Humpelnd traten meine schweren Beine auf die Treppenstufen und mühten sich ab, die nächste zu nehmen. In mir schwirrten immer noch Gedanken und kreisten um alles, was der morgen bereits gebracht hatte.
Ich hob meinen Arm, schloss die Eingangstür auf und stütze mich auf die Klinke. Endlich zu Hause. Mit dem Rad wären es keine zwei Minuten mehr gewesen, doch das lag nun zerbeult und unbrauchbar in Stücke zerrissen unter einem ebenso kaputten Fahrzeug. Schnell schüttelte ich den Kopf, sodass die blonden Locken aus dem Zopf fielen. Wenn sie nicht so oder so voller Schweiß an der Stirn klebten. Meine Hand wischte über das Gesicht, erfasste kleine Dreckbröckelchen und Schrammen, während meine Muskeln vor Anspannung und Entlastung zitterten.
„Ich hab´ einen fucking Toten gesehen!“, wiederholte ich immer wieder, während ich einfach das Bild diesen verdammten Arms im Kopf hatte. Weder mein kaputtes Fahrrad noch die Tatsache, dass ich einen Unfall überlebt hatte, gaben mir in irgendeiner Weise den Anker, den ich brauchte, um dem Schock zu entkommen.
Ich hatte den Polizisten kurz erklärt, was passiert war. Wenngleich es genügend Zeugen gegeben hatte, wollte ich einfach nur nach Hause. Also hatte ich die Frage verneint, dass ich Erste Hilfe benötigte und war sofort Richtung Wohnung aufgebrochen. Auf jeden Fall kann ich nun behaupten, dass ich weiß, wie lange sich ein fünf Minuten Marsch anfühlt.
Jedenfalls verdammt lange.
Voller Hoffnungen, Annika würde mich verstehen und zur Ruhe bringen, mühte ich mich weiter ab, den dritten Stock zu erreichen. Nach und nach griffen die wunden und zittrigen Finger nach dem kalten Geländer, während die Kälte in meine Glieder kroch. Unter Anstrengung vermied ich es mir, hier und jetzt zusammen zu brechen, während ich das Gefühl hatte, dass alles, was ich anfassen würde, aus dem Ruder laufen würde.
„Ein verdammtes Stockwerk noch!“
Gerade zog ich mich die letzten Stufen hoch und wollte schon den Namen meiner Liebsten rufen, bis ich stockte. Neben mir öffnete sich die rechte Wohnungstür und ausgerechnet sie trat heraus. Ich konnte mich schon auf den Redeschwall vorbereiten, während die Greisin ihre Standpauke vorbereitete.
„Herr Joost! Sie sollten sich schämen! Wie sehen Sie denn aus?“ Die eisblauen Augen starrten zu mir herunter. Bestimmt dachte die Schreckschraube, ich würde erst jetzt völlig besoffen nach Hause kommen und mich ins Bett verkriechen, um meinen Kater auszuschlafen. Gut, man konnte das wohl meinen, wenn man mich betrachtete. Ich sah zu mir herunter und erkannte die Flecken auf der Jeans und die Schrammen auf den Armen. Meine langen Haare standen mir zu Berge, während meine Augen sich eingefallen waren. Der Gang und der Halt am Geländer unterstrichen ihre These. Ein wenig Recht könnte sie ja haben…
Ich wollte schon den Mund öffnen, um die Tatsachen klarzustellen, bis sie wieder anfing zu reden, dass alles früher ja besser gewesen sei. Leider war der Hausgang zu eng, als dass die übergewichtige alte Frau in ihrem hässlich geblümten Kleid mir Platz machen würde. Ich ertrug mit viel zu kurzer Geduld ihren Redeschwall, während meine Kräfte mich nach und nach verließen und ich mich dringend setzen musste. Würde ich diesem Drang allerdings hier nachgeben, würde mich meine Nachbarin Gertrude Mayr-Wiesenbach bis zum Ende der nächsten Woche nicht in Ruhe lassen.
„...und ihre Freundin Frau Gribl ist dann auch so unhöflich an mir vorbei...“
Ich zuckte zusammen.
„Ist Annika etwa nicht hier?“
Die Greisin verzog missmutig ihren vollen Falten zerfurchtes Gesicht, dennoch gab sie mir mit einem kurzen Nicken zu verstehen und zeigte auf die Treppen. „Vor zehn Minuten völlig panisch und verheult hier runter. Genauso unhöflich wie Sie, Herr Joost! Weder ein Hallo noch….“ Ich unterbrach sie.
„Verheult?“
Himmel, dachte sie etwa, ich würde im Krankenhaus liegen, als sie die Nachricht bekommen hat? Doch mein Instinkt riet mir, nicht in Panik zu geraten. Immerhin waren es keine Fünfzehn Minuten her, dass das Auto in den Laden gekracht war. Waren die heutigen Medien etwa so schnell?
Irgendwas wollte Frau Mayr-Wiesenbach noch andeuten, doch ich zog an ihrer Schulter, drängte mich mit einem kurzen >Sorry< an ihr vorbei und machte, dass ich in die Wohnung kam.
„Annika?“ Der Ruf hallte durch die neu verputzte Wohnung.
Kein Laut drang von den drei Zimmern, die immer noch leer und voller Kisten darauf warteten, eingeräumt zu werden. Nur das Bett mit einem Tisch und die Küche hatten wie in der Woche geschafft. Wir wollten heute eigentlich weiter auspacken, doch wo war sie nur? Geistesabwesend legte ich die Packung auf den Tisch, sah mich um und lauschte auf jedes Geräusch. Im Flur hörte ich noch die Nachbarin, dann ein Zuschlagen der Tür. Stille.
„Anni?“
Schließlich hielt ich es nicht mehr aus, ließ mich auf die Bettkante fallen und wählte ihre Nummer. Das Tuten des Hörers erleichterte mich.
Wenigstens hatte sie ihr Handy mit.
Ich ließ mich, so dreckig wie ich war, nach hinten fallen und schlug mir dem Kopf auf etwas auf. Fluchend fuchtelte ich in Liegeposition mit dem freien Arm nach dem Papier und knüllte es zusammen. Wut herauszulassen tat gut, doch vielmehr würde ich mich freuen, Annika in den Händen zu halten.
Nun mach schon! Sie war nicht die Zuverlässigste, was das Telefonieren anging, da sie nur ein altes Tastenhandy besaß. Doch meine Minimalistin hatte sich an die Tatsache gewöhnt, ein Telefon dabeizuhaben. Wohl wieder in der Handytasche.
Meine Linke knetete das Stückchen Papier, bis ich mich irgendwann fragte, wer bitte ein Papier auf dem Bett liegen hatte. Der Lautsprecher tutete vor sich hin, während mich umdrehte, das A5-große Blatt auseinanderfaltete und die wenigen Zeilen las.
Wenn ich gedacht hätte, dass der Schock eines Autounfalles und das Bild eines Toten mir vorher tief saß, so spürte ich jetzt einen Stich im Herzen, der es fast gewaltsam entzweiriss. Alle Gefühle wichen aus mir, die Leere nahm Platz und füllte mich aus. Der Tag fühlte sich an wie der Gipfel eines Eisberges, dessen eigentlich Größe unter den Tiefen des eiskalten Meeres verborgen war. Und so zitterte ich nun. Mein Verstand war Watte und nicht einmal ein Wort entrang sich mir, während Annika endlich abnahm.
„Hallo?“, fragte sie. Sie wusste, wer dran war. Und dennoch leugnete sie es.