oder daneben.
Etwa unsicher stand Ricky neben dem Brautvater Pierre und fühlte sich noch immer reichlich fehl am Platz. Die warme Hand in seinem Rücken konnte ihn aber einigermaßen beruhigen. Wenigstens war André direkt hinter ihm positioniert worden. Bei dem Gedanken stieg unweigerlich die Hitze in Rickys Wangen auf.
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Es dauerte rund fünfzehn Minuten, bis der Fotograf mit den Bildern zufrieden war und die Gäste entließ. Das Brautpaar würde etwas länger für weitere Fotos brauchen, aber der Rest von ihnen war bis zum Mittagessen offiziell entlassen. Also kehrten Ricky und André ins Hotel zurück.
„Und? Willst du gehen?“, fragte Letzterer leise, als sie das Foyer betraten.
Lächelnd schüttelte Ricky den Kopf. Auch wenn er im Grunde das, was er hatte sehen wollen, sehr eindrucksvoll miterleben durfte, fühlte es sich gleichzeitig so an, als wäre damit der schwierigste Teil hinter ihnen. Also warum auf den Rest verzichten?
Kaum war das Mittagessen vorbei, drängte sich die Antwort auf diese Frage förmlich auf. Es war wirklich verflucht anstrengend, ständig zu lächeln, während man am liebsten davongelaufen wäre. Wohlgemerkt nicht weil irgendjemand Ricky böse gesonnen zu sein schien. Es war vielmehr diese permanente, überschwängliche Art und Weise, wie eine Frau nach der anderen an ihrem Tisch vorbei kam, ihn umarmte und ihm zu ‚seinem‘ Kleid gratulierte. Die eine oder andere ältere Dame ließ sich auch nicht davon abhalten, ihm einen Kuss auf die Wange zu drücken. Nicht nur einmal musste Ricky verlegen murmelnd darauf hinweisen, dass er es zwar angefertigt hatte, es aber dennoch Maries Kleid war.
Nach dem Mittagessen zerrte André ihn plötzlich beiseite und schubste Ricky in den Fahrstuhl. Verwundert über das merkwürdige Verhalten konnte er sich zwar abfangen, drehte sich aber direkt mit einem Stirnrunzeln um. Bevor Ricky etwas sagen konnte, wurde er bereits von einem deutlich kräftigeren Körper gegen die Rückwand der Fahrstuhlkabine gepresst. Fordernd und nicht gerade zärtlich waren da Sekunden später Andrés Lippen auf Rickys eigenen. Eine Zunge, die Eintritt forderte, Hände, deren Besitzer sich scheinbar nicht entscheiden konnte, ob sie Ricky noch fester gegen die Wand pressen, oder ihn lieber zu André heranziehen wollten.
Das Keuchen, das Ricky entkam, war eine Mischung aus Verwunderung und sofort einsetzendem Verlangen. Das hier war allerdings definitiv der falsche Ort, um diesem nachzugeben. Was, wenn sie jemand sah? Es war Maries Hochzeit und so wundervoll, wie die bisher gelaufen war, wollte Ricky ihr das auf keinen Fall mit einem peinlichen Vorfall verderben.
Ein kurzes Pling des Fahrstuhls riss sie aus ihrer Zweisamkeit, und André ihn prompt auf den Gang hinaus. Die Beharrlichkeit, mit der Ricky in Richtung ihres Zimmers befördert wurde, feuerte sein eigenes scheinbar schon wieder auf Hochtouren laufendes Verlangen weiter an.
„Wie ...?“, setzte Ricky gerade zu einer Frage an, als um die Ecke des Ganges plötzlich Stimmen zu hören waren.
André erstarrte und blickte mit undeutbarem Blick auf. Kurz darauf umrundete ein Ehepaar, das vermutlich ein paar Jahre älter als Andrés eigene Eltern war die Ecke und trat auf sie zu.
„Oh. Hallo“, grüßte die Frau und sah zunächst André, danach Ricky kritisch an. Schlagartig hatte er das Gefühl, als würde ihn eine kalte, unangenehme Hand am Genick packen. Die Augen der Frau verengten sich, während sie einen zweiten prüfenden Blick an Ricky entlang nach unten gleiten ließ. „André“, grüßte sie schließlich jedoch seinen Begleiter, anstatt ihn selbst.
„Tante Isolde. Onkel Rainer“, presste André mit einem erzwungenen Lächeln heraus. „Habt ihr es also doch geschafft ...“
„Hallo“, grüßte Andrés Onkel etwas lahm, aber mit einem kleinen Lächeln zurück.
„Deine Mutter war ja vehement genug“, meinte die Dame mit einem theatralischen Seufzen. „Wäre es nicht angebracht, wenn du als Bruder der Braut bei der Hochzeitsgesellschaft bleibst?“
„Ich wollte Herrn Hansen hier nur sein Zimmer zeigen.“
Gerade versuchte Andrés Tante zu einer Erwiderung ansetzen, als ihr Mann sie am Arm nahm und davonzog. Über die Schulter hinweg entschuldigte er sie beide und schob seine protestierende Frau dann in die Fahrstuhlkabine.
Kaum waren sie verschwunden, senkte Ricky den Kopf. „Sie hat recht“, meinte er leise. Trotzdem strich seine Hand, wie automatisch über das Hemd vor Andrés Bauch.
Mit einem breiten Grinsen beugte der sich vor und hauchte Ricky einen kurzen Kuss auf die Wange. „Für die nächsten zwei Stunden bis zum Kaffee hab ich andere Pläne.“
Schon wieder diese Hitze, die in Ricky aufstieg und seine Wangen vermutlich leuchten ließ wie eine Signalanlage. Allmählich fühlte er sich wie ein verdammter Teenager. Aber es war ein verflucht gutes Gefühl – obwohl Ricky die Unsicherheit, die ihn heute immer wieder begleitete, normalerweise so gar nicht leiden konnte. Sich derart begehrt zu fühlen, hatte allerdings einen unglaublich starken Reiz. Einen, den Ricky nicht verleugnen konnte. Und es gab, was André anging noch mehr als genug andere Sachen, interessantere Spiele, die er mindestens ebenso erregend fand.
Kaum dass André ihn in ihr Zimmer gebracht hatte, drehte Ricky sich deshalb herum und zog einen Schmollmund, der seinesgleichen suchte. Mit vor der Brust verschränkten Armen stand er mitten im Zimmer und versuchte, beleidigt auszusehen.
„Du bist wirklich unersättlich. Gib’s doch zu, du bist nur dauergeil und brauchst jemanden für die Triebbefriedigung.“
Für einen Moment stockte André und der schockierte Ausdruck auf dem attraktiven Gesicht war ausgesprochen amüsant. Reizvoll. Etwas, das ein freudiges Kribbeln Rickys Wirbelsäule entlang nach unten schickte. Entsprechend konnte er sich auch nicht das hinterhältige Grinsen kaum verkneifen, das an seinen Mundwinkeln zerrte. Dummerweise André hatte es gesehen und deshalb fanden sie sich kurz darauf auf dem Bett wieder.
Flinke Finger wurden über Rickys Weste und das Hemd geleitet, knöpften beides auf und schoben es aus dem Weg. Ein kurzes Stöhnen, bei dem nicht ganz klar war, von wem es tatsächlich kam. Nicht auszuschließen, dass es aus zwei Kehlen gleichzeitig ertönte. Das angespannte Zittern im Körper über ihm, zeigte Ricky deutlich, wie schwer es André gerade fiel, ruhig zu bleiben und nicht rücksichtslos irgendwelche Knöpfe abzureißen.
„Tatsächlich ... nur ... Trieb...“, murmelte Ricky, darum bemüht selbst einigermaßen bei Verstand zu bleiben.
„Das hier macht mich irre“, unterbrach André ihn knurrend. „Die dürfen dich alle antatschen, an dir rumfingern. Ich kann ihr verdammtes Parfüm überall an dir riechen. Und ich hasse es!“
Rickys Augen weiteten sich. Hastig versuchte er, André anzusehen, aber dessen Kopf befand sich gerade auf dem Weg in die andere Richtung. Deutlich zu fahrig schob André das inzwischen offene Hemd und die Weste beiseite, nur um kurz darauf beim Hosenbund anzukommen.
„Ich steh daneben, wie ein Volltrottel. Ich kann nichts machen. Darf nicht mal sagen, dass sie die Pfoten von dir zu lassen haben, da du verdammt noch mal mein Gast bist, nicht ihrer! Weil es nicht stimmt ...“
„Was?“
Mit einem Mal wurde ein Paar Arme fest um Rickys Mitte geschlungen. „Bitte sag mir, dass du Spaß hast“, flüsterte André leise, während er das Gesicht an seinem Bauch vergrub. „Ich weiß, es ist noch nicht Abend. Aber bitte ...“
Es dauerte einen Moment, bis Ricky kapierte, dass André auf die Wette anspielte, die sie bei ihrer Aussprache vor inzwischen über zwei Wochen getroffen hatten. Die bei der er selbst sich verpflichtet hatte, André auch mit Uniabschluss eine Chance zu geben, wenn er heute hier ‚Spaß hatte‘.
„Ich hasse das ...“, flüsterte es leise an Rickys Bauch, bevor er selbst dazu kam etwas zu sagen. „Ich will keinem dämlichen Schicksal ausgeliefert sein.“
„Ich weiß nicht, ob ich das da unten wirklich als Spaß bezeichnen würde“, gab Ricky irgendwann zu und spürte prompt, wie sich die Arme um ihn fester zogen. Fast so, als würden sie sich so oder so weigern loszulassen, egal was er gleich sagte. „Aber du hast mir heute einen meiner größten Wünsche erfüllt und das zählt, denke ich, verdammt viel.“
André lachte leise und vergrub sein Gesicht erneut an Rickys Bauch. „Du wirst mich bis heute Abend zappeln lassen, oder?“
Langsam strich er durch die braunen Haare und konnte dabei sehr deutlich spüren, wie die Anspannung nach und nach aus Andrés Körper wich. „Im Sinne unserer Wette müssen wir da durchaus exakt sein. Ich kann dir den Sieg nicht einfach überlassen“, gab Ricky feixend zurück.
„Hm“, murrte André verhalten. Seine linke Hand strich zaghaft über Rickys Seite, doch der braune Haarschopf blieb auf dem Bauch liegen. „Ich gebe nie einfach auf.“
Der Kuss, der kurz darauf an Rickys Bauchnabel kitzelte, brachte ihn zum Lachen. Er kam jedoch nicht dazu, eine Antwort zu geben.
„Ich will mir keine Sorgen um eine Zukunft machen, die noch nicht geschrieben ist“, fuhr André fort, während er einer Spur weiterer Küsse über Rickys Brust hinauf folgte. „Ich will Träume nicht verschlafen, sondern leben.“
Noch mehr Küsse, die sich allmählich Rickys Halsansatz näherten.
„Ich will nicht über Dinge nachgrübeln, die ich nicht ändern kann.“
Ricky stöhnte, als der nächste Kuss es endlich auf seine Lippen schaffte. Kaum waren die wieder frei, konnte er jedoch nicht seine eigene Frage verhindern: „Und was willst du?“
André lächelte und küsste ihn ein weiteres Mal. „Leben, genießen und sehen, wohin es führt. Denn wenn es mich zu dir geführt hat, läuft es gerade verdammt gut.“