Sobald seine Tante wieder im Laden war, herrschte dort konsequentes Schweigen. Je länger es anhielt, desto mieser fühlte Ricky sich. Helena schien auch nach ihrer Rückkehr weiterhin sauer zu sein, dass er nicht mit der Sprache rausrückte. Obwohl das Gespräch mit Annabell gut gelaufen war, konnte Ricky sich jedoch nicht durchringen Helena auf das ‚Problem‘ mit seiner angeblichen Freundin anzusprechen.
Annabell lächelte ihm oft genug aufmunternd zu, aber Ricky brachte es nicht über sich. Mindestens dreimal setzte er an, nur um wieder abzubrechen und zurück an die Arbeit zu gehen. Auf die konnte er sich mehr schlecht als recht konzentrieren. Und so gab Ricky irgendwann genervt auf.
„Ich fühle mich nicht gut“, sagte er Helena und verschwand ohne eine weitere Erklärung aus dem Laden und in seine Wohnung.
Da hockte er seitdem und starrte, auf dem Sofa liegend, an die Decke. In Rickys Kopf ging er immer wieder das Gespräch mit Annabell durch. Er hatte von Anfang an gedacht, dass sie seiner Mutter irgendwie ähnlich wäre und dass ihre fragenden Augen ihn deshalb so nervten.
Leider schaffte Ricky es nicht, darauf zu vertrauen, dass seine Mutter im Umkehrschluss ebenso wie Annabell bei deren Sohn reagieren würde. Schnaubend richtete er sich auf und starrte stattdessen zum Fernseher. Was allerdings auch nicht half. In seinem Inneren konnte Ricky eine nur zu bekannte Unruhe spüren. Eine, die sich erfahrungsgemäß nur auf zwei Arten auflösen ließ.
„André ist bis morgen Nachmittag im Krankenhaus“, flüsterte er und schloss damit die erste schon einmal aus.
Unsicher schielte Ricky zum Telefon. Vielleicht sollte er es einfach hinter sich bringen und seine Mutter anrufen. Aber wäre es nicht besser, er würde das persönlich erledigen? Allerdings würde ihm ein Telefonat ihren Anblick ersparen, falls es eben doch nicht so glatt laufen sollte, wie Ricky hoffte. Irgendwann musste er es so oder so tun, denn André zu verstecken, kam auf Dauer nicht infrage. Und dass das zwischen ihnen demnächst enden würde, darüber wollte Ricky nicht einmal nachdenken.
„Dabei sind es doch nur zwei Monate“, murmelte er. Mit einem unterdrückten Frustschrei raufte er sich die Haare und starrte auf den Fernseher.
Ricky wollte, dass das mit André ernst war, egal wie kurz die Zeit im Vergleich zu all denjenigen erschien, von denen seine Mutter nie etwas erfahren hatte. Aber das hier war eben anders. Obwohl es immer schwieriger wurde zu sagen, warum. Vielleicht, weil er zum ersten Mal das Gefühl hatte, bei André wirklich er selbst sein zu können. Mit all den für andere oft vermutlich merkwürdig erscheinenden Facetten.
Er stand auf und nahm das Telefon von der Ladestation. Ricky blätterte durch das interne Telefonbuch, bis er auf dem Eintrag ‚Mama‘ landete. Sein Finger schwebte über dem grünen Knopf, um den Anruf zu starten. So schwer wer das doch nun wirklich nicht.
Auf das Freizeichen warten, ein ‚hallo Mama‘ und danach? Etwas Herumstammeln, Herumdrucksen und irgendwann am Ende damit herausplatzen, dass er einen unheimlich netten Mann kennengelernt hatte. Der würde seiner Mutter zwar keine Enkel schenken, aber Ricky glücklich machen. Am Ende eben schlicht der Mensch, in den er sich verliebt hatte.
Rickys Herz machte für einen Moment einen Sprung. Hastig stellte er das Telefon zurück. Es ging nicht. Er konnte nicht. Alles in ihm schien mit einem Mal zu vibrieren. Der Herzschlag beschleunigte sich. Die Augen zuckten unruhig hin und her. Ricky hatte immer stärker das Gefühl, als wäre seine Wohnung viel zu klein.
„Verdammt!“, zischte er wütend über sich selbst und stürmte in den Flur. Dort schnappte er sich Geldbeutel und den Wohnungsschlüssel. Wenn André nicht zur Verfügung stand, um diese blöde Unruhe aus dem System zu bekommen, dann musste eben Möglichkeit zwei herhalten.
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Mit einem kurzen Sprint hatte Ricky den Bus gerade noch erwischt und saß deshalb nicht einmal dreißig Minuten später an der Bar im Rush-Inn mit einem Bier vor sich. Langsam drehte er das Glas zwischen den Fingern, während er versuchte, die Gedanken nicht allzu sehr kreisen zu lassen. Schließlich war er hier, um sich abzulenken und diese verfluchte innere Unruhe loszuwerden.
„Hallo“, sprach ihn jemand von der Seite an.
Desinteressiert drehte Ricky den Kopf und nahm einen Schluck. Tatsächlich hatte er nicht einmal das Bedürfnis, den Mann genauer zu betrachten, als er bereits murmelte: „Kein Interesse.“
Der lachte verhalten und schob sich trotzdem auf den Stuhl neben ihm. „Ach komm schon! Ich hab gerade einmal ‚hallo‘ gesagt. Ist da nicht wenigstens ein Gruß drinnen?“
„Tschüss“, gab Ricky trocken zurück.
Das brachte ihm ein weiteres Lachen. Und diesmal zuckten Rickys Augen doch über den Unbekannten. Sofort begann es aber in ihm zu brodeln und die Unruhe kehrte zurück.
„Wie gesagt ... kein Interesse“, murmelte Ricky erneut und drehte sich zum Tresen.
„Sicher?“, hakte der Kerl weiter nach.
Hartnäckig war er, das musste Ricky ihm geben. „Ja“, meinte er dennoch und hielt den Blick stur geradeaus gerichtet.
„Schade ...“
Diesmal antwortete Ricky nicht. Vielleicht würde das reichen, damit der Kerl verschwand. Es dauerte aber sicherlich gut zwei Minuten, die der Mann weiter neben ihm aushielt, bevor er sich schließlich verzog.
„Warum so missmutig?“, fragte stattdessen eine andere Stimme lachend.
Ricky schnaubte und sah ein Stück nach rechts, wo ihn Alex breit angrinste. „Ich steure zu deinem Umsatz bei, also schenk ein und erspar mir die Therapiesitzung.“
„Woah“, gab Alex lachend zurück und hob abwehrend die Hände. „Da hat aber jemand echt miese Laune.“ Wenigstens griff Alexander nach dem leeren Glas, stellte allerdings fieserweise kein frisches vor Ricky ab. „Ich dachte, es läuft gut mit deinem Herrn Doktor.“
„Tut es auch.“
Alex lehnte sich auf den Tresen und sah Ricky erwartungsvoll an. Der schwieg jedoch hartnäckig, bis sein alter Freund mit ernster Stimme fragte: „Was ist los?“
Ricky ließ den Kopf hängen. Mit der Linken rieb er sich die schmerzende Schläfe. Irgendwo dahinter wuchs gerade ein Kopfschmerz heran, auf den er so gar keine Lust hatte.
„Richard?“ Die Tatsache, dass er ihn mit vollem Vornamen ansprach, zeigte sehr deutlich, dass Alex eine Antwort erwartete.
Hilflos zuckte Ricky mit den Schultern und seufzte. „Ich ... hab das Gefühl, in mir drinnen krabbeln überall Ameisen herum und allmählich ertrag ich das nicht mehr“, gab er kaum hörbar zu. „André hat Dienst.“
Alex runzelte die Stirn. „Und wo ist jetzt wirklich das Problem?“
Stöhnend ließ Ricky den Kopf auf den Tresen sinken. „Ich überlege, meiner Mutter endlich die Wahrheit zu sagen“, hauchte er irgendwann kaum hörbar.
„Oh, Mann.“
Langsam hob Ricky den Kopf wieder und schielte vorsichtig zu Alex hinüber. „Blöde Idee?“
„Hervorragende Idee! Vermutlich rund zehn Jahre zu spät, aber okay ...“
„Du bist so doof, Alex!“, fauchte Ricky angepisst zurück, nur um kurz darauf erneut in sich zusammenzusacken. „Du weißt genau, warum ich meinen Eltern nie was gesagt habe ...“
„Ja, weil deine Übermutter angefangen hat, von ihren Enkeln zu quatschen, bevor du überhaupt auf der Welt warst.“
Ricky ließ den Kopf ein weiteres Mal auf den Tresen sinken, während er murmelte: „Und wir wissen beide, wie gut ihre Chancen dafür stehen ...“
„Mies bis nicht vorhanden?“
Ricky drehte den Kopf und versuchte, böse zu Alex zu funkeln. Das war allerdings unmöglich, da der dafür leider an der falschen Stelle stand. Schmollend verzog Ricky den Mund.
„Jetzt hilf mir wenigstens, wenn du hier schon rumstehst“, maulte er beleidigt. „Oder gibt mir mehr Alkohol, damit ich endlich den Mut finde, dieses Gespräch hinter mich zu bringen. Den Rest deiner Kundschaft beglückst du doch auch ständig mit hilfreichen Ratschlägen.“
Alex zog zischend die Luft ein. „Den Rat geb ich dir gern: Diese Art von Geständnis im Suff rauszuhauen ist eine saudämliche Idee, Richard.“
Erneut verzog Ricky schmollend den Mund. „Nenn mich nicht so. Nicht mal meine Mutter macht das. Außer sie ist stinksauer.“ Der verbale Schlagabtausch mit Alex hatte zumindest den Vorteil, dass es ihn von seiner inneren Unruhe ablenkte. Damit schien der Plan, der ihn hierher geführt hatte, wohl doch noch aufzugehen.
„Allmählich bin ich auch stinkig“, antwortete Alex grummelnd. „Du hast endlich jemanden gefunden, der dich wirklich glücklich zu machen scheint. Bist aber weiterhin zu feige, deiner Mutter zu sagen, was die bei genauem Hinsehen schon seit ... über zehn Jahren wissen müsste.“
„Tut sie aber offenbar nicht. Oder sie ignoriert es, was noch schlimmer wäre. Andernfalls würde sie mich wohl kaum ständig nach Enkeln fragen. Oder? Die entstehen bekanntlich ausgesprochen selten zwischen zwei Kerlen“, fauchte Ricky zurück.
„Boah echt, Rick. Ihr wart wie alt als ich Consti und dich zum ersten Mal beim Wichsen erwischt hab? Dreizehn? Und trotzdem hast du nie eine Freundin nach Hause gebracht. Dabei ist die Kleine aus eurer Parallelklasse dir ständig hinterhergerannt. Wie hieß die noch gleich?“
„Keine Ahnung.“
Alex stöhnte. „Du weißt nicht einmal mehr ihren Namen, dabei hing sie wie eine Klette an dir und hat ständig versucht, dich zu küssen. Die ist dir nachgerannt wie ein kleines Hündchen.“
Angepisst wedelte Ricky seinem alten Freund mit der Hand vor der Nase rum. „Gib mir endlich ein frisches Bier, Xandi, sonst erzähl ich hier mal ein paar Sachen aus deiner Jugend rum.“
„Oh, das klingt interessant ...“, tönte eine gut gelaunte Stimme neben Alex, deren Besitzer nun Ricky grinsend an dessen Stelle ein frisches Bier vor die Nase stellte. „Da bin ich doch ganz Ohr.“
Lachend schubste Alex die Aushilfe zur Seite. „Nichts da. Ich bezahl dich fürs Arbeiten, Erik, nicht fürs Rumstehen.“
„Nicht aufregen alter Mann, sonst kriegst du noch einen Herzkasper“, gab der frech zurück, folgte aber lachend der Anweisung.
„Keine Unverschämtheiten, du Bengel!“, rief Alex ihm hinterher. Rickys Hoffnung, dass er jetzt aus diesem Gespräch rauskommen würde, löste sich jedoch umgehend in Luft auf. „Und du redest mit deiner Mutter. Aber nicht heute. Und auf keinen Fall am Telefon!“ Das kurze Zucken konnte Ricky nicht verstecken. Prompt erntete er dafür ein weiteres genervtes Stöhnen von Alexander. „Echt jetzt? Du wolltest ihr das tatsächlich am Telefon beichten?“
Betreten ließ Ricky den Kopf erneut auf den Tresen fallen. Alex hatte ja recht. Er musste das mit seiner Mutter endlich klären. Und das auch in der Tat nicht am Telefon, sondern persönlich.
„Und lass dich nicht so volllaufen, Rick.“
Damit verschwand Alex endlich, um sich anderen Gästen zu widmen. Welchen, die seinen Rat tatsächlich wollten. Wobei er selbst vielleicht ja genau deshalb hergekommen war. Da er Alex schon so lange kannte, konnte Ricky mit dem offen sprechen. Irgendwie war der Kerl stets auch für ihn ein großer Bruder gewesen. Vor allem nachdem Ricky mit seinem Meister in der Tasche wieder in die Stadt zurückgekehrt war. Damals hatte sein bester Freund – und Alexanders kleiner Bruder – Constantin mit Arbeit, Abendschule und anschließendem Studium kaum noch Zeit für Ricky gehabt hatte. Abgesehen davon, dass Consti nun einmal hetero war und sich dank chronischen Beziehungsmangels, in seiner raren Freizeit gern in irgendwelchen Nachtklubs rumtrieb. Solche, die Rick unter Folter nicht betreten wollte.
Da er heute sowieso nicht mehr zu seinen Eltern fahren würde, blieb Ricky sitzen. Noch ein, zwei Bier würde er locker vertragen, ohne betrunken zu sein. Ob das wirklich helfen würde, ihm den Mut zu geben, diesen letzten Schritt zu wagen, stand allerdings in den Sternen. Die Vorstellung, stockbesoffen heute Nacht bei seinen Eltern aufzuschlagen war aber noch grauenhafter. Wobei die Abweisung auf diese Weise vermutlich weniger schmerzhaft wäre.
„Eine Überlegung wert“, murmelte Ricky leise und war dankbar, als diesmal keine dumme Antwort kam.
Eine halbe Stunde später war sein Glas schon wieder leer und Ricky überlegte, ob er tatsächlich ein weiteres nehmen sollte. Vorsichtig schielte er nach rechts, wo sein alter Freund gerade mit einem Mann im Anzug sprach, während er dem ein Bier hinstellte. Aus Gewohnheit wanderte Rickys Blick über den Kerl. Seine Schätzung wäre bei Mitte dreißig. Definitiv gut aussehend – und der Anzug war weder von der Stange noch sonderlich billig. Beide schienen gut gelaunt, lachten sogar. Dieser Kerl war zumindest nicht hier, um sich wie Ricky volllaufen zu lassen.
„Der ist vergeben“, brummte es mit einem Mal vor ihm. Als er aufblickte, stand da schon wieder die Aushilfe, die Alex eben verjagt hatte.
„Deiner?“
„Gott nein. Hab doch keinen Vaterkomplex.“
Ricky grinste. „Ich dachte, Alex stellt nur Volljährige Aushilfen ein.“
Die Augenbrauen des jungen Mannes zogen sich zusammen. Normalerweise hielt Ricky sich mit seinen verbalen Ausbrüchen zurück. Aber heute hatte er miese Laune und das Gespräch mit Alex hatte es dummerweise nicht wirklich besser gemacht. Dabei war ihm durchaus klar, dass weder sein alter Freund, noch die Aushilfe etwas dafür konnten. Es war Rickys eigenes Problem. Um genau zu sein, sogar seine eigene Schuld. Hätte er sich nicht in den letzten zehn Jahren davor gedrückt, mit seiner Mutter Klartext zu reden, würde er jetzt nicht so hier sitzen.
Offenbar hatte Alex bei dieser Aushilfe aber gute Arbeit geleistet, denn anstatt auf die Herausforderung einzugehen, schnappte der junge Mann sich lediglich das Glas vor ihm und sah Ricky herausfordernd an: „Noch eins? Oder kommen die blöden Sprüche, weil du schon zu breit bist?“
Schnaubend deutete Ricky auf das glas und winkte dem Jungspund zu, damit der endlich für den Nachschub sorgte. Irgendwie gefiel ihm der Junge. Wobei der eigentlich kein ‚Junge‘ mehr war. Jedenfalls sah er nicht wie einer aus, auch wenn er mit vermuteten zwanzig zu jung für seinen eigenen Geschmack war. Ein paar Jahre älter und er hätte durchaus Rickys Typ sein können – insofern der nicht glücklich vergeben gewesen wäre. Aber das war es nicht, was Ricky im Augenblick an diesem Kerl reizte. Nein, es war das freche Mundwerk, das es nur zu gern darauf anzulegen schien, jemandem Paroli zu bieten.
„Ich hab schlechte Laune Kleiner, also nerv mich nicht“, gab Ricky mit einem Grinsen zurück, das die harschen Worte in eine eindeutige Herausforderung verwandeln dürfte.
„Nenn mich noch mal klein und ich such mir einen anderen Kunden, der bedient werden will“, maulte der unverschämte Lümmel zurück.
Rickys Grinsen hielt an, als er herausfordernd die Hand ausstreckte „So wird das nix mit Trinkgeld ... Großer.“
Die Aushilfe schnaubte, konnte aber ein verhaltenes Lachen nicht mehr wirklich zurückhalten. Immerhin stellte er jetzt endlich das frische Bier vor ihm ab. Nachdem Ricky den ersten Schluck genommen hatte, blickten ihn nun ungewohnt stahlendblaue Augen herausfordernd an.
„Was?“
„Keine Ahnung“, gab der junge Mann zurück und kratzte sich am Hinterkopf. Für einen Moment herrschte Schweigen. Plötzlich seufzte die Aushilfe und ließ den Kopf hängen. „Alex sagt, ich soll mehr mit den Gästen reden ... Also ... willst du ... reden?“
„Mit dir? Nö.“
Die Erleichterung war greifbar, als der junge Mann durchatmete. „Ein Glück. Ich kann die depressiven Gestalten, die hier mitunter abhängen echt nicht ab.“
Ricky schwieg. Gehörte er da heute dazu? Irgendwie nicht. Er fühlte sich nicht traurig, nicht wirklich deprimiert. Unentschlossen, ängstlich, vielleicht auch eine Spur wütend – mehr auf sich selbst als alle anderen. Ricky drehte den Kopf und sah erneut zu Alex, der inzwischen weitere Kundschaft bediente. Auch die Aushilfe wurde derweil von einem Gast abgelenkt. Versonnen sah Ricky auf das Glas zurück.
Mit einem etwas genervt klingenden Seufzen kam die Aushilfe einige Minuten später wieder zu ihm und maulte: „Jetzt hängst du ja doch da wie einer von den Trauerklößen.“
Ricky blickte auf, aber der Kerl sah ihn nicht einmal an, starrte stattdessen auf das Glas, das er gerade abtrocknete. Schon war er versucht dem jungen Mann ein „Mach ich gar nicht“, an den Kopf zu schmeißen, als Ricky klar wurde, wie bockig und kindisch das klingen würde. Also schwieg er. Ein Blick die Bar entlang zeigte, dass Alex mit den Gästen beschäftigt war. Allerdings verspürte Ricky sowieso nicht das Bedürfnis noch weiter mit diesem zu reden. Vielleicht wäre es besser, nach Hause zu gehen.
Trotzdem blieb Ricky sitzen – und versuchte, sich einzureden, dass das nur deshalb der Fall war, weil sein Bier noch nicht leer war. Als links von ihm jemand nach einem weiteren Drink verlangte, war die Aushilfe wieder weg – nur um kurz darauf erneut vor ihm zu stehen und so zu tun, als ob er ein Glas abtrocknete. Ricky konnte sich das Grinsen kaum verkneifen. War ja schon irgendwie niedlich, wie der Typ versuchte Alexanders Anweisung zu erfüllen, ohne dabei wirklich den Mund aufzumachen.
Vorsichtig wanderte Rickys Blick über das Gesicht von dem jungen Mann. Den hatte er schon mehrmals hier gesehen – nicht nur als Aushilfe. Dummerweise konnte er sich nicht mehr an den Namen erinnern, den Alex vorhin genannt hatte.
„Sag mal“, setzte Ricky entsprechend zögerlich an. „Du stehst hier auf beiden Seiten des Tresens, oder?“ Der junge Mann zögerte, nickte aber kurz darauf. „Hast du eine Beziehung?“
Wieder ein Zögern. Diesmal zuckte der Kerl mit den Schultern. „Ich bilde es mir zumindest ein“, gab er schließlich zu.
„Hm“, brummte Ricky und schwieg.
Weitere Gäste kamen und entzogen ihm für einige Augenblicke den Gesprächspartner. Der kehrte allerdings danach erneut zu ihm zurück – diesmal ohne Glas als Vorwand. Stattdessen wischte er mit einem Tuch über den eigentlich sauberen Tresen und murrte: „Mach mich bloß nicht an. Alex hat da seine Regeln.“
Ricky lachte und trank von seinem Bier. Grinsend antwortete er schließlich: „Ich weiß, ich hab ihm gesagt, dass er sie aufstellen soll. Außerdem steh ich nicht auf Kinder.“
Der Kiefer der Aushilfe verspannte sich, aber er schaffte es offenbar trotzdem, sich zum Lächeln zu zwingen. Bei dem hatte Alex in der Tat hervorragende Arbeit geleistet. Vielleicht ...
„Sag mal“, fuhr Ricky zögerlich fort. „Wissen deine Eltern, dass du schwul bist?“
Diesmal lächelte der junge Mann und nickte schließlich. „Ja. Schon eine Weile inzwischen.“
Das Glas zwischen Rickys Fingern fühlte sich kühl an, obwohl er es vermutlich bereits viel zu lange dort drehte. „Hattest du Angst, es ihnen zu sagen?“
Diesmal zögerte die Aushilfe, schließlich lehnte er sich auf die Unterarme gestützt nach vorn, sodass er näher bei Ricky war und ihn nicht jeder hören konnte. „Ich hatte eine Scheißangst. Aber wenn du das jemals jemandem erzählst, gibt’s Ärger.“
Grinsend nickte Ricky, bevor er weiterfragte: „Warum hast du’s trotzdem gemacht?“
Der junge Mann zuckte mit den Schultern. „Es ... fühlte sich wie der richtige Moment an. Vielleicht ... wollte ich auch nur einfach von meiner Mutter hören, dass es okay ist und sie mich trotzdem immer lieben wird.“
Da war wieder dieses Ziehen in Rickys Eingeweiden, das auch der nächste Schluck vom Alkohol nicht wirklich betäuben konnte. Ein leises, schnaubendes Lachen vor ihm, ließ Rickys Blick erneut nach oben wandern.
„Ich hab mir jahrelang einen Kopf drum gemacht, wie sie reagieren würde. Und am Ende ... Na ja, sie wusste es offenbar länger als ich.“
„Wie meinst du das?“
Der Kerl grinste. „Na ja, sie hatte wohl schon eine Weile einen Verdacht, es aber nie angesprochen. Und als ich es ihr sagte, war es für uns beide eher eine Erleichterung.“
„Hm.“
„Kundschaft, Erik!“, fuhr mit einem Mal Alexanders lachende Stimme dazwischen. „Da hinten ist dein persönlicher Einsatz gefragt.“
„Oh!“
Hastig verzog sich die Aushilfe in Richtung von einem jungen Mann, der am anderen Ende der Bar saß. Die beiden wirkten vertraut, aber auch zurückhaltend. Nun ja, Alexanders Regeln bezüglich seiner Aushilfen waren klar. Selbst wenn die in einer Beziehung waren, hatten sie die aus dem Job weitestgehend rauszuhalten. Aber sobald der Kerl vor der Bar gerade nicht hinsah, war es unübersehbar, wie die junge Aushilfe diesen ansah. Vermutlich sah Ricky ähnlich aus, wenn er mit André zusammen war.
„Geht’s besser?“, fragte Alexander leise und riss Ricky damit aus den Gedanken.
Einen Moment lang starrte er seinen alten Freund an, dann lächelte er. „Hast du den Kleinen extra hergeschickt?“
Alex zuckte mit den Schultern. „Er übt noch.“ Lachend schüttelte Ricky den Kopf, fand aber zur Abwechslung keine passende Erwiderung. „Was auch immer er dir gesagt hat, es ist wahr.“
„Wirklich?“, murmelte Ricky versonnen. Irgendwie konnte er sich nicht vorstellen, dass es bei seiner Mutter genauso laufen würde. Die ahnte bestimmt nichts. Warum sonst sollte sie dermaßen verbissen stetig wieder nach ihren Enkeln fragen?
„Ganz sicher. Der Junge ist ein hundsmiserabler Lügner.“
Ricky atmete tief durch und nickte. „Was schulde ich dir?“
Als Alex ihn grinsend ansah, lief ihm jedoch ein kalter Schauer den Rücken hinunter. „Ein Update, sobald du die Sache mit deiner Mutter endlich geklärt hast.“
Lächelnd nickte Ricky. Alex hatte recht. Genau wie Annabell. Es wurde Zeit, dass er endlich ehrlich war. Schließlich ging es hier um seine Familie. Irgendwie würde es sich garantiert klären. Und womöglich hatte der Jungspund da am anderen Ende der Bar sogar recht und er machte sich genauso vollkommen unnötig Sorgen.
„Und, Richard?“ Er blickte auf und stand jetzt doch wieder einem ausgesprochen ernsten Alexander gegenüber. „Du hast mehr als nur die eine Familie. Vergiss das nicht.“
Das warme Gefühl, das sich in Ricky in diesem Moment ausbreitete, war ganz sicher nicht dem Alkohol geschuldet. Er nickte und zog einen Zehner aus der Hosentasche. Alex hob die Hand, um abzulehnen, aber Ricky grinse ihn nur frech an.
„Trinkgeld, für deinen Junior da hinten.“
↬ ✂ ↫
Später am Abend lag Ricky noch immer wach im Bett. Normalerweise schlief er nach einigen Drinks bei Alex ausgesprochen gut, aber die Gespräche des Tages schienen im weiterhin den Schlaf rauben zu wollen. Dabei waren sie überraschend gut verlaufen. Zwar war da diese unbestimmte Angst, wie seine Mutter reagieren würde, aber sie schien nicht mehr so überwältigend wie nach Helenas Vortrag.
Gedankenverloren fuhr er sich über die nackte Brust. Nur zu gern würde er dort Andrés Finger spüren, aber auf den musste er mindestens bis zum nächsten Abend verzichten. Die eigenen Fingernägel schafften es natürlich nicht, dieses Kribbeln in ihm wachzurufen. Trotzdem schloss Ricky die Augen und versuchte, sich vorzustellen, dass André neben ihm lag.
So sehr er sich bemühte, es wollte ihm jedoch nicht gelingen. Dabei schien er, was seine Projekte anging, nur so vor Fantasie überzusprudeln. Bei dem Gedanken, dass ihm irgendwann womöglich tatsächlich nicht mehr als eine bloße Erinnerung, eine immer wieder an der Realität scheiternde Fantasy von André bleiben könnte, zog sich Ricky der Magen zusammen.
Er hatte etwas Ernsthaftes gesucht. Jemanden, bei dem er sich wirklich vorstellen konnte, sein Leben mit ihm zu teilen. Und auch wenn die Phrase ‚für immer‘ in diesem Stadium ihrer Beziehung unangemessen schien ... letztendlich war es das, was er wollte. Zumindest verlangte es in Ricky danach, alles dafür zu geben.
„Sie wird lernen müssen, damit zurechtzukommen“, murmelte er leise die Worte, die Annabell ihm am Vormittag gesagt hatte.
Ricky lächelte und drehte sich auf die Seite. André war vielleicht nicht physisch hier, aber in sein Herz hatte der verrückte Kerl sich längst vorgearbeitet. Alex hatte recht. Er hätte schon vor vielen Jahren mit seiner Familie reinen Tisch machen sollen. Aber erst jetzt, für André, hatte Ricky das Gefühl, als könnte er dafür endlich den Mut aufbringen.